Carl Spitteler
Olympischer Frühling
Carl Spitteler

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Zweiter Gesang
Den Morgenberg hinan

                    Mühselig kroch die Reise durch den finstern Schlauch.
Heißer und heißer ward des Berges giftiger Hauch,
Den des beengten Busens hastige Atemwogen,
Betört vom Lebenshunger, allzugierig sogen.
Vergebens kämpfte mit dem unheilschwangern Dampf
Die tapfre Seele wacker den verlornen Kampf.
Schon unterwarf sich das Bewußtsein. Machtlos kochte
Das Herzblut den gefälschten Sprudel. Kaum vermochte
Im Scheiden noch von fern ein schwaches, dünnes Denken
Stammelnd des schwanken Fußes Taumelschritt zu lenken –
Da stach ein scharfer Strahl, umzuckt von wildem Schimmer,
Züngelnd die schwüle Nacht. Ein nüchtern Blitzgeflimmer
Beleidigte das Auge. Durch die dumpfe Gruft
Fegte mit kalter Faust die kecke Tagesluft.
Die Mauer wich. Der Berg entsprang. Mit einemmal
Umglänzte sie ein hochauflachend Frühlingstal,
Gedämpft von einer trocknen Sonnennebelschicht,
Durch die des Himmels Krone dämmernd kam in Sicht.

Jetzt ließen sie den Blick mit andachtvollem Schweigen
Aufwärts in schwindelhohe Himmelsfernen steigen,
Der immerfort nach einem höheren Zenit
Durch heitern Dunst in neue Weltenräume glitt.
Kein Lüftchen blies von dieser oder jener Seite,
Und immer größer wuchs des Himmels Kuppelweite.
Mitunter prüfte der und jener unverwandt
Den lauen Lenzeshauch mit ausgestreckter Hand.
Und wie nun eine lange Zeit unausgesetzt
Der Finger ward von keinem feuchten Dampf benetzt
Und, ob auch gänzlich frei und bloß und unverteidigt,
Von keinem Nord, von keinem Windstoß ward beleidigt,
Da gab mit stillem Lächeln mancher blasse Mund
Dem Nebenmann die Wunderzeitung selig kund.
Und jeden sah im Kreis ein jeder forschend spähen,
Ob sies auch sämtlich merkten, alle wirklich sähen.

Und wie sie so mit unbeholfnen Wonnelauten
Einander hin und her ins bleiche Antlitz schauten,
Da wars, als ob sich eine fremde Kruste sachte
Von ihrem Urteil löste, das erstaunt erwachte.
Zum erstenmal vernahm ein jeder nicht allein
Sich selber, sondern merkt ein traut Zusammensein,
Spürte verwandtes Fühlen schüchtern ihn umwinden
Und ahnte seinen Bruder gleichgestimmt empfinden.
Und wie der Blick, wenn nur das Herz die Fühler streckt,
Die Tugend eines andern leicht und gern entdeckt,
So fingen sie, von alter Blindheit nun genesen,
Wohlwollend an, das Bild des Nächsten abzulesen:
Und siehe da, es war ein ausgesuchter Adel
Von Göttinnen und Göttern ohne Fehl und Tadel.

Wer wars gewesen, der den ersten Anstoß gab?
Kein Zeichen winkte, keines Führers Hand und Stab,
Nicht Wille, weder Überlegung war dabei:
Plötzlich mit einem hundertstimmigen Freudenschrei
Fand jeder schluchzend sich an eines andern Brust.
Das war der Freiheit Morgengruß und Erstlingslust.
«Aufwärts! gen Himmel!» Wie Fanfarenschmettern klang
Das kühne Feldgeschrei. Dem nächsten Bergeshang
Entgegen schwärmten jetzt in regellosem Lauf
Mit ungeduldigem Eifer alle stürmisch auf.
Kaum waren von den vordersten die ersten Stufen
Gewonnen, als auch schon von mannigfachen Rufen,
Von Freudenschreien, Jauchzern und erstickten Worten
Ein Jubeltaumel sieh erhob, weil allerorten
Zu gleicher Zeit sie winzige Wunder viel entdeckten,
Die ihrem Staunen riefen und Bewundrung weckten.
Seis nun ein würzig Kräutlein, das der eine fand,
Seis ein bemooster Stamm, ein Busch am Wegesrand,
Vielleicht ein Käfer oder auch ein bunter Stein,
Das Auge reizend mit metallischem Glimmerschein:
Was nur der Blick erreichte, ward dem Herzen teuer,
Und jedem Schritt und Tritt gedieh ein Abenteuer.

