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Im Sommer 1890 war der große internationale Pönitentiär-Kongreß in Petersburg, wo die höchsten Vertreter des Gerichts- und Gefängniswesens aus den verschiedenen Reichen anwesend waren.
Mathilda Wrede reiste als Delegierte hin, die einzige weibliche Abgesandte der zweiten Sektion, zu der sie gehörte.
Der Kongreß wurde in dem großen prachtvollen Festsaal des Adligen Klubs vom Zaren selbst eröffnet. Kaiserin Maria Feodorowna, ihre Schwägerin, Königin Olga von Griechenland, Großfürst Wladimir, das Prinzenpaar von Oldenburg und viele andere fürstliche Personen waren ebenfalls anwesend. Außerdem die Minister, das ganze diplomatische Korps und eine Menge anderer Würdenträger, alle in prächtigen Uniformen, die mehr oder weniger von Gold starrten.
Mathilda fühlte, wie sehr sie in ihrem einfachen Gewande von dieser strahlenden Versammlung abstach.
Nach der Eröffnungsfeierlichkeit begaben sich die Teilnehmer in die große Gefängnisausstellung, die aus Anlaß dieses Kongresses gemacht worden war.
Mathilda war von dieser Ausstellung außerordentlich hingenommen und bewegt, insbesondere von der sibirischen Abteilung mit den Gruben und was mit ihnen zusammenhängt.
Während sie sich in dieser Ausstellung befand, weilten ihre Gedanken unaufhörlich bei ihren fernen Freunden, und fast greifbar nahe schienen sie in all ihrem tiefen Elend vor ihr aufzutauchen.
Am Abend war großes Fest. Mathilda lernte zu ihrer Freude mehrere von den hervorragendsten Gefängnisbeamten kennen, und ihnen stellte sie mit warmen Worten vor, wie notwendig es wäre, daß die Gefangenen mehr geistlich beeinflußt würden als bisher. Denn der sicherste Ausgangspunkt für einen besseren, rechtschaffeneren Lebenswandel sei doch immer die Bekehrung des Menschen zu Gott.
Am nächsten Morgen begannen die Arbeitstage für die Sektionen, an denen verschiedene wichtige Fragen verhandelt werden sollten. Mathilda war unter den allerersten, die sich in dem für die Versammlungen bestimmten Saal einfanden, und sie setzte sich da an einen langen, mit grünem Tuch überzogenen Tisch. Allmählich kamen auch die Herren, und alle miteinander betrachteten erstaunt und nachdenklich die einzelne junge Dame.
»Sie freuen sich nicht über mein Hiersein«, dachte Mathilda, »aber sie werden mich nicht los.«
Sie nahm dann eifrig teil an den Verhandlungen, und schon am ersten Tag wurde sie zu privater Diskussion mit drei oder vier der vornehmsten Kongreßteilnehmer berufen. Aber sie fühlte doch die ganze Zeit über, daß sie als Freund der Gefangenen und mit ihrer persönlichen Ansicht über diese ganz allein stand.
Ein paar Tage nachher hielt der Direktor des Gefängniswesens in Frankreich, Mr. H., für alle Sektionen einen Vortrag über das Thema: »Die Behandlung unverbesserlicher Sträflinge.«
Als Frankreichs Vertreter wurde er bei dem Kongreß mit besonderer Aufmerksamkeit behandelt. Der große Saal war gedrückt voll von einer sehr aufmerksamen Zuhörerschaft, die der Redner in seiner schönen Sprache mit glänzender Beredsamkeit in Atem hielt.
Er stellte fest, daß es leider unverbesserliche Verbrecher, unheilbare Kranke gebe, denen gegenüber jeder Gedanke an eine endgültige Rettung und moralische Heilung aufgegeben werden müsse, und daß dafür das Bestreben zu treten habe, solche Menschen unschädlich zu machen.
Als er schwieg, machte Mathilda dem Präsidenten ein Zeichen, daß sie das Wort ergreifen möchte. Sie mußte sprechen – unwiderstehlich überkam es sie. Was sie sagen sollte, wußte sie nicht, sie konnte auch ihre Gedanken auf französisch nicht so ordnen und zurechtlegen, wie es eigentlich hier verlangt wurde, aber das eine wußte sie, schweigen konnte sie nicht.
Alle die andern vertraten die Obrigkeiten der Gefängnisse, die bürgerliche Gesellschaft, sie ganz allein vertrat die Gefangenen. Aus Treue ihnen gegenüber, die sie zu ihren Freunden erkoren hatte, aus ihrer religiösen Überzeugung heraus mußte, mußte sie das Wort ergreifen.
