Henryk Sienkiewicz
Quo vadis?
Henryk Sienkiewicz

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18.

Jeder Tropfen Blutes erstarrte in dem jungen Krieger bei ihrem Anblicke. Er vergaß die Menge, den alten Mann, sein eigenes Staunen über das Unbegreifliche, das er vernommen hatte, er sah nur sie! Endlich nach so vieler Mühe, nach so langen Tagen der Angst und Qual hatte er sie gefunden! Zum erstenmal erkannte er, daß auch die Freude gleich einem wilden Tier auf das Herz losstürzen und es zusammenpressen kann, bis das Leben entweicht. Er, der früher angenommen, es sei eine Pflicht des Schicksals, all seine Wünsche zu erfüllen, konnte jetzt kaum seinen Augen trauen, kaum an sein eigenes Glück glauben und fragte sich, ob nicht alles nur ein Traum sei. Doch es war kein Traum; er sah Lygia wirklich, und wenige Schritte trennten ihn von ihr. Sie stand im Lichte, so daß er ihren Anblick ungehindert genießen konnte. Die Haube war von ihrem Haupte gefallen und hatte die Haare lose herabhängen lassen, während die Augen unverwandt auf dem Apostel ruhten. Spannung und Glückseligkeit lagen auf ihrem Antlitz. Gleich einem Mädchen niedriger Klasse war sie in einen wollenen Mantel gekleidet, doch nie zuvor hatte Vinicius sie so schön gefunden. Trotz seiner Erregtheit entging ihm der Adel dieses vornehmen Kopfes nicht, der sich so fremdartig von dem Anzuge, der einer Sklavin geziemt hätte, abhob. Er bemerkte auch, daß sie noch schlanker geworden war. Ihre Körperfarbe schien durchscheinend, so daß sie Vinicius wie eine Blume, wie ein Geist vorkam. Doch das erregte sein Verlangen noch mehr, sie zu besitzen, weil sie von allen Weibern, die er in Rom und im Orient gesehen hatte, so unendlich verschieden war, und er war bereit, alle jene samt Rom und der ganzen Welt für diese eine hinzugeben.

So sehr war er im Anschauen Lygias versunken, daß Chilon ihn am Mantel zog, aus Furcht, der junge Krieger könne durch sein Benehmen gefahrbringend für sie werden. Die Christen fingen inzwischen an zu singen und zu beten. Dann taufte der große Apostel mit dem Wasser des Springbrunnens die, welche ihm die Presbyter als vorbereitet zum Empfang der heiligen Taufe zuführten. Vinicius dünkte es, als ob diese Nacht niemals enden wollte.

Endlich traten einige den Heimweg an, Chilon aber flüsterte Vinicius zu: »Herr, laß uns vor das Tor treten, wenn sie hinausgehen, dann folgen wir ihnen, und du kannst das Haus, in das sie hineintreten, umzingeln lassen.«

»Nein,« rief Vinicius, »wir folgen ihr sofort ins Haus und entführen sie. Du nimmst ja das auf dich, nicht wahr, Kroton?«

»Ich will es,« sagte der Fechtmeister, »und ich werde dein Sklave sein, wenn ich diesem Büffel, der sie hütet, nicht das Rückgrat breche.«

Doch Chilon riet davon ab und beschwor die beiden bei allen Göttern, nichts dergleichen zu wagen, warum nicht mit Sicherheit handeln? Warum sich dem Tode, warum das ganze Unternehmen dem Mißlingen aussetzen?

Obwohl Vinicius am liebsten Lygia sofort mitten im Ostranium an sich gerissen hätte, sah er ein, daß der Grieche recht habe, und würde ihm vielleicht nachgegeben haben, wäre nicht Kroton gewesen, dem der Lohn die Hauptsache war.

»Befiehl diesem alten Ziegenbock, Herr, zu schweigen,« unterbrach Kroton, »oder gestatte mir, ihn meine Fäuste fühlen zu lassen. Nicht, daß ich beabsichtigte, das Mädchen gleich hier, mitten aus der Menge, zu entführen, denn sie könnten mir Steine vor die Füße werfen, aber in ihrem Hause ergreife ich sie, wenn du willst.«

Vinicius freute sich über die Worte: »Beim Herkules, so soll es geschehen. Morgen könnten wir sie vielleicht nicht zu Hause treffen, und wenn die Christen Verdacht schöpfen, führen sie das Mädchen sicher fort.«

»Dieser Lygier besitzt Riesenkräfte,« stöhnte Chilon.

»Nicht dir befiehlt man, ihm die Hände zu halten,« erwiderte Kroton höhnisch.