Und da des Weges Laune bald den dichtgescharten
Heerhaufen lockerte, so daß sich Trüpplein paarten
Und Gruppen sonderten, die dann als Weggenossen
Hinfort der Wallfahrt Lust und Leid vereint genossen,
Einander hin und wieder Helferdienste leistend,
Den Scherz erlaubend und des Neckens sich erdreistend,
Ward, was erst eitel Zufall war, Gewohnheit dann,
Woraus die Stunde zarte Freundschaft heimlich spann.
Bald mochte keiner seinen trauten Nachbar missen,
Noch einen Neuling an der warmen Stelle wissen.
Und köstlicher als geizgen Vorteil einsam dulden,
Erschien es jedem, Dank zu ernten und zu schulden.
Darob geschah es, wenn das Wort erscholl: «Zu mir,
Du mein Getreuer!» oder: «Hier! dies bring ich dir!»,
Daß Zweifel oft entstand und Täuschung allerhand,
Weil jeder solchen Lockruf auf sich selbst verstand.
Nun ließ das Spiel des Irrtums Überlust entfachen,
Und rein und klar erklang ein morgenfrisches Lachen.
Genesung quoll und Jugendkraft aus diesem Born,
Und der verwundnen Kümmernis entfiel der Dorn.
Je länger über weiche Wasen, rauhe Rigen
In schrägen Schraubenzügen sie dem Tal entstiegen,
Je flinker förderten die Schritte, deren Flug
Des Leibes leichtre Last aufschwingen spielend trug.
Öfter und öfter durch des Nebels Heiternis
Grüßt eines nahen Berggewaltigen Schattenriß,
Indes vor ihrem Fuß ein wühlend Schleierwallen,
Ein heimatloses Wolkensteigen, Wolkenfallen
Den Pfad verdüsterte. Doch aus den Wolken taute
Ein feines Sprühgold, das ein nahes Feuer braute.
Sieh, da erklärte sich in strahlendem Azur
Plötzlich ein Gärtchen fleckenloser Himmelsflur.
Und still und ruhig rollte durch die blumige Blöße
Das goldne Sonnenrad in selbstzufriedner Größe.

Da, während alle ehrfurchtsvoll verstummten, sprang
Aus unbewachtem Munde vorschnell der Gesang:
«Wer bist du, hohes Wesen, freundlich und erlaucht,
Das Berg und Tal zumal in goldnen Frohsinn taucht?
Vom Himmel fern in stolzer Abgeschiedenheit
Malst du das Weltall mit geschmolzner Seligkeit,
Erfüllst mit süßem Inhalt den verdroßnen Raum,
Und Schein und Wesen einigst du versöhnt im Traum.
Mit welchem Gruß und Namen soll ich dir begegnen?
Ich weiß es nicht, doch deine Werke laß mich segnen.»

Und eine zweite Stimme übernahm das Wort
Und sang den dankbeseelten Hymnus also fort:
«Es bebt mein Mund, Anbetung will ich gläubig bringen,
Ein einfach Lied aus trunknem Herzen will ich singen:
Als ich gefangen lag im finstern Kerkerschacht,
Betäubt vom dumpfen Schlaf und der Verzweiflung Nacht,
Da wähnt ich, also mochte meiner Trübsal scheinen,
Die armen beiden Augen hätt ich bloß zum Weinen.
Nun glaub ich ihre Meinung besser zu verstehn:
Viel tausend frohe Wunder kann ich staunend sehn,
Wohin die Spieglein blinken und die Wimpern winken,
Und lichtdurchglühte Farben darf ich durstig trinken.
Wie auch dein Name laute, der dir ward gelost,
Mit meinem Munde sollst du heißen 'Augentrost'.»

Und eine dritte Stimme rief: «Ich schaue wahr,
Ein Traumgesicht, ein Sinnbild wird mir offenbar:
Ein Blitzstrahl übersprang des Himmels Säulenhaus.
Den Strahl zu jagen lief die junge Iris aus.
Sie hüpft ihm hitzig nach mit Köcher, Pfeil und Bogen,
Da kam ein Knab auf goldnem Wagen hergezogen,
Hielt an die Rosse, fing den Blitz mit hurtiger Hand,
Schwenkt ihn ums Haupt und schwang ihn lachend überland.
‹Nun magst du deine Kunst erproben, feines Kind,
Ob dir die Augen klar, die Pfeile trefflich sind.›
Der Pfeile sieben standen Iris zu Gebot,
In lustigen Farben prangend, blau und grün und rot.
Sie zielte, ließ die klugen Augen ruhig walten,
Und siebenmal vermochte sie den Strahl zu spalten,
So daß ein wundersames Flammengarbenmeer
Die rot und grünen Ähren spritzte rings umher.
Da war des farbigen Weizens viel im Weltall feil,
Und jeder kam und nahm und holte sich sein Teil.»

