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Die Tür verschlossen – und geöffnet

Ich habe einmal von einem Gefangenen gelesen, der mit schweren Ketten gefesselt in seiner Zelle lang hingestreckt auf dem Boden lag. Die finstere Nacht drang durch die Fensterluke herein, drang in alle seine Gedanken.

Dann funkelte ein Stern durch die dunkle Luke herein – ein helleuchtender Stern mit langen, zitternden Lichtstreifen.

Die freundliche Helle dieses Sterns war wie ein Freundesgruß, wie eine schmerzstillende Berührung. Und Nacht um Nacht spähte der Gefangene nach dem leuchtenden Besuch aus. – –

So stand sie, die die Gefangenen Mathilda nannten, vor den Gedanken der Gefangenen. Und ein ganzes Menschenalter hindurch machte sie diese Sternenbahn durch Finnlands Gefängnisse.

Dann wurden ihr die Tore verschlossen.

Der »Freund der Gefangenen« von den Gefangenen ausgeschlossen! Das klingt unnatürlich und schwerbegreiflich. Die Fensterluke verdunkelt, so daß der Stern nicht mehr hindurchscheinen kann!

Der Schlag fiel verhältnismäßig plötzlich, aber er war doch weder unerwartet, noch traf er unvorbereitet ein.

Gleich zuerst, als Mathilda ihre Arbeit unter den Gefangenen aufnahm, hatte sie mit allerlei Widerwärtigkeiten zu kämpfen und Schwierigkeiten zu überwinden. Beständig waren widerstrebende Kräfte in Bewegung, um ihre Tätigkeit zu hindern und zu hemmen, oder sie ein für allemal zum Stillstand zu bringen.

Die Sache war ja die, daß Mathilda in den Gefängnissen allerlei Zustände gesehen hatte, die nicht recht ordnungsgemäß waren, und sie hatte nicht immer dazu geschwiegen.

Da sie überall Zugang hatte, entdeckte sie oft mehr, als wünschenswert war, und sie tadelte dem Direktor, dem Geistlichen oder dem Arzt oder der Verwaltung des Gefängniswesens gegenüber dies und jenes. Einiges wurde geändert – anderes blieb, wie es war. Mathilda aber konnte sich nicht mit dem billigen Ausspruch, daß es nun eben so sein müsse, beruhigen.

In Kakola zu Abo, wo sie am meisten arbeitete, war sie hauptsächlich über die Zustände in der Krankenabteilung empört. In ihrer Verzweiflung darüber vertraute sie sich Doktor Gustav Mattson an, der dann im »Argus« einen Artikel hierüber veröffentlichte. Das Ergebnis war eine Veränderung zum Besseren – aber die Sache hatte doch böses Blut gemacht.

Zuerst wurde ihr ein eigenes kleines Zimmer, das in der Direktorwohnung zu ihrer Verfügung stand, wenn sie sich in Abo aufhielt, genommen, und in den Jahren 1912-13 spitzte sich die Lage in vielen Beziehungen scharf zu. Schließlich brachte man die Gefängnisdirektion dahin, einen Erlaß bekannt zu geben, demnach die Baronin Wrede nur noch in Gegenwart Dritter mit den Gefangenen Gespräche führen dürfe – aber sich darein zu finden, war Mathilda nicht willig, ebensowenig wie einst in Tavastehus.

»Was ich zu meinen Gefangenen sage«, äußerte sie, »könnte ohne Scheu auf den Märkten ausgerufen und dem Urteil der ganzen Welt unterworfen werden. Aber niemals sollen unglückliche Menschen gezwungen werden, in Gegenwart eines Dritten ihre Herzen aufzudecken und ihre Sorgen ausströmen zu lasten.«

Damit war sie ausgeschlossen – und sie begriff auch wohl, daß das beabsichtigt gewesen war.

Nicht allein Mathildas Freunde inner- und außerhalb der Gefängnisse, sondern auch annähernd die ganze finnische Presse stellte sich auf Mathildas Seite und gegen die Gefängnisdirektion. Auch die schwedischen Zeitungen zeigten sich empört über diese Verfügung und sprachen ihre große Anerkennung und Bewunderung für Mathildas Wirksamkeit offen aus.

Unter den Verwandten der Gefangenen und unter den losgelassenen Verbrechern übte Mathilda ihr aufopferndes Werk weiter, und sie konnte sich nun auch ausschließlich diesen widmen; aber der Knall, mit dem jenes Tor zugeschlagen worden war, hatte doch ihr Herz getroffen.