Sie mußten lange am Tore warten, und die Hähne verkündeten schon den Tagesanbruch, als sie endlich Ursus mit Lygia aus der Friedhofpforte treten sahen. Einige andere Personen begleiteten sie, Chilon glaubte, den großen Apostel selbst darunter zu erkennen, und ihm zur Seite einen zweiten Greis von bedeutend kleinerem Wuchse, sowie zwei ältere Frauenspersonen und einen Knaben, der eine Laterne trug. Diesem kleinen Häuflein folgte eine Schar von etwa zweihundert Menschen; Vinicius, Chilon und Kroton schlossen sich an.

»Ja, Herr,« sagte Chilon. »Dein Mädchen steht unter mächtigem Schutz. Es ist der große Apostel, der mit ihr geht! Schaue nur, die Leute auf dem Wege knien nieder.«

Es war in der Tat so. Allein Vinicius achtete darauf nicht. Die neue Lehre und Lygia erweckten in ihm einen brennenden Schmerz. Zum erstenmal in seinem Leben war er hier einer Anschauung begegnet, die hoch über allem stand, was bisher sein Dasein ausgefüllt hatte. Immer wieder sah er die Grabesstätte vor sich, die andächtige Gemeinde, Lygia, die mit aller Hingebung den Worten des alten Mannes lauschte, als er von der Leidensgeschichte, von dem Tode und von der Auferstehung des Gottmenschen erzählte, der gekommen war, die Welt zu erlösen. Aber Chilon riß ihn jetzt aus seinen Träumereien. Der Grieche begann mit beredten Worten sein eigenes Los zu beklagen. Mit Lebensgefahr habe er sich der Aufgabe unterzogen, Lygia zu finden, wie könne man daher noch mehr von ihm fordern? Wenn ihm der hohe Herr doch wenigstens den Beutel geben wollte, den er beim Verlassen seines Hauses in den Gurt gesteckt habe! Das sei doch etwas für den Fall der Not, um die Christen zu beeinflussen.

Vinicius hörte dies, zog, ohne lange zu überlegen, den Beutel aus dem Gurt, warf diesen Chilon zwischen die Finger und sagte ungehalten: »Hier hast du und schweig!«

Allein Chilon fuhr fort: »O Herr, es wäre eine Kränkung für dich, wenn ich voraussetzte, deine Freigebigkeit könne zu irgendeiner Zeit enden, aber jetzt, da du mich bezahlt hast, möchte ich nicht den Verdacht aufkommen lassen, ich habe nur meinen Vorteil im Auge. Befolge meinen Rat. Wenn du die Zufluchtsstätte der göttlichen Lygia ausgekundschaftet hast, dann entbiete deine Sklaven und eine Sänfte, lasse das Haus umzingeln und das Mädchen entführen.«

Vinicius erteilte keine Antwort, er hatte jetzt nur einen Gedanken. Er beobachtete Lygia, deren schlanke Gestalt in der beginnenden Morgendämmerung wie von Silber umflossen schien. Jetzt waren sie am Tor angelangt. Als der Apostel an den beiden Kriegern, die das Tor bewachten, vorüberging, knieten sie nieder, er aber legte die Hände auf die metallenen Helme und machte das Zeichen des Kreuzes über die beiden. Der junge Patrizier erstaunte, denn noch nie war es ihm in den Sinn gekommen, es könnten auch unter den Soldaten Christen sein.

Eine geraume Zeit dauerte es, ehe sie den Tiber erreichten, und schon ging die Sonne auf. Die kleine Schar, mit der Lygia ging, zerstreute sich immer mehr. Der Apostel, ein altes Weib und der Knabe schritten längs dem Flusse den Berg hinan, während der kleinere Greis, Ursus und Lygia in ein schmales Gäßchen einbogen, um nach ungefähr zweihundert Schritten in dem Tor eines Hauses mit Verkaufsläden für Oliven und Geflügel zu verschwinden.

»Geh,« sagte Vinicius zu Chilon, »und sieh nach, ob das Haus keinen zweiten Ausgang hat.«

Chilon sprang so rasch davon, als ob ihm plötzlich Flügel an den Knöcheln gewachsen wären, und kehrte sehr bald wieder zurück. »Nein,« sagte er, »es gibt nur einen Ausgang.« Dann faltete er aber die Hände. »Bei allen Göttern beschwöre ich dich, Herr, laß dein Vorhaben fallen . . . Höre mich . . .«

Doch plötzlich brach er ab, als er das erblaßte Gesicht des Vinicius sah, während seine Augen wie die Lichter eines Wolfes funkelten. Kroton versorgte seinen Brustkasten mit Luft und wiegte sein mit der Kapuze bedecktes Haupt wie ein gefangener Bär im Käfig.