Also frohlockten sie. Und in die wonnige Bläue
Versenkten sie die durstigen Blicke stets aufs neue.
Bis daß des Nebels neidischer Zahn die Farben fraß.
Da machten sie sich auf und wandelten fürbaß.

Und weiter über weiche Matten, rauhe Rigen
Folgten gesprächig sie des Berges luftigen Stiegen.
Da unversehens bot ein ungeschlachter Stutz
Mit klotzigem Steingetrümmer ihrem Fortschritt Trutz,
Und statt des fröhlichen Lustwandelns jetzt begann
Ein mühevolles Klettern durch Gestrüpp und Tann.
Erst gings durch Krummholz, Ginster und Wacholderborst,
Dann durch den Busch, hernach in einen Fichtenforst.
Und immer schroffer ward die Halde. Oft durchbrachen
Den Waldpfad wilde Tobel und zerrißne Krachen.
Plötzlich geschah ein Ruck, ein Halt, ein Rückwärtsstoßen
Der Vorhut. Scheuer Warnruf, wie vor einem großen
Ereignis oder Schauspiel, schrecklich und erhaben, ;
Ward laut. Und siehe da, ein schauerlicher Graben,
Ein scheußliches Lawinenbett, ein steinern Meer
Fiel durch den jähen Waldhang schräg vom Himmel her,
Als hätten böser Geister teuflische Gewalten
Mit Höllenzaubermacht den Berg entzweigespalten.
Granit und Schiefergneis, der Vorzeit weiße Knochen,
Lag allerorts zu Tag, geschändet und gebrochen.
Gespenstige Mispeln hingen übers Tannenbord,
Und der gigantische Leichnam redete von Mord.
Kein andrer Laut, als tief im Schachen Wasserrieseln,
Ein Rascheln unterm Laub, ein Rasseln in den Kieseln.

«Versteht ihr diesen Graben? Kennt ihr diesen Bruch?»
Rief eine Stimme, «und gedenkt ihr Hades' Spruch?
Das ist die Spur, wo, von Anankes Faust zerschmettert,
Der Sturz der flüchtgen Götter in die Tiefe wettert.
Drum auf! Ob einer wohl die Brunnenstube findet,
Von wo ein sichrer Fußsteig sich hinüberwindet,
Die Stube mit den beiden Quellen, zweien Röhren.
Doch laßt euch warnen, Brüder, laßt euch ja beschwören,
Daß unser keiner von der obern Röhre trinke
Mit Namen 'Ungern', daß er nicht in Gram versinke.»
Und als sie über kurzem nun die Durchgangsstelle
Richtig erspürt, am Brunnen mit der Doppelquelle,
Da ließ von allen auch nicht einer sich betören,
Zu trinken von dem obern Rohr der beiden Röhren.
Sie tranken von dem untern. Dann ums Brunnenhaus
Bequem sich lagernd, ruhten sie ein Stündchen aus.

Sieh, an der Brunnenstube und der Bank davor,
Desgleichen an den Stämmen rings am Waldestor
Waren viel feine Wörter kunstvoll eingegraben.
Was sagen sie? Wer mochte sie geschrieben haben?
Und wie sie nun mit mählich wachsender Begierde
Enträtselten der saubern Runenzeichen Zierde,
Da warens der erlauchten Götter Eigennamen,
Die einst mit Kronos hier vorbeigeschritten kamen
Im Aufstieg zum Olymp, Hoffnung und Mut voran,
Wie jetzt sie selbst; man sahs den kräftgen Zügen an.
Und also deutlich war die Schrift und frisch geblieben,
Als hätten junge Hände gestern sie geschrieben.
«Kommt, laßt uns forschen», meinte einer, «welcherlei
Des Götterkönigs Kronos eigner Schriftzug sei.»
Endlich auf einem weitentlegnen Tannengrotz
Entdeckten sie das Denkmal. Selbstgefühl und Trotz
Verriet die Handschrift, welche keiner andern glich.
Darunter zur Behauptung saß ein Willkürstrich.
Erst einer, dann ein andrer folgte allgemach
Und bald die ganze Pilgerschar dem Beispiel nach.
Mit Dorn und Stachel, scharfen Stein- und Eisenspitzen
Gefiel es jedem nun, sein Lautbild einzuritzen.
Hierauf, nachdem sie kunstbewußt und frohgelaunt
Das fleißige Händewerk bewundert und bestaunt:
«Wes Name nun», fiel eine Stimme vorlaut ein,
«Wes Name wird des künftigen Königs Machtwort sein?»
Es war kein Arg dabei, es stammte nicht vom Übeln,
Doch trafs wie giftiger Schlangenbiß. Ein grollend Grübeln
Durchlief die Mannschaft. Seinen Nachbarn anzuschauen
Vermied das schuldige Auge. Fort ist das Vertrauen.
Den künftigen Nebenbuhler, seinen heißen Feind
Wittert in jedem jeder. Hohn zu bieten scheint
Des Nächsten Stirn. Und unter Wimpern, jüngst noch naß
Von Freundschaftstränen, züngelt jetzt der erste Haß.