Zu dem Schmerz und der natürlichen Erbitterung über das Verbot kamen für Mathilda auch noch andere Sorgen und Kümmernisse. Im Sommer 1914 verlor sie ihre geliebte Schwester Helene, die ihr ganzes Leben lang Mutterstelle an ihr vertreten hatte.

Und kurz nachher begann jene blutigste Feindschaft zwischen Ländern und Reichen und setzte die Welt in Brand.

Für Mathilda, deren ganzes Streben daraus ausgegangen war, Frieden zwischen Menschen zu stiften, wurde der Weltkrieg zu einem säst unerträglichen Leiden. Von ihrem Fenster in Helsingfors aus sah sie täglich Scharen von jungen Männern vorüberziehen, die für den Kriegsschauplatz bestimmt waren. Immer neue – immer demselben schrecklichen Ziel entgegen! Kräftige, aufrechte, hoffnungsvolle Menschen – wie viele von ihnen würden wohl zurückkehren? Und wie würden sie wiederkommen? Sie waren ja zu einer schrecklicheren Strafe verdammt als ihre Gefangenen, verdammt, unerhörte Qualen auszustehen, verdammt, zu töten und selbst getötet zu werden! …

Ihr war, als müsse sie sie anhalten, müsse die unnatürlichen Greuel verhindern … Jede Nacht verbrachte sie schlaflos – dachte an Mütter und Gattinnen aus ruhelosem Lager und an Kinder, die schliefen, ohne zu ahnen, um was es sich auch für sie handelte – dachte auch an Verwundete und Sterbende mit den fahlen, verzerrten Gesichtern dort aus dem Walplatz, über dem die ewigen Sterne schimmerten …

In ihrem Gebet trug sie alle, alle hinauf – zu ihm, dessen Liebe sie bei all dem Furchtbaren, was sich vollzog, vielleicht nur schwer fassen konnten.

Ach, und die Pferde! … Wie leid taten sie ihr doch! Da standen sie geduldig und ohne jegliche Schuld – und gingen so vielen Leiden entgegen! Mathilda hätte ihnen gerne alles zuliebe getan, was sie nur konnte.

Vor dem Reithaus in der Kasernenstraße waren oft Pferde aufgestellt, die für die Front bestimmt waren. Dorthin ging Mathilda täglich und redete mit ihnen: »Sie verstehen ja nicht russisch«, sagte sie, »und das ist recht schwierig für sie. Mein Finnisch verstehen sie sofort, und sobald ich rufe: ›Guten Tag, ihr armen, armen Pferde!‹ drehen sie alle die Köpfe nach mir um.«

Alle diese Gemütsbewegungen griffen Mathilda Wredes Gesundheit an. Während der nächsten Jahre hatte sie eine Krankheit nach der andern durchzumachen, und eine Zeitlang schwebte sie zwischen Leben und Tod.

Ach, während die Welt ringsumher immer mehr in Blut getaucht wurde und große Umwälzungen heranrückten, da erfuhr sie, welch langsamen Schritt schwere Zeiten haben!

+

Nach Neujahr 1917 brach der russische Militäraufstand los – mit dem furchtbaren Hinmorden der Offiziere.

An einem Wintermorgen stürmten Scharen russischer Soldaten den Kakolahügel heraus, drangen in das Gefängnis, entwaffneten die Gefängniswärter, befreiten ihre Landsleute, nahmen mit Hilfe der politischen Gefangenen allen andern Gefangenen die Eisen ab und versprachen auch den übrigen baldige Freiheit.

Die Tore standen offen, und viele fühlten sich versucht, jetzt schon zu entfliehen. Aber da ergriffen die besonnensten unter den politischen Gefangenen die Zügel und sagten zu den andern: »Hört, Kameraden, wenn wir auf und davon gehen, werden wir alle wieder aufgegriffen und aufs neue eingesperrt. Wenn wir aber warten, bis die Amnestie richtig in Kraft tritt, dann werden wir rechtmäßig frei.«

Und es gelang diesen Gefangenen, die andern zu beschwichtigen. Sie sagten zu dem Direktor: »Für die Ordnung hier in Kakola stehen wir ein, wenn Sie uns volle Handlungsfreiheit gewähren. Wir gehen jetzt hinunter in die Stadt, um mit dem Arbeiter- und Soldatenrat zu verhandeln, wir kommen aber nachher wieder zurück.«

Der erschrockene Direktor erlaubte ihnen natürlich alles, was sie verlangten; wünschte aber später am Tage selbst mit den Gefangenen zu reden, die er deshalb in der Kirche versammelte. Hier ermahnte er sie aufs eindringlichste, sich ruhig zu verhalten und die Amnestie abzuwarten.