Aller Augen in dem großen Saale waren aus sie gerichtet. Ihr Herz klopfte mit heftigen Schlägen, und es brauste ihr in den Ohren, als sie sich erhob und an das Rednerpult trat. Aber in demselben Augenblick, gerade wie damals, wo sie zum erstenmal zu den Gefangenen sprach, war plötzlich alle Erregung wie weggeblasen.
»Messieurs!« sagte sie klar und deutlich. » Il y a un moyen, par lequel chaque criminel peut-être transformé – même ceux qu'on appelle incorrigibles. C'est la force de Dieu. Les lois et les systèmes ne peuvent pas changer le coeur d'un seul criminel, mais Dieu le peut. Je suis persuadée qu'on devrait s'occuper bien plus et même avant tout des âmes des prisonniers et de leur vie spirituelle.«
(»Es gibt ein Mittel, durch welches jeder Verbrecher ein anderer Mensch werden kann – selbst solche, die unverbesserlich genannt werden. Dieses Mittel ist die Kraft Gottes. Gesetze und Vorschriften können das Herz keines einzigen Verbrechers ändern, aber Gott kann es. Ich bin überzeugt, daß man sich viel mehr als bisher und vor allem mit den Seelen der Gefangenen und mit ihrem geistigen Leben beschäftigen sollte.«)
Sie hielt inne. Die Kraft Gottes – nun war das Wort gesagt, auf das ihre Lebensarbeit gegründet war, das die Losung für diesen ganzen Kongreß hätte sein müssen. Das Wort von dem einzigen Einen, der das bewirken kann, was keine Gesetze, Systeme und Veranstaltungen hervorrufen können – nämlich das Wunder der Wandlung.
Der Saal widerhallte von Beifall – und das war ihr unangenehm. Es war die Huldigung für die junge Frau, die so mutig und tatkräftig gegen den überlegenen, erfahrenen Gegner aufgetreten war. Aber lag darin auch nur das geringste Zusammengehen mit ihren Anschauungen?
Nach Schluß der Versammlung zeigte es sich indes doch, daß sie von mehreren verstanden worden war. Aus deren Aussprüchen konnte Mathilda entnehmen, daß diese nicht nur ihren Mut schätzten, sondern ihr auch von Herzen recht gaben.
Noch mehr freute es sie vielleicht, daß ihr treuer Freund, Baron Paul Nicolay, als er am Abend von ihrer Rede hörte, nichts als »Gott sei Dank!« sagte.
Am nächsten Tage waren die Kongreßmitglieder zur Besichtigung des Schlosses Peterhof eingeladen.
Kaiserliche Dampfboote führten sie dahin, und als das Ziel erreicht war, erwarteten sie prächtige, mit herrlichen Pferden bespannte Equipagen. Mathilda bewunderte die prachtvollen Tiere, insbesondere ein weißes Viergespann, von dem ihr gesagt wurde, es seien die Krönungspferde der Kaiserin. Ordensmarschälle wiesen den Gästen ihre Plätze in den Wagen an, und Mathilda empfand eine wahrhaft kindliche Freude, als sie den Ehrenplatz in der Equipage mit den wunderschönen Schimmeln bekam.
Als die Gäste das Schloß mit allen seinen Kunstsammlungen besehen hatten, ging es zu einem Abendessen, das in der schönen, dicht am Meere gelegenen Villa »Monplaisir« gereicht wurde. Der Prinz von Oldenburg empfing die Gäste im Namen des Kaisers und führte den Vorsitz bei der Tafel. Nach Tisch unterhielt er sich mit einzelnen von den Gästen und insbesondere mit Mathilda Wrede.
Als sie von der Unterhaltung mit dem Prinzen zurücktrat, kam der Direktor des französischen Gefängniswesens, der am Abend vorher den Vortrag gehalten hatte, auf sie zu und sagte: »Mademoiselle, wir waren ja gestern von recht entgegengesetzten Ansichten. Immerhin hoffe ich, daß Sie so liebenswürdig sein werden, dies hier anzunehmen.«
Damit überreichte er ihr ein in weißes Leder gebundenes, mit Goldpressungen reich verziertes Buch. »Hier habe ich das Thema, über das ich gestern sprach, ausführlich behandelt. Ich habe nur eine beschränkte Anzahl Exemplare, eines davon hat Seine Majestät der Kaiser allergnädigst zu empfangen geruht – und nun hoffe ich, daß Sie mir dieselbe Freude machen werden.«
Mathilda erwiderte: »Monsieur, ich danke Ihnen für Ihre große Freundlichkeit. Aber wir haben so vollkommen entgegengesetzte Anschauungen, daß mir alle Voraussetzungen fehlen, Ihr Buch verstehen zu können. Und da Sie so wenige Exemplare haben, bitte ich Sie, das mir zugedachte jemand anderem zu geben, der es bester schätzen kann als ich.«
Ganz blaß vor Ärger und ohne ein Wort zu erwidern, verbeugte sich der Herr und entfernte sich; so endete dieses sein Zusammensein mit dem Abkömmling des Geschlechtes Wrede.