Da trat mit strengem Blick und hoheitsvollem Schritte
Irene strafend in der neidischen Männer Mitte.
Vor ihrer Schönheit Adel wichen sie betreten,
Und der beschämte Zorn besann sich, anzubeten.
Doch auf die Schultern jeglichem der Reihe nach
Die schmalen Hände legend, hub sie an und sprach:
«Ei welch ein tadelnswürdig Werk, so unbesonnen
Wie ungerecht wird hier vom Unverstand begonnen!
Ist jetzt zum Hadern Anlaß und zum Zanken Zeit?
Meint ihr vielleicht durch Aufschub die Gelegenheit
Der Zwietracht zu verspäten oder zu versäumen?
Geduld! In wilden Wogen wird sie überschäumen,
Sobald wir unserm hohen Reiseziele nah.
Denn wo die Braut zugegen, ist die Mißgunst da.
Eh daß wir aber am Olympos angekommen,
Laßt uns den heiligen Frieden unverkümmert frommen.
Was zaudert ihr? Herbei! Der Torheit macht ein Ende!
Zum Friedensschwure reichet euch geschwind die Hände!»
Ungerne boten zögernd sie die Rechte dar.
Doch als das Friedensbündnis kaum geschlossen war,
War jeder heimlich froh, des Hasses Müh und Pein
Und segensloser Arbeit frei und los zu sein.

Nach diesem unternahmen sie den Übergang
In langer Zackenlinie, wie der Pfad sie zwang.
Des Weges Platten, wie vom Mühlstein glattgemahlen,
Erwiesen rundlich sich vertieft zu hohlen Schalen.
Doch nicht vom Mühlstein, von den ungezählten Tritten
Der Götter, die seit Ewigkeit hindurchgeschritten.
Ein Wort, ein Seufzer rief: «Wie ist die Welt vom Alten!
Für welchen Jammer hat sie Raum bereits enthalten!»
Und aus dem Schachen kams, als ob das Echo brüllte:
«Kein Raum von Ewigkeit, den nicht der Jammer füllte.»
Da fuhr ein Schrecken in den Haufen. Und vom Sporn
Der Furcht gestachelt trieben hastig sie nach vorn.

Nun wars getan und überstanden die Gefahr.
Schon auf des Dammes Höhe stand die erste Schar
Wartend versammelt. Selbst dem Hintersten gelang
Der sichre Schlupf hinüber nach dem Überhang.
Indessen an der Böschung schrägem Bord die meisten
Im Zick und Zack, behutsam kletternd, aufwärts reisten.
Und alle mochten öfters rückwärts blickend zaudern,
Um noch ein letztes Mal zu grausen und zu schaudern,
Da horch! Ein Lärm vom Wald hernieder und Getöse!
Als ob des Berges Oberhaut sich schelfernd löse,
Fegte von Staub und Granden eine wüste Wolke
Vorbei, gefolgt von Tritten wie von vielem Volke.
Und flutend durch des Grabens Steinbett wogten, gossen
Sich die entthronten Götter, Kronos' Leidgenossen,
In langen Strömen. Füßescharren, Stimmenschwirren
Entheiligte den stillen Wald und Waffenklirren.
Kaum daß den Brunnen sie gewahrten, stürzte ächzend
Das Flüchtlingsvolk hinzu, nach Wasser gierig lechzend.
Doch niemand warnte sie, kein Führer war zur Stelle
Mit klugem Rat. Sie tranken aus der schlimmen Quelle,
Vom obern Brunnenrohr. Doch wer da kaum getrunken,
Der warf sich jammernd auf den Boden, gramversunken.
«Holla! Blickt auf! Schaut hin nach oben!» Also dräute
Ein zorniger Ausruf. «Seht mir jene rohen Leute
Dort überm Damm des Grabens, welche, wenn wir weinen,
Gelassen sind, und wenn wir fallen, standhaft scheinen!»
Die Stimme riefs. Stracks fuhr die Menge auf und starrte
Zum Damm empor, als ob ein Truggespenst sie narrte.
Doch als allmählich sie die Vettern und Verwandten
Am göttlichen Gepräg und hehren Wuchs erkannten
Und wohl vermuteten, wohin die Reise zielte
Und wie das Auf und Ab im Gleichgewicht sich hielte,
Da trübte sich ihr Blick, und traurig hielt umschlungen
Der Freund den Freund, der Ohnmacht inne und durchdrungen.
Und zu den neuen Göttern huben an die alten:
«Ihr also wollet nun an unsrer Stelle schalten?
Auf unsre Stühle wollt ihr euch gemächlich setzen?
In unsern Betten euch am Liebesrausch ergötzen?
Und an den Kelch, drin unsre Abschiedsträne rann,
Setzt schmunzelnd ihr zum Schmaus die Lippe schmatzend an?»