»Ich gehe voran!« rief er.

»Nein, du gehst hinter mir,« entgegnete Vinicius in befehlendem Tone.

Im nächsten Augenblick waren beide im dunklen Vorderhaus verschwunden.

Chilon lief bis zur Ecke des nächsten Gäßchens und blickte hinter einer Ecke hervor, der Dinge harrend, die da kommen sollten.

Erst als Vinicius im Vorhause war, erkannte er die ganze Schwierigkeit seines Unternehmens. Das Haus war groß und mehrstöckig, eines jener Häuser, wie man deren Tausende in Rom zu Mietzwecken baute, und häufig so rasch und schlecht, daß fast kein Jahr verging, ohne daß mehrere über den Köpfen der Bewohner einstürzten. Es waren Häuser wie Bienenstöcke, hoch und schmal, in denen armes Volk in Kämmerchen und Stübchen dicht aneinandergedrängt hauste.

Vinicius und Kroton gelangten durch ein gangartiges Vorhaus in ein schmales, auf allen Seiten verbautes Höfchen, das eine Art Atrium für das ganze Haus sein sollte. An allen Wänden liefen außen Stiegen in die Höhe, teils von Stein, teils von Holz, die zu den offenen Gängen emporführten, von denen man in die Wohnräume gelangte.

Auch zu ebener Erde waren Wohnungen, entweder mit Holztüren versehen oder auch vom Vorhofe nur durch wollene, größtenteils ausgefranste und zerrissene oder geflickte Vorhänge abgeschlossen.

Ehe noch Vinicius und Kroton weiter überlegen konnten, was sie nun anfangen sollten, bewegte sich einer der Vorhänge, ein Mann mit einem Sieb in der Hand trat hervor und näherte sich dem Springbrunnen.

Der junge Mann erkannte auf den ersten Blick Ursus. »Der Lygier!« flüsterte er.

»Soll ich ihm gleich die Knochen zerschlagen?«

»Warte!«

Ursus bemerkte die beiden nicht, weil sie im Dunkel des Vorhauses standen, und wusch Gemüse in einem Sieb. Offenbar wollte er nach der im Ostranium verbrachten Nacht ein Mahl zubereiten. Als er fertig war, nahm er das nasse Sieb und verschwand bald wieder hinter dem Vorhang. Kroton und Vinicius folgten ihm in der Meinung, in Lygias Wohnung zu gelangen. Aber wie groß war ihr Erstaunen, als sie bemerkten, daß der Vorhang vom Hofe nicht eine Wohnung, sondern einen zweiten dunklen Gang abschloß, an dessen Ende ein kleines Gärtchen mit Zypressen und Myrtensträuchern sichtbar wurde, im Hintergrund aber ein kleines Haus, das an die Feuermauer eines anderen Hauses gleichsam angeklebt schien.

Beide erkannten augenblicklich, daß die Abgelegenheit dieses Häuschens ihr Unternehmen begünstigte. Ihr Plan war rasch gefaßt. Sie wollten sich zuerst des Lygiers entledigen und dann mit Lygia die Straße zu gewinnen suchen. Dort war es ein Leichtes für sie, weiterzukommen.

Ursus wollte eben das Häuschen betreten, als ein Geräusch von Tritten seine Aufmerksamkeit erregte. Er blieb stehen, legte, als er zwei Männer erblickte, das Sieb auf einen Säulenrand und wendete sich zu ihnen.

»Was sucht ihr da?« fragte er.

»Dich,« versetzte Vinicius.

Und zu Kroton gewendet, sagte er schnell und leise: »Töte ihn!« Wie ein Tiger stürzte Kroton vorwärts, und ehe der Lygier noch zur Besinnung gelangen und die Feinde erkennen konnte, umfing er ihn mit seinen stählernen Armen.

Vinicius war von Krotons außerordentlicher Stärke zu überzeugt, um das Ende des Kampfes abzuwarten; er ließ die beiden stehen und lief auf das Häuschen zu, dessen Tür er aufstieß, worauf er sich in einer ziemlich dunklen, durch das Feuer am Kamin erleuchteten Stube befand. Der Widerschein der Flammen fiel gerade auf Lygias Antlitz. Am Herde saß ein alter Mann, offenbar jener Greis, der mit Lygia und Ursus den Weg aus dem Ostranium zurückgelegt hatte.