Ein paar Tage nachher trat abermals Mathildas anererbte Schroffheit und Unerschütterlichkeit in dem, was sie für recht hielt, klar zutage.
Die Kongreßmitglieder waren zur Tafel im Winterpalast befohlen. Auf der Einladungskarte stand: »Die Damen in großer Toilette.« Mathilda Wrede fand, daß derartige Feste weder für sie paßten, noch sich mit der Lebensführung, die sie für sich gewählt hatte, vereinigen ließen. Und da es überdies ein Sonntag war, wurde ihr nach kurzer Überlegung klar, daß sie nicht an dem Feste teilnehmen könne.
Sie ging also auf das Kongreßbureau mit ihrer Antwort: »Baronin Wrede ist nicht in der Lage, an dem großen Festmahl im Winterpalast teilzunehmen.«
Die Beamten auf dem Bureau waren außer sich und versuchten ihr begreiflich zu machen, daß eine Absage überhaupt nicht angängig sei, um so weniger, als ihr Platz schon bestimmt war, und zwar am kaiserlichen Tische selbst. Sie wiederholten: »Frau Baronin, Ihr Platz ist am Tische der Majestäten.«
Aber Mathilda war unbeugsam. Baronin Wrede war nicht in der Lage, bei der kaiserlichen Tafel anwesend zu sein.
Dagegen machte es ihr Freude, an dem Ausflug der Kongreßmitglieder nach einer landwirtschaftlichen Kolonie für jugendliche Verbrecher teilzunehmen. Auf dem Rückweg von diesem Ausflug mußte sie indes auf den dringenden Rat einiger Freunde rasch und unerwartet Petersburg verlassen.
Schon seit der Eröffnung des Kongresses hatte sie das unangenehme Gefühl gehabt, daß sie fortwährend von einem Spion beobachtet und verfolgt werde. Als sie am ersten Tag eine ihr bekannte Familie besuchen wollte, stieg ein Herr von sehr wenig ansprechendem Äußern in denselben Wagenabteil ein, und als der Schaffner die Fahrkarten sehen wollte und Mathilda ihr Freibillett vorzeigte, nahm jener es ihr rasch aus der Hand, wie um ihr zu helfen, warf aber hastig einen prüfenden Blick darauf, ehe er es zurückgab. Darauf sagte er zu ihr, er habe sie bei der Eröffnungsfeier des Kongresses gesehen, habe großes Interesse für ihre Gefangenenwirksamkeit und möchte gerne etwas über die politischen Gefangenen in Finnland erfahren.
Mathilda erwiderte ruhig: »Wir haben keine.«
Er rief, das sei doch nicht möglich – da sie doch so sehr viel unter dem russischen Joche zu leiden hätten. Und in vertraulicherem Tone fuhr er fort, mit ihm könne sie ganz offen reden, er heiße Vodavosoff – ein fingierter Name, wie sich später herausstellte – und sei wegen seiner Ansichten des Landes verwiesen gewesen; er wisse also Bescheid – und nun möchte er gerne etwas von seinen finnischen Leidensgenossen hören. Mathilda Wrede wiederholte: »Wir haben keine«, und fügte hinzu, es sei doch sonderbar, daß er, da er doch auf der schwarzen Liste stehen müsse, eingeladen worden sei, bei den Kongreßversammlungen anwesend zu sein.
Darauf gab er eine ausweichende Antwort und wechselte dann das Thema. Die Freunde aber, die Mathilda besuchte, fanden das überaus beunruhigend und begleiteten sie deshalb am Abend persönlich nach Petersburg zurück. Von diesem Tag an sah Mathilda mit zunehmendem Unbehagen, daß sich derselbe Herr auf der Straße und bei den Versammlungen stets in ihrer Nähe aufzuhalten suchte.
Mathilda wohnte im Hause des landesverwiesenen Glaubenshelden Oberst Paschkoff. Sie war in ihrer Sektion die einzige weibliche Abgeordnete und sprach ihre Ansichten frei und offen aus. All dies war in Rußland mehr als genügend, um sie verdächtig zu machen. Und dazu kam nun ihre Weigerung, an der kaiserlichen Tafel teilzunehmen.
Auf dem Wege nach der Verbrecherkolonie saß der sogenannte Vodavosoff mit mehreren russischen Senatoren in dem Wagen, der dicht vor dem fuhr, in dem Mathilda ihren Platz hatte. Er beobachtete diese von da aus scharf, was den Delegierten, mit denen Mathilda fuhr, ihretwegen recht unangenehm auffiel. Als sich dasselbe auf dem Rückweg wiederholte, riet ein hochstehender belgischer Jurist Mathilda dringend, in aller Eile Petersburg heimlich zu verlassen. Als dann der vorderste Wagen einen Augenblick nachher um eine Straßenecke bog, ließ der Belgier rasch entschlossen den eigenen Wagen halten und half Mathilda beim Aussteigen.