Und zu den alten Göttern redeten die neuen:
«Herzliebe Vettern, Gift auf seine Schwären streuen
Heißt nicht Arznei, und keine bösern Augenwunden,
Als einem Glücke nachzuschauen, das entschwunden.
Wir lagen stöhnend in der finstern Kerkernacht,
Dieweil euch Sonnenschein und Lust und Licht gelacht.
Nun möget ihr den Schmack der Unterwelt erproben,
Uns aber schwingt Anankes Schaufel heut nach oben.
Die Räder drehen sich, das ist der Unterschied.
Der steigt, der fällt; und was geschehen muß, geschieht.»

Die alten redeten: «Wir wollen euch nicht schelten.
Und euer Heil und Wohlergehen soll uns gelten.
Doch glaubt mir: häßlich grinst im Alter und Verderben
Der Jugend Lebensdurst und das Gesicht des Erben.»
Hierauf, um ihres Falles Größe zu beweisen,
Begannen sie die einstige Herrlichkeit zu preisen,
Von mutiger Taten Glanz und Heldenlust erzählend,
Den Groll des Flüchtlings mit dem Heimatweh vermählend.
Sie mochten gern des Bechers letzte Neige schlürfen,
Um nur den heimatlichen Schatten nahn zu dürfen,
«Denkst du daran?» «Weißt du noch damals?» Und so weiter
Auf der Erinnrung goldner Märchenstufenleiter,
Gnädig belächelnd, was sie litten, fehlten, träumten.
Doch unerträglich brannt ein Glück, das sie versäumten.
Und eine blaue Riesenblume reichten stumm
Mit ehrerbietigen Fingern sie im Kreis herum.
Wer immer sie empfing, der beugte fromm ein Knie,
Sog ihren würzigen Wohlgeruch und küßte sie.
Doch wer die Blume weitergab, versteckte sich
An seines Nachbarn Brust und weinte bitterlich.
Doch siehe, welch ein Wunder, seltsam zu erwähnen!
Es malte sich im reinen Spiegel ihrer Tränen
Der funkelnde Olymp im Mantel seiner Wälder,
Der Erde farbige Fluren und besonnte Felder
Und der gewirkte Teppich der erlebten Zeit,
Von Mnemosynens Hand gesegnet und geweiht.
Und also innig war das Tränenbild und traut
Und so mit andachtschwerer Traurigkeit betaut,
Daß ihres Abschieds edle, seelenvolle Leiden
Die neuen Götter meinten schmerzlich zu beneiden.

Und Schar um Schar und Trupp um Trüpplein kam gegangen,
Und alle blieben klagend an dem Klumpen hangen.
«Der Seher naht!» erscholl ein Mahnruf. Schnell entrafften
Sie sich zu beiden Seiten, und die Reihen klafften.
«Der Seher Orpheus!» so erläuterte ein Mund
Und gab des Schreckens Grund und Anlaß also kund:
«An Harm ein Kind, an Schuld ein Mägdlein ist fürwahr
Der Seher, aber grauenvoll sein Augenpaar.
Sie können nicht aufs Nahe, nicht aufs Kleine zielen,
Nicht hierin oder dorthin mit den Äpfeln spielen.
Sie starren, scheinbar auf ein fernes Ziel gerichtet,
Doch einwärts blickend, wo die Seele denkt und dichtet.
Von dorther aber dringt der Blick durch Erz und Stein
Ins Mark der Welt, ins Herz der Ewigkeit hinein,
Vernimmt, wo unterm Lärm des Tags die Wahrheit heckt
Und wo das Unsichtbare seine Scham versteckt.
Aus Wald und Feld, woraus die stumme Gottheit stammelt,
Aus jedem Weltenkehricht, den der Zufall sammelt,
Vermögen Orpheus' wundersame Seheraugen
Den Saft, den Geist, den keimenden Gehalt zu laugen.»