Vinicius stürzte so plötzlich in das Zimmer, daß er, ehe Lygia ihn noch erkennen konnte, sie schon um die Mitte gefaßt hatte und, sie hoch emporhebend, mit ihr zur Tür lief. Der Greis suchte ihm freilich den Weg zu versperren, doch Vinicius drückte das Mädchen mit einem Arme fest an sich und mit der anderen ihn zur Seite. Die Kapuze glitt ihm vom Kopfe, und beim Anblick dieser wohlbekannten, in diesem Augenblick so fürchterlichen Züge stockte Lygias Blut vor Entsetzen, und die Stimme erstarb ihr in der Kehle. Sie wollte um Hilfe rufen und konnte nicht. Ebenso vergeblich haschte sie nach dem Türrahmen, um Widerstand zu leisten. Ihre Finger glitten an den Steinen ab, und sie hätte die Besinnung verloren, wenn nicht ein gräßliches Bild ihren Blick gefesselt hätte, als Vinicius mit ihr in den Garten stürmte.

Hier stand Ursus und hielt auf seinen Armen einen Mann, dessen Rückgrat gebrochen war, dessen Kopf leblos herabhing, aus dessen Munde Blut rann. Kaum aber erblickte er Vinicius mit Lygia, so ließ er noch einmal seine Faust auf den blutenden Kopf niederfallen, um dann wie ein rasendes Tier auf den jungen Römer loszustürzen.

Jetzt kommt dein Tod! dachte Vinicius. Wie im Traume hörte er nur noch Lygias Schrei: »Töte ihn nicht!« Er fühlte nur noch etwas wie einen Blitzstrahl durch seine Arme fahren; die Erde schien sich um ihn zu drehen, dann wurde es dunkel vor seinen Augen.

* * *

Chilon harrte hinter dem Mauervorsprung voll Ungeduld, vor Ursus ängstigte er sich nicht mehr, denn auch er war fest überzeugt, Kroton habe ihn unschädlich gemacht. Und, so berechnete er weiter, sollte ein Auflauf in den bisher menschenleeren Straßen entstehen, sollten Christen oder anderes Volk Widerstand leisten, so wollte er, Chilon, als eine Obrigkeit, als ein Beamter des Cäsar auftreten und nötigenfalls die Wachen für den jungen Patrizier um Hilfe anrufen; dies würde ihm selbst neue Gunst erwerben.

Während er noch so überlegte, sah er plötzlich, wie jemand vorsichtig in die Tür trat und nach allen seiten Umschau hielt. Das konnte nur Vinicius oder Kroton sein.

Aber plötzlich erschrak Chilon, und die wenigen Haare, die er noch auf dem Haupte hatte, sträubten sich ihm. Unter dem Tore stand Ursus mit dem toten Fechtmeister auf dem Arme, schaute nochmals prüfend umher und eilte dann die völlig leere Straße entlang, dem Flusse zu. Chilon drückte sich zähneklappernd gegen die Mauer, so daß er kaum sichtbar war.

»Ich muß suchen, ihm außer Sehweite zu kommen,« sagte er sich und rannte mit einer Schnelligkeit davon, um die ihn der jüngste Mann hätte beneiden können. »Sobald er mich erblickt, tötet er mich. Rette mich, o Zeus, rette mich, o Apollo, rette mich, Hermes, zwei Kalbinnen verspreche ich dir, rette mich, du Gott der Christen! Ich verlasse Rom, ich kehre nach Mesembrien zurück, nur rette mich vor diesem Ungeheuer.«

Und jener Lygier, der Kroton getötet, erschien ihm in diesem Augenblicke wie ein übermenschliches Wesen, als irgendein Gott, der die Gestalt eines Barbaren angenommen. Auf einmal glaubte er an alle Götter der Welt und an alle Fabeln, über die er sonst gespottet hatte. Es fiel ihm ein, der Gott der Christen könnte Kroton getötet haben, und seine Haare sträubten sich abermals bei dem Gedanken, daß er mit solcher Macht im Streite liege. Erst nachdem er durch viele Gassen geeilt war und von ferne einige Arbeiter auf sich zukommen sah, wurde er etwas ruhiger. Kaum mehr fähig zu atmen, setzte er sich auf die Schwelle eines Hauses und wischte sich mit dem Ende seines Mantels die schweißbedeckte Stirn ab.