Hastig lief sie durch die Straßen nach der Paschkoffschen Wohnung, packte in aller Eile ihre Habseligkeiten zusammen und ging, von ihren Freunden begleitet, rasch nach dem Bahnhof. Mit dem nächsten Zuge verließ sie die russische Hauptstadt – und mit einem Seufzer der Erleichterung sah sie deren Kuppeln und Türme hinter sich verschwinden.
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Im nächsten Jahre war Mathilda in England auf Besuch bei einem bekannten Prediger, Doktor Baedeker, der in Finnland mit ihr die Gefängnisse besucht und mit den Gefangenen geredet hatte – eine Tätigkeit, die er nachher in den Spuren seiner »Gefängnismutter«, wie er das junge Mädchen nannte, fortsetzte.
Mathilda weilte ein paar Wochen in diesem ländlichen Heim. Aber nachdem sie von dem Ministerium des Innern die Erlaubnis erhalten hatte, alle Gefängnisse in England zu besuchen, begab sie sich auf eine Rundreise dahin und landete schließlich in London, wo sie sehr vieles aufs höchste interessierte.
Sie lernte dort verschiedene hervorragende Personen kennen, darunter Lord Radstock, Mr. Newbury, die weltbekannte Lady Somerset, Fürst Krapotkin und die neunzigjährige Mrs. Hanbury, die einstige Freundin von Elisabeth Fry, mit der zusammen sie die Gefängnisse besucht hatte.
Die Tage waren vollkommen, ja fast übermäßig besetzt. Aber in jeder Nacht träumte Mathilda von ihren Lieben daheim und von ihren Gefangenen.
In London, wo sie bei Lord Radstocks Schwester wohnte, versammelte diese eines Tages Damen und Herren der obersten tonangebenden Kreise zu einem Fünfuhrtee bei sich und bat dann Mathilda, von den Gefängnissen in Finnland und ihrer Tätigkeit daselbst zu erzählen. Dies war die Veranlassung, daß die Londoner Aristokratie den Wunsch äußerte, Mathilda solle in den Privathäusern Versammlungen halten. Aber sie konnte nur teilweise darauf eingehen, da ihre Zeit sehr begrenzt war und ihre Gesundheit, die immer zu wünschen übrig ließ, von dem Aufenthalt in England besonders mitgenommen wurde. Sie schreibt darüber, dieser Aufenthalt habe sie mehr geistige Anstrengung gekostet, als sie je vorher ausgehalten habe.
Noch mehr, als die vornehmen Empfangszimmer Westends, zog sie das Ost-Ende mit Whitchapel an.
Sie besuchte da die großen » lodging-houses«, die bis zu fünfhundert der heruntergekommensten, elendesten Existenzen beherbergen. Ihr war, als habe sie noch niemals so unverkennbar verheerte, jämmerliche Gestalten gesehen.
Als sie mit ihrem Begleiter eintrat, konnte man in dem großen Raume kaum ein Wort verstehen; alle diese Männer schrien, sangen, schwatzten und lachten durcheinander.
Aber nachdem Mathildas Begleiter sich endlich Gehör verschafft und den Leuten erzählt hatte, daß diese junge Dame droben in Finnland unter den Gefangenen arbeite, wurden sie sichtlich neugierig.
Als dann Mathilda in recht mangelhaftem Englisch von ihren Erlebnissen bei den Gefangenen erzählte, strömten diese verkommenen Gestalten herbei und umstanden sie dichtgedrängt. Und Mathilda fühlte sich ganz bekannt und heimatlich vertraut unter ihnen.
Aber alle diese Erlebnisse zehrten an ihren Kräften. Sie schrieb nach Hause: »Ihr Lieben, ich muß Euch darauf vorbereiten, daß mir diese Wochen in England zuviel gewesen sind. Ich bin geradezu abschreckend mager geworden – – – Gar oft habe ich an Marias Alabastergefäß denken müssen, das sie zerbrach, um das köstliche Nardenwasser über Jesu Haupt auszugießen. Meine Seele ist hier durch viele Eindrücke, Erlebnisse und Erfahrungen bereichert worden – und ich sehne mich jetzt nur danach, heimzukommen und meine Seele über alle meine Lieben – Freie und Gefangene – ausströmen zu lassen. Vielleicht muß mein Leib zerbrochen werden, damit dies geschehen kann – aber was tut das, wenn nur andere dadurch geistlichen Segen erhalten!« – –