Und während er noch sprach, da wankte weltvergessen,
Dem Kranken ähnlich, der, vom Fieberwahn besessen,
Vom Lager heimlich flieht, doch nimmt sein Fieber mit
Und wandelt durch die Gassen mit Dämonenschritt:
So taumelte gespenstisch Orpheus jetzt daher
Im wahrheitstrunknen Rausche, ernst und bilderschwer.
Jetzt hielt er an, starrt in die Ferne, kehrte sich
Nach allen Seiten, dann begann er feierlich:
«In diesem Stein, in jenem Felsen kann ichs lesen:
Eh daß ich war, so bin ich früher schon gewesen.
Hei, wie das Bild sich klärt! Wie Licht an Licht sich setzt!
Am Anbeginn der Welt, da steh ich grausend jetzt.
Wie sie geschah, woher des Übels Ursprung sei,
Verhüllt sich meinem Blick. Allein ich war dabei.
Ich war dabei! O Wunder über Wunder! Weh!
Ich wittre Schöpfungsluft! Ich riech ein ewig Weh!
Ob Unglück, ob Verbrechen, will sich mir nicht weisen:
Das Zarte unterliegt, und Obmacht hat das Eisen!»
Er riefs und schwieg erschöpft. Gewöhnlich und gering
Erschien sein Anblick, als er jetzt von dannen ging,
Der Leier ähnlich, wenn der letzte Ton erlischt,
Dem grauen Feuerkrater, wenn er ausgezischt.

Erschüttert aber sannen sie dem Seher nach.
Wie wenn an eines Kranken Schmerzenslager jach
In all das kleine Jammern und verzagte Hoffen
Von Vaterlandsgefahr der Donnerkeil getroffen,
So schauten sie nach dem Entschwundnen unverwandt,
Ein Unheil ahnend, das die Schwingen weiter spannt.
Danach versuchten sie mit lautem Lamenteien
Die Last zu heben und den Schmerz zu überschreien,
Vom Trost des Sterbens und von ewiger Ruhe sagend
Und ihres Leibes Unzerstörbarkeit beklagend.

Da trat, leichthin gestützt auf eines Stockes Knauf,
Von oben her ein Mann mit stolzem Antlitz auf.
Zuerst beliebt ihm, mit gezwinkten Augenbrauen
Das ungebärdige Volk verächtlich anzuschauen.
Hernach begann er: «Brüder, göttlichem Geschlecht
Ist Jammern nicht erlaubt, und Klagen ziemt ihm schlecht.
Dergleichen überlasset jenen, die auf Erden
Mit einem fluchbeladnen Leib geboren werden:
Dem Menschen, dem der Körper von der Seele fault
Und der nur lebt, indem er täglich Speise mault;
Den Tieren, die der Drang des Hungers morden heißt,
Daß eins das Fleisch dem andern von den Lenden reißt.
Wie hoch auch einem Irdischen der Flug geglückt,
Vom Tode wird sein Körper und sein Geist zerstückt.
Uns Götter aber, lichtgebaut und schöngetan,
Uns ficht des Schicksals Feindschaft bloß von außen an.
Anankes Machtspruch selbst, trotz seiner Allgewalt,
Vor unsrem Körper macht er notgedrungen Halt.
Er kann uns nicht in unsre ewige Seele langen,
In Glück und Unglück bleibt mein Geist zusammenhangen.
Prometheus heiß ich. Was mir außen widerfährt,
Ob Lust ob Leid, das acht ich nicht bemerkenswert.
Der Wert, der Stolz, das Selbstbewußtsein wohnt mir innen.
Ich hab ein Schloß aus Luft gebaut mit Turm und Zinnen,
Ein Tausendwundergarten ist darum geländet
Auf dreizehn Bogen. Zwölf der Bogen sind vollendet,
Den letzten, schönsten Bogen aber werd ich biegen,
Wenn wir gefangen in des Hades Kerker liegen.
Wie eng er sei, er muß dem Geist ein Plätzlein räumen,
Und wenn der Schlaf mich zwingt, je nun, so werd ichs träumen.»
So sprach er, und getrost, das Antlitz frei und hell,
Begab er sich hinunter nach dem Brunnenquell,
Wusch ruhig sich die Finger, netzte sein Gesicht,
Doch aus der falschen Brunnenröhre trank er nicht.
Dann zog er lässig schlendernd weiter seine Bahn,
Als ging sein Weg das Schicksal, nicht ihn selber an.