In Kakola herrschte dann auch während der Revolution in Abo eine wahrhaft mustergültige Ordnung.

Aber die Begnadigung ließ auf sich warten.

Da wurde aus dem Gefängnis Botschaft an Mathilda Wrede in Helsingfors geschickt mit der Bitte, zu tun, was in ihren Kräften stehe, um die Amnestie zu beschleunigen.

Einige der freigelassenen politischen Gefangenen kamen überdies selbst zu ihr und baten sie inständig, doch ihre Wirksamkeit im Gefängnis wieder aufzunehmen, und von siebenhundertfünfundzwanzig Gefangenen in Abo bekam sie eine Adresse mit eigenhändigen Unterschriften, worin unter anderem stand: »Kommen Sie rasch! Innig sehnen sich nach Ihnen und warten aus Sie die Unterzeichneten in Kakola.«

Der Gefängnisdirektor war durch einen andern ersetzt worden, der nun dem Ersuchen der Gefangenen noch eine persönliche, dringende Bitte beifügte.

Mathilda konnte dem Flehen ihrer Freunde kein Nein entgegensetzen. Sie schickte ein Schreiben an den Oberinspektor der Gefängnisse, in dem sie ihn bat, seinen Direktoren mitzuteilen, daß die Besuche der Baronin Wrede jetzt wieder ganz wie früher aufgenommen werden dürften. Und dann begab sie sich nach Abo.

Im Gefängnishof zu Kakola standen in Reih und Glied dreihundert Gefangene, die sie mit Gesang empfingen.

»Ich danke euch, meine Freunde, für den herzlichen Empfang«, sagte sie, als der Gesang verstummte, »und ich danke euch auch für euer Schreiben, das mich tief gerührt hat. Wohl kaum ist jemand den steilen Kakolaer Hügel, diesen schweren Schmerzensweg, mit so fröhlichem, dankbarem Herzen emporgestiegen wie ich heute. Solange meine Kräfte ausreichen, will ich von jetzt an wieder wie früher nur für euch leben.«

Sie mußte innehalten, überwältigt von Gemütsbewegung und Anstrengung. Da sprang ein Gefangener mit einem Stuhl, über den ein reines Handtuch gebreitet war, herbei und bat sie, sich auszuruhen, während ein anderer ihr einen Strauß roter auf Kakola gewachsener Rosen überreichte.

Nachdem noch zwei Lieder gesungen waren, wurde der Stuhl, auf dem Mathilda Wrede saß, auf starke Arme gehoben, und unter dröhnendem »Eläköön« und Hurrarufen wurde der »Freund der Gefangenen« im Triumph im ganzen Gefängnis herumgetragen.

Am nächsten Tage besuchte sie die Zellengefängnisse. Unter den Gefangenen war damals einer, der fünf Jahre das große Leibeisen getragen hatte, weil er für einen der gefährlichsten Verbrecher gehalten wurde, nun aber bei der Revolution von den Fesseln befreit worden war. Dieser Mann ergriff Mathildas Hände und brach in die Worte aus: »Jetzt hat Gott die Rache ohne Punkkas Hilfe übernommen!« Darauf vertraute er Mathilda an, daß er die ganze Zeit über, seit ihr verboten worden, Kakola zu besuchen, Rache dafür gebrütet habe.

Sie erwiderte fröhlich: »Daran wollen wir nun gar nicht mehr denken. Ich bin ja dankbar, daß ich wieder hier sein darf, und wir wollen uns diese Freude nicht durch das Vergangene stören lassen.«

An diesem Tage wurde Mathilda von ihren Kakolaer Freunden ein goldenes Medaillon und ein schöner silberner Becher überreicht. Der Wortführer sagte: »Ein Zeichen der Dankbarkeit von den Gefangenen für die, welche den Becher der Leiden geleert hatte – und in ihrem Liebeswerk von den großen Herren gehemmt worden war.«

Mathilda konnte den Gedanken nicht ertragen, wieviel ihre unbemittelten Freunde an sauer erworbenen Sparpfennigen für diese Gaben geopfert hatten. Und mit ihrem wärmsten Danke schickte sie jedem der Gefangenen in Kakola fünf Mark. Aber das war eine sehr erkleckliche Summe – und die Ebbe in ihrer Kasse bedeutete für sie viel persönliche Entsagung.