»O ihr Götter,« dachte er. »Dieser Lygier könnte sich, wenn er ein Mensch ist, in einem Jahre Millionen von Sesterzien erwerben; denn wer kann dem widerstehen, der Kroton erwürgt wie einen jungen Hund? Für jedes Auftreten in der Arena würde man ihm soviel Gold geben, als er selbst wiegt. Aber was soll ich jetzt tun? Etwas Schreckliches ist geschehen. Wenn er die Knochen eines Mannes wie Kroton zerbrochen, dann stöhnt ohne Zweifel auch die Seele des Vinicius über jenem verwünschten Hause und harrt der Beerdigung. Aber Vinicius ist ein Patrizier, ein Freund des Cäsar, ein Verwandter des Petronius, ein Kriegstribun, ein Mann, den ganz Rom kennt. Sein Tod kann nicht ungestraft bleiben. Wenn ich ins Lager der Prätorianer oder etwa zu den Wachen der Stadt ginge?«

Hier hielt er inne und begann nachzusinnen.

»Weh mir! Wer anders führte ihn zu jenem Hause als ich? Seine Freigelassenen und Sklaven sahen mich in seinem Palaste, viele von ihnen wissen auch den Zweck meines Verweilens dort, sie werden mich als die letzte Ursache seines Todes bezeichnen, und ich werde in keinem Falle der Strafe entgehen; verlasse ich aber Rom, so setze ich mich noch größerem Verdacht aus.«

Plötzlich stieg in Chilon der Gedanke auf, daß die Christen sicherlich nicht wagen würden, einen so mächtigen Mann, einen Freund des Kaisers, einen hohen militärischen Beamten zu töten; denn durch eine solche Tat würden sie sich eine allgemeine Verfolgung zuziehen. Wahrscheinlich hielten sie ihn durch eine überlegene Kraft gefangen, bis Lygia ein zweites Mal verborgen wäre. Dieser Gedanke belebte Chilons Hoffnungen aufs neue.

»Wenn dieser lygische Drache ihn nicht beim ersten Angriff schon in Stücke zerrissen hat, so lebt er und wird dann selber meine Unschuld bestätigen. Ich kann einen von Vinicius Freigelassenen, der seinen Herrn sucht, von der Sache unterrichten; er mag zum Präfekten gehen, ich tue es nicht. Ich habe Lygia gefunden, jetzt werde ich Vinicius entdecken und auch Lygia wieder auf die Spur kommen.«

Zunächst bedurfte er der Erfrischung eines Bades und der Ruhe. Der Gang zum Ostranium, die schlaflose Nacht, die Flucht vom Stadtteil jenseits des Tiber hatten ihn totmüde gemacht.

Eins tröstete ihn: er hatte zwei Börsen bei sich; die eine, die ihm Vinicius zu Hause gegeben, die andere, die er ihm auf dem Wege von der Begräbnisstätte zugeworfen hatte. Diese ermöglichten ihm, nach der überstandenen Aufregung reichlich zu essen und besseren Wein zu trinken als gewöhnlich.

Das tat er denn auch, als endlich die Weinschenken geöffnet wurden, so daß er darüber selbst des Bades vergaß. Er wünschte zu schlafen, und von Müdigkeit überwältigt, wankte er seinem Hause an der Subura zu. Eine Sklavin, von Vinicius' Geld gekauft, erwartete ihn.

In sein Schlafzimmer eingetreten, das an Dunkelheit der Höhle eines Fuchses glich, warf er sich auf sein Lager und schlief alsbald ein. Erst des Abends erwachte er oder wurde vielmehr von der Sklavin geweckt, denn es hatte jemand einer dringenden Sache wegen nach ihm gefragt.

Chilon kam sofort zu sich: er warf hastig einen Mantel um, hieß die Sklavin beiseite treten und blickte vorsichtig hinaus. Der Schrecken machte ihn starr, denn vor der Tür des Schlafzimmers stand die riesige Gestalt des Ursus. Kopf und Füße wurden ihm bei diesem Anblick eiskalt, das Herz in seiner Brust hörte auf zu schlagen, und Schauer überliefen seinen Rücken.

Anfangs war er unfähig zu sprechen, dann aber sagte oder vielmehr stöhnte er unter Zähneklappern: »Syra, ich bin nicht zu Hause, ich kenne den guten Mann nicht!«

»Ich sagte ihm, du wärest da, schliefest aber,« antwortete das Mädchen; »er ersuchte mich, dich zu wecken.«

Aber Ursus wurde ungeduldig, näherte sich der Tür des Schlafzimmers und rief, den Kopf hineinbeugend: »O Chilon Chilonides!«

»Pax tecum, pax! pax!« antwortete Chilon. »O bester aller Christen! Ja, ich bin Chilon, aber das ist ein Irrtum – ich kenne dich nicht!«

»Chilon Chilonides,« entgegnete Ursus, »dein Herr, Vinicius, läßt dich zu sich rufen.«

 


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