«Der König naht! Des Kronos heilige Majestät!»
Man rufts, man wiederholts. Das Göttervolk gerät
In ehrerbietigen Aufruhr. Wiehern, Harnischrasseln
Klingt dröhnend aus dem Wald. Ein klatschend Steineprasseln
Durchläuft den Graben. Endlich naht auf hohem Roß
Er selbst, Kronos der Herr, mit seinem treuen Troß.
Ingrimmig schüttelt er den trotzigen Löwenkopf.
Quer liegt sein blankes Richtschwert überm Sattelknopf.
Mit fester Rechten hält ers, die zur Faust sich ballt,
Mit ungestümen Griffen, die der Jähzorn krallt,
Indes an Arm und Bein ihm weise Tröster hangen,
Die seinen Grimm zu mäßigen sich unterfangen.
Sie predigen heftig Sanftmut, eifern für Geduld.
Darüber schüttelt er das Haupt vor Ungeduld.
Wie sehr sie ihm Vernunft beweisen und verbürgen,
Er glaubts, er schlingts, allein er kann es nicht verwürgen.
Jetzt nimmt sein Herrscherblick die neue Götterschar,
Die überm Bord des Grabens lauert, plötzlich wahr.
Da übermannt ihn alt und neue Wut zumal,
Und auf der Stirn die Narbe, das gewisse Mal
Unter der Haut, das wulstig aus dem Balg ihm quillt,
Sobald von jähem Zorn gepeitscht die Ader schwillt,
Ein wundersames, nur ihm selber eignes Zeichen:
Ein Wappen, zwei gekreuzten Schwertern zu vergleichen –
Dies Mal erscheint auf seiner Stirn jetzt blutigrot,
Und seine wildbewegten Nüstern schnauben Tod.

«Ha! lustig! lustig!» knirscht er, in die Lippen beißend
Und seine ungelegnen Tröster von sich schmeißend:
«Greift zu! Ahei! ist Kronos also schon verachtet,
Daß jeder Fant nach meinem Thron und Erbteil trachtet?
Bin ich ein Hund? Bin ich vertiert? vermenscht? entgottet,
Daß man mir steht, daß meines Königszorns man spottet?
Ich weiß mich unbesiegt. Mich fällte bloß Verrat,
Des Schicksals Hinterlist, der Tochter Missetat.
Noch ist es Zeit, die Macht der Meuterer zu brechen,
Und niemals ists zu spät, den Muttermord zu rächen.
Sagt! Brüder! Wolltet ihr die Mannheit eurer Ahnen
Verleugnen und das Blut der trotzigen Titanen?
Was gilts? Eh will ich den Olymp im Sturm erreichen
Als jene Diebe, die mir nach dem Erbteil schleichen.»

Der König riefs, und einsam, ohne umzuschauen,
Als einer, der gewohnt ist, blindlings zu vertrauen,
Daß ein Befehl geschehe, den sein Wille kürt,
Und daß ein jeder schleunig fahre, wenn er führt,
Ritt mit gezücktem Schwert er jetzt voraus und stürmte
Zum Wald zurück, der steil ob seinem Haupt sich türmte.

Sie zauderten zunächst. Dann sprang ein erster nach.
Ihm folgt ein zweiter. Schließlich bröckelte und brach,
Vom Beispiel angespornt, der ganze Heereswurm
Mit drohendem Getümmel bergwärts auf zum Sturm.
Und gleich als ob der eignen Stimme Kriegsgeschrei
Bürgschaft gewährte, daß der Sieg gesichert sei,
Versuchten sie mit lautem Toben und Juchheien
Die Furcht zu fesseln und die Hoffnung zu befreien.
Schon sah die ersten man vom Wald frohlockend grüßen,
Da regte sich, von tausend rücksichtslosen Füßen
Beleidigt, der ergrimmte Boden. Sand und Gries
Empören sträubend sich. Lebendig wird der Kies.
Im Aufruhr trommelt das Gestein. Auf einmal bricht
Heimtückisch eine breite Schotterhagelschicht
Schauernd zu Tal. Darob beginnt ein wild Gewimmel,
Ein flutendes Gewühl. Der Berg, der Wald, der Himmel
Scheint Haupt und Fuß zu heben, wie zum Wandern schlüssig –
Und alles zieht und flieht, und jedes Ding wird flüssig.
Urplötzlich kommt auf sausendem Lawinenschlitten
Ein Wirbelsturm von Blöcken donnernd abgeritten.
«Nicht also!» ruft es, «weh mir!» «Hilfe!» Tausend Kehlen
Zetern und kreischen, schelten, bitten und befehlen.
Umsonst. Des Halts verlustig und vom Unterstrudel
Der Laue fortgerissen, stürzt, ein wehrlos Rudel,
Des Kronos Heer, das eben noch, vom Trotz besessen,
Anankes Schicksalskeil zu brechen sich vermessen,
Lautlos, umwälzt von einer flüchtgen Felsenmasse,
In tollen Kreiseltänzen durch die Todesgasse.