Auch vom Sörnäser Gefängnis kamen Grüße an den »Freund der Gefangenen«, zugleich mit der Nachricht, daß sie dort an einem bestimmten Tag von allen erwartet werde. »Wirke, solange es Tag ist«, war das Lied, mit dem sie empfangen wurde. Auch hier war die Wiedersehensfreude groß, und es herrschte eine begeisterte Stimmung. Und kurz nachher erhielt sie ein mit einer Inschrift versehenes silbernes Kaffeeservice.

 

Als die Amnestie endlich verkündigt und die Gefangenen freigegeben wurden, strömten sie scharenweise nach Mathilda Wredes Wohnung und belagerten sie vom Morgen bis zum Abend.

Eines Tages waren drei von ihnen bei ihr und tranken Kaffee. »Freiheit ist etwas Herrliches«, sagte einer von ihnen und kaute dabei an einem großen Weißbrot. »Aber Mathilda Wrede ist doch das allerbeste auf der Welt.«

Alle diese frei gewordenen Gefangenen hatten indes Geld zu Kleidern und Handwerkszeug bitter nötig, und das war eine große Schwierigkeit für Mathilda, denn die Hilfe, die sie ihnen gerne hätte angedeihen lassen, überstieg weit ihre Mittel.

Auch an diesem Tage hatten die drei Kaffeegäste gar vieles durchaus nötig. »Liebe Freunde«, sagte Mathilda nach beendeter Mahlzeit zu ihnen, »ich bin müde und augenblicklich auch recht hinfällig, es ist mir daher nicht möglich, mit euch auf die Bank zu gehen und Geld zu erheben, um euch zu helfen. Aber hier ist mein Bankbuch. Nehmt es mit und erhebet selbst, was ihr braucht. Aber nur das allernotwendigste, nicht wahr, denn ihr dürft nicht vergessen, daß es noch für viele reichen soll.«

Sehr beglückt und stolz auf das Vertrauen, das in sie gesetzt wurde, marschierten die Gefangenen mit dem Bankbuch ab.

Aber die Tage vergingen – einer, zwei, drei. – Wo blieben nur die Gefangenen? Was sollte das heißen, daß Mathilda ihr Buch nicht zurückerhielt? Hatten sie am Ende doch ihr Vertrauen mißbraucht und es behalten?

Nein – am vierten Tag kamen sie daher. »Ja, sehen Sie«, lautete die Erklärung, »wir haben bis jetzt noch nie ein Bankbuch in der Hand gehabt und konnten uns auch gar nicht denken, daß uns jemand eines je anvertrauen würde. Deshalb wollten wir es ja alle gerne haben. Dann wurde beschlossen, jeder von uns dürfe es einmal über Nacht behalten – und deshalb hat es so lange gedauert, bis Sie das Buch zurückerhalten.«

Alle drei hatten sich ängstlich gehütet, zu viel Geld zu erheben – und so hatten sie wirklich nur das allernotwendigste genommen. – –

Ein anderer der Freigewordenen kam eines Abends in einer »sehr wichtigen Angelegenheit« zu Mathilda. Auch ihm sollte der Weg geebnet werden, aber es war ein recht eigener Weg, den er gehen wollte.

Er sah höchst selbstbewußt und übermütig aus, pflanzte sich vor Mathilda Wrede auf und sagte: »Sie müssen wissen, ich bin ein Dichter. Und jetzt möchte ich gerne meine Gedichte herausgeben.«

Damit zog er einen Pack beschriebener Blätter heraus und begann vorzulesen. »Erwach, erwach, du finnisches Proletariat!« so lautete der Auftakt des ersten Gedichtes, das von Blut handelte, das fließen sollte, und von Gericht und Tod, die die Unterdrücker und Bürger treffen sollten.

»Lesen Sie noch eins!« bat Mathilda.

Es folgte ein noch längeres, ebenso blutrünstiges Opus, reimfrei und sehr willkürlich in der Form, das mit dem Ausruf schloß: »Nieder mit den Mohammedanern in Finnlands hohen Ämtern!«

»Haben wir eigentlich viele mohammedanische Beamte?« fragte Mathilda.

