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Auch Vinicius war aus dem Vorgefallenen nicht klug geworden, das Verfahren der Christen Chilon gegenüber überstieg sein ganzes Begriffsvermögen. Immer wieder fragte er sich: Weshalb haben sie den Griechen nicht getötet? Sie hätten es doch ungestraft tun können. Er wäre von Ursus im Garten vergraben oder in den Tiber versenkt worden, der in jener Zeit der nächtlichen vom Kaiser begangenen Verbrechen so häufig des Morgens Leichname ans Land warf, daß niemand fragte, woher sie kamen. Dabei machte es einen tiefen Eindruck auf ihn, daß die Gesichter aller Anwesenden von tiefinnerer Befriedigung strahlten, und er blickte verständnislos von einem zum anderen. Der Apostel trat jetzt zu Glaukus, legte seine Hand auf dessen Haupt und sprach: »Christus hat in dir gesiegt!«
Glaukus aber blickte empor, vertrauensvoll und heiter, als ströme ein großes, unerwartetes Glück auf ihn hernieder. Dann sah Vinicius mit innerlicher Empörung, daß Lygia ihre königlichen Lippen auf die Hand des Mannes preßte, der wie ein Sklave aussah, und es war ihm, als sei die ganze Weltordnung umgestoßen. Jetzt kehrte Ursus zurück und erzählte, wie er Chilon auf die Straße hinausgeführt und wegen der ihm möglicherweise zugefügten Verletzung um Verzeihung gebeten habe, wofür der Apostel auch ihn segnete, und Crispus erklärte, dies sei der Tag des Sieges. Als Vinicius von diesem Siege vernahm, ging ihm der Gedankenfaden völlig aus.
Doch als Lygia ihm nach einer Weile abermals einen kühlen Trunk reichte, hielt er ihre Hand für einen Augenblick fest und fragte: »Hast du mir vergeben?«
»Wir sind Christen. Es ist uns nicht gestattet, Groll im Herzen zu tragen.«
»Lygia!« sagte er hierauf, »wer auch immer dein Gott sein mag, ich will ihm hundert Rinder opfern, nur weil er der deine ist.« Sie aber antwortete: »Du wirst ihn verehren, wenn du ihn lieben gelernt haben wirst.«
»Nur darum, weil er der deine ist,« wiederholte Vinicius mit schwächerer Stimme.
Er schloß die Lider, von neuer Ohnmacht übermannt.
Lygia ging hinaus, kehrte jedoch bald wieder und beugte sich über ihn, um zu sehen, ob er schlafe, Vinicius fühlte ihre Nähe und öffnete lächelnd die Augen. Sie legte die Hand sanft auf seine Lider, um ihn zum Schlafen zu bringen. Ein wonniges Gefühl durchzuckte ihn; bald aber verschlimmerte sich sein Zustand. Die Nacht war gekommen und mit ihr ein heftiges Fieber. Schlaflos folgte er jeder Bewegung Lygias.
Die Lampe brannte trübe, man konnte aber doch alle Gegenstände im Zimmer erkennen. Die Christen saßen am Feuer und wärmten sich. In der Mitte saß der Apostel; vor seinen Knien befand sich Lygia auf einem Schemel. Um sie herum waren Glaukus, Crispus und Miriam. Zu äußerst saß auf der einen Seite Ursus, auf der anderen Miriams Sohn, Nazarius, ein hübscher Knabe mit dunklem, langem, über die Schultern herabfallendem Haar.
Lygias Blicke hingen an den Lippen des Apostels. Aller Antlitz war gegen diesen gewandt, während er leisen Tones von Christus erzählte. Er schilderte die Gefangennahme des Erlösers. »Es kam eine Rotte mit Dienern des Hohenpriesters, um ihn zu fangen. Auf die Frage des Heilandes: wen suchet Ihr? antworteten sie: Jesum von Nazareth! Doch als er zu ihnen sprach: Ich bin Jesus von Nazareth! fielen sie zu Boden und wagten nicht, Hand an ihn zu legen. Erst nach der zweiten Frage nahmen sie ihn gefangen.«
Hier hielt der Apostel inne, streckte die Hand aus gegen das Feuer und fuhr fort: »Die Nacht war kalt, gleich dieser, dennoch kochte mein Blut. Ich zog mein Schwert, um ihn zu schützen, und hieb einem Diener des Hohenpriesters ein Ohr ab. Ich würde den Meister bis aufs Blut verteidigt haben. Er aber sprach: stecke dein Schwert in die Scheide. Soll ich den Kelch nicht trinken, den mein Vater mir gereicht hat? Darauf ergriffen und banden sie ihn.«
Als Petrus bis hierher berichtet hatte, legte er die Hand vor die Augen und schwieg, wie um dem Ansturm seiner Erinnerungen Halt zu gebieten. Ursus jedoch konnte sich nicht beherrschen. Er sprang auf und schürte das Feuer, bis die Funken wie ein Goldregen stoben und die Flamme hoch aufschoß; dann setzte er sich wieder und sagte: »Sei es, wie es wolle, ich . . .«
Er sprach nicht weiter, denn Lygia hatte den Finger vor den Mund gelegt. Sein keuchender Atem verriet den Sturm, der in ihm tobte. Wäre er in jener Nacht mit dabei gewesen, in Splitter wären die Söldner und Diener des Hohenpriesters geflogen. Tränen traten Ursus in die Augen. Sein innerer Kampf war schwer. Denn hätte er dem Heiland geholfen, dann wäre er ihm zugleich ungehorsam geworden und hätte die Erlösung der Menschheit verhindert.
Vinicius war in einen von fieberhaften Träumen erfüllten Halbschlummer versunken. Als er erwachte, sah er den hellen Schein des Kaminfeuers, vor dem jetzt niemand mehr saß. Olivenholz verbrannte langsam unter der Asche. Pinienspäne, die offenbar kurz zuvor ins Feuer gelegt wurden, loderten empor in heller Flamme, in deren Scheine Vinicius Lygia nicht weit von seinem Lager entfernt sitzend erblickte.
Ihr Anblick rührte ihn tief. Er erinnerte sich daran, daß sie die vorige Nacht im Ostranium zugebracht und den ganzen Tag hindurch sich seiner Pflege gewidmet hatte. Und jetzt, wo alle ruhten, blieb sie wach. Ihre gesenkten Lider und ihre ganze Haltung zeigten deutlich, wie ermüdet sie war. Vinicius konnte nicht unterscheiden, ob sie schlafe oder in Gedanken versunken sei. Er betrachtete ihr Profil, die im Schoß liegenden Hände, und in seinem heidnischen Geiste dämmerte die Erkenntnis auf, daß neben körperlicher, selbstbewußter Schönheit es noch eine andere, unverwelkliche, reine, keusche Schönheit gebe, in der eine Seele ihren Wohnsitz habe.
Er brachte es nicht über sich, dies christliche Schönheit zu nennen; dennoch konnte er Lygia nicht ohne die Religion sich denken, die sie bekannte. Er sagte sich, wenn sie, nachdem alle zur Ruhe gegangen, allein bei ihm wachte, sie, die er verfolgt hatte, so konnte nur ihr Glaube sie dazu bewogen haben. Neue, ihm bisher fremde Empfindungen erwachten in seiner Seele, so daß er über sich selber erstaunte.
Sie schlug die Augen auf, sah, daß sein Blick auf ihr ruhte, und näherte sich seinem Lager. »Ich bin bei dir.«
»Ich sah im Traume deine Seele,« erwiderte er.