Doch wer ist jener Starke, der, wenn Berge gehen
Und Felsen fliegen, noch vermag zu widerstehen?
Dank seinem tapfern Rosse war durch Widerstemmen
Kronos gelungen, seinen jähen Sturz zu hemmen.
Freilich verliert der Hengst den Boden Stuf um Stufe,
Doch neue Stapfen hämmern seine scharfen Hufe.
Jetzt fällt es auf die Knie, du siehst es sich erheben.
Nun gleitet es zu Tal, du siehst es rückwärts streben.
Da, eben an der Stelle, wo der Brunnen hüben
Am Graben steht und stehn die neuen Götter drüben,
Bäumt sich das Tier, weist seinen fahlen Bauch und ficht
Vergeblich mit der leeren Luft ums Gleichgewicht.
Verzweiflung naht ihm. Im erschrocknen Auge rasen
Die angstgehetzten Blicke, und die Nüstern blasen.
Jetzt sah man Kronos, dem das Richtschwert längst entfallen,
Gegen das junge Göttervolk die Fäuste ballen:
«Ihr schamvergeßnen Räuber, höhnet nicht Triumph!
Mit meinem Fluche schlag ich euch den Jubel stumpf.
Ich will, daß jener, dessen buhlerischer Sinn
Den Gürtel löst der geilen Muttermörderin,
Nicht Ehrfurcht auf dem Thron, nicht Lieb im Bette finde.
Verrat und Haß und Undank sei sein Angebinde.
Hoch überm Glück des Tages in unseliger Größe
Schmeck er des Daseins Leere und der Welten Blöße.
Auf daß sein Schicksal aber an dem meinen hange,
So zeug er mit der Kebsin eine giftige Schlange.»

Noch war der Spruch nicht fertig und der Fluch nicht voll,
Der bitter ihm aus haßerfülltem Herzen quoll,
Da spürt er seinen Rappen rückwärts übersinken,
Und schwindelnd sieht er unter sich den Abgrund blinken.
Wohl pflügt er mit dem Sporn und klemmt die Knie und Schenkel,
Verkrampft sich in die Mähne, packt das Ohr als Henkel –
Umsonst. Schon überwirft sich Roß und Mann. Ein Fall,
Ein Prall. Und in den Abgrund hüpft der grause Ball.
Sahst du im Bergwald Flößer eine Tanne fällen?
Kaum trifft ihr Haupt den Boden, federt sie auf schnellen
Geleisen Sprung für Sprung zu Tal. Verhallt, verschwunden.
Dann nach geraumer Zeit ein dumpf Gepolter unten.
So fuhr des stolzen Kronos heilige Gewalt
Pfeilschnell zur Grube ohne Wehr und Aufenthalt.
Vorbei. Nur ein verspätet Echo noch im Schacht –
Das war der letzte Widerhall der Weltenmacht.

Die neuen Götter aber starrten tränenschwül
Mit ratverlaßnem Blick ihm nach. Von Schamgefühl
Des Sonderglücks verwirrt, von Mitleidsschreck gelähmt
Und von des Königs haßerfülltem Fluch vergrämt.
Indes in ihre Trübsal eine Ahnung zündet,
Wohin dereinst ihr ähnlich Schicksal gleichfalls mündet,
Und jeder sprach zu sich: «Warum? weshalb? wozu?
Zum schwarzen Pfahl, was tröstet mich der rote Schuh?
Warum den Umweg über Glanz und Herrschaft winden,
Um schließlich gleichwohl hier den jähen Sturz zu finden?
Was später doch geschehen muß, gescheh uns frühe.
Hier lieg ich. Sich bewegen lohnt mir nicht die Mühe.»
Mit diesen Worten warfen sie sich steif und schwer
Mit ausgestreckten Armen jetzt für tot umher,
Trotzig erwartend, welch ein Wunder sich begebe
Und wie Anankes Machtwort sie von hinnen hebe.

Doch als allmählich mehr und mehr sich nichts begab,
Kein Schwefel schlug herauf, kein Donner stieß herab
Und Stund um Stund vorüberzog und sie vergaß,
Standen sie kleinlaut auf und wanderten fürbaß.


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