»Jawohl«, antwortete er, »denn die Juden sind ja dasselbe wie die Mohammedaner. Es ist nur eine andere Benennung, nicht wahr?«

»Nun, es ist da doch ein kleiner Unterschied«, antwortete Mathilda. »Aber was würde die Herausgabe des Buches kosten?«

»Ungefähr tausend Mark – denn es soll ja in vielen, vielen Exemplaren gedruckt werden. Und ich möchte so gerne, daß Sie mir zu diesem Gelde verhelfen, Fräulein Wrede.«

»Und Sie wagen es, mit diesem Anliegen zu mir zu kommen?« versetzte sie, indem sie sich zu ihrer vollen Höhe ausrichtete. »Können Sie wirklich meinen, ich solle Ihnen dazu verhelfen? Haben Sie mich während meiner mehr als zwölfjährigen Gefängnisbesuche bei Ihnen so kennengelernt? Ja, ich liebe meine Gefangenen – ja, ich leide mit allen Unterdrückten; aber das Streben meines ganzen Lebens war, Friede zwischen den Menschen zu schaffen. Und ich sollte nun eine Arbeit unterstützen, die bloß darauf ausgeht, Unfrieden zu säen und die Menschen zum Blutvergießen gegeneinander aufzuhetzen?«

Der Mann nahm seine Papiere zusammen und ging. Er sah eher verlegen als ärgerlich aus. Und niemals wieder versuchte er es, seine Gedichte drucken zu lassen. – –

Außer den vielen Besuchen bekam Mathilda Wrede auch massenhaft Briefe von solchen, die sie nicht persönlich erreichen konnten.

Ein Gefangener, der vierzehn Jahre lang in Kakola gesessen hatte und dann von ihr mit einer Summe bedacht worden war, schrieb: »Noch nie ist Geld willkommener gewesen, aber Sie dürfen mich nicht mißverstehen, wenn ich sage, daß ich dieses Geld nur als Anleihe annehmen kann, anders ist es mir unmöglich. Es gibt so viele Alte und Kranke unter den früheren Gefangenen, die eine Unterstützung noch viel nötiger haben als ich – der ich gesund und stark und voll Arbeitslust bin. Ich habe gestern eine Anzeige in eine unserer Zeitungen gesetzt: ›Wenn mir jemand das Handwerkszeug und einen Arbeitsanzug geben will, dann gebe ich ihm meine Arbeit dafür,‹ Bis jetzt hab' ich noch keine Antwort, aber ich hoffe, sie kommt noch.« – –

Ein anderer, der sich nur mit »Anarchist« unterschrieben hatte, schickte Mathilda einen Brief, worin es unter anderem hieß: »Ich habe nicht in Kakola gesessen – merkwürdigerweise nicht, denn meiner ganzen Natur nach bin ich darauf angelegt, dahin zu kommen – aber meine Liebe zu Ihnen ist deshalb ebenso aufrichtig. Sie kennen Ihre Freunde in den Gefängnissen – betrachten Sie mich als einen von ihnen. –

Eine meiner Lebensregeln ist: Sei hochmütig den Hohen und demütig den Niederen gegenüber; aber man kann auch so tief sinken, daß man sich niedriger als alle anderen fühlt, und dann wird man allen gegenüber hochmütig, weil sie alle über einem stehen. –

Ich bin bereit, dem Kaiser zu geben, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist – und dem Narren, was er sich wünscht; aber wenn ich sehe, wie die letzteren im Namen der Wohltätigkeit die Armen aussaugen, dann möchte ich aus der Haut fahren. – Ich kenne fast alle sogenannten vornehmen Leute in Finnland, und die meisten von ihnen sind lauter Pack. Aber ich kenne nur einen vornehmen Menschen, der nicht zum Pack gehört, und ich brauche nicht zu sagen, wen ich meine. Aber wenn es nötig sein sollte, will ich mein Leben für Sie hingeben.«

+

Eines Abends wurde Mathilda von ein paar andern Anarchisten ausgesucht, die sie etwas näher mit ihrer Lehre bekannt machen wollten, weil sie sie gerne dafür gewonnen hätten.

Mathilda ließ sie ausreden, dann sagte sie: »Dreht nun eure Stühle um, damit ihr das Bild über meinem Schreibtisch sehen könnt – das ist eigentlich meine ganze Antwort.«

Das Bild stellte Christus dar, wie er allein in der Nacht vom Ölberg über Jerusalem hinschaut.

»Anarchisten«, fuhr Mathilda fort, »hier seht ihr den Herrn, dem ich Nachfolge. Fällt nun seine Lehre etwa mit der eurigen zusammen? Er war Sozialist – ja! Aber sein ganzes Leben war immer nur ein GebenGeben. – ›Geben ist seliger als nehmen‹, hat er selbst gesagt. Ihr dagegen? Aus euren Worten geht hervor, daß der Grundgedanke bei euch das Nehmen ist. Hier ist also ein grundverschiedener Gegensatz. Ich kann nicht zu euch übergehen, weil der Standpunkt meines Herrn himmelhoch über eurem steht und um so viel bester und schöner ist – aber ich warte daraus, daß ihr aus meine Seite herüberkommt.«

Da schwiegen die Anarchisten und gingen. Einer jedoch drehte sich unter der Tür um und sagte: »Ich komme morgen noch einmal, aber dann komm ich allein.« – –

Zum Schluß soll hier noch ein komisch rührender Besuch von einem früheren Gefangenen bei Mathilda berichtet werden.

Mathilda hatte, wie schon früher bemerkt, ein silbernes Kaffeeservice von den Gefangenen in Sörnäs geschenkt bekommen. Sie war da eben im Begriff gewesen, aufs Land zu reisen, und hatte zu dem Überbringer gesagt, sie wisse kaum, wie sie den Gebern ihre Dankbarkeit ausdrücken könne; sie müsse das wohl aufschieben, bis sie wieder daheim sei.

Als sie dann ein paar Wochen später zurückgekehrt war, erschien sofort der oben genannte Mann mit einer Zeitung unter dem Arm bei ihr.

»Nun sollen Sie sehen, wie ich Ihnen doch einmal helfen konnte und Sie jetzt mit etwas Erfreulichem überrasche. Es war Ihnen so leid, daß Sie den Gefangenen nicht gleich danken konnten, deshalb ging ich an demselben Tag, wo Sie abreisten, auf das Zeitungsbureau und hab' eine große Anzeige in die Zeitung gesetzt. Sie kostete ganze drei Mark – aber die ist sie auch wert. Hören Sie nur: Darf ich hiemit den Gefangenen im Sörnäser Gefängnis meinen verbindlichsten Dank ausdrücken für die große Aufmerksamkeit, die sie mir durch die Übersendung einer silbernen Kaffeekanne, Zuckerdose und Rahmkanne erwiesen haben. Achtungsvoll Mathilda Wrede.«

Mathilda war außer sich, verzweifelt, aber auch gerührt. »Lieber Freund«, sagte sie, »das ist ja sehr gut von Ihnen gemeint, aber man darf trotzdem nicht so im Namen eines andern schreiben. Das kann sehr große Unannehmlichkeiten im Gefolge haben. Und wie, wenn ich es nun ganz anders hätte schreiben wollen?«

»Ach, dafür ist keine Gefahr vorhanden. So pflegt man doch dergleichen zu schreiben.«

»Dann lassen Sie mich wenigstens die Anzeige bezahlen.«

»Keinesfalls«, versetzte er und strahlte dabei vor Befriedigung, »denn sie ist ja ein Geschenk von mir für Sie.«

In der folgenden Nacht erwachte Mathilda an einem beklemmenden Gefühl. Irgend etwas Unangenehmes bedrückte sie – was war es nur? Ach ja, die schreckliche Anzeige war's!

Aber dann fiel ihr die strahlende Befriedigung des Mannes ein – sie wurde gerührt und mußte lachen. Das half ihr ein wenig über den Verdruß weg.

Sonst war es nicht »Zeit zum Lachen«.

Trotz aller Freude, die sie über das Wiedersehen mit ihren Freunden und über deren Freilassung empfand, war doch vieles da, was sie bedenklich und tief bekümmert machen mußte.

Nicht allein waren und blieben die Kriegsjahre »böse Zeit und eine Zeit der Tränen« – sondern gerade in Finnland war eine verhängnisvolle Gärung zu verspüren … Glimmende Kräfte rührten sich und konnten bald in hellen Flammen auflodern, um eine noch bösere Zeit – eine Zeit des Todes – herbeizuführen.


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