Carl Spitteler
Olympischer Frühling
Carl Spitteler

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Siebenter Gesang
Dionysos der Seher

                        Am späten Tag, als Dämmrung das Gefild umfing,
Gefiel es Zeus, daß er die Stadt durchstreifen ging.
Sechs Männeraugen sah er aus dem Düster blitzen
Auf einer Bank. «Ists unzuviel, euch beizusitzen?»
«Dein Haupt, erhabner Herr, ist uns erbetne Spende.
Willkommen, König Zeus!» und reichten ihm die Hände.
«Verwahrt, du mögest in Geduld dich willig fügen,
Mit wunderlichem Volk, wie wir, dich zu begnügen.
Der Mund ist unberedt, doch unsre Herzen danken.»
Zeus sprach: «Wo Männer schweigen, reden die Gedanken.»
Demalso setzt er sich den düstern Männern bei
Mit spärlichem Gespräch, ein Stündchen, zwei und drei.

Doch als die Nacht jemehr die Stadtgeräusche schweigte,
Im Schleierwolkenhof der leise Mond sich zeigte,
Stand von den Männern einer auf: «Mich zwingts zu sagen.
Ob gern, ob ungern. Um Erlaubnis laßt mich fragen.
Von einem armen Knaben schmerzt mich die Geschichte.»
«Erzähl uns von dem Knaben», mahnte Zeus, «berichte!
Ists denkenswert und fühlbar, hör ichs gläubig an.»
«'s ist fühlbar», sprach der Unbekannte und begann:

«Der Mond schwieg durch die Nacht, und Weltgeflüster floß.
Ein Knabe sonderbar, genannt Dionysos,
Schrie bebend auf: ‹Dies Augenpaar und dies Gesicht
Stammt nicht von dieser Welt und ist ein Traum auch nicht.
Urernste Wahrheit schauert dieses Blickes Spruch.
Und meine Ahnung wittert Schöpfungskeimgeruch,
Atmend zu hinterst aus den fernsten Weltengründen,
Wo andre Sterne sprühn und andre Sonnen zünden.
Steh auf und finde mir dies Antlitz, meine Seele!
Wo nicht, fahr hin, küß meinen Fußtritt, Unrat! Wähle!›

Er riefs, vom Wahrheitsrausch besessen, und fürwahr
Stürzt er, vom Lager schnellend, wehrlos, wie er war,
Ein trunkner Tor, verlustig der Verstandesmaße,
Hinaus ins Fremde, auf die weite, weite Straße.
Ins Antlitz schlug die kalte Nacht ihm: ‹Feigling! Halt!
Denk deiner Braut, der Eltern heiliger Gestalt!
Zurück! Denn deine Schritte hinterlassen Mord.
An deinen Fersen schleppst du Fluch und Reue fort.›
Er rief: ‹Ob auch zu Fluch und Reue! Dank und Segen
Den Eltern mein. Dem Angesicht muß ich entgegen.›
Wohin? Gleichviel. Und als der Morgen mühsam tagte:
‹Wo bin ich?› Sieh da: eine starre, bergumragte
Schneewüste. Luft und Feld von frostgen Nebeln hart,
Und von den Halden dämmerte gespenstige Hardt.
Unendlich tappt er in der Wüste hin und her,
Bergauf, bergab und über Bach und Sümpfe quer,
Den grauen Tag. Nachts weint er über einem Stein:
‹O du, für die ich die geliebten Eltern mein
Schnöde verlassen und mein sanftes Herzelieb,
Schenk mir ein Wort, ein Zeichen, einen Wink nur gib!
Sieh mich verwaist. Ich habe niemand nun als dich.
Kein Tier, kein Vogel ist so seelenjämmerlich
Wie ich, kann ich dein hehres Antlitz nicht erreichen.
Warum denn, sprich, warum versagst du mir ein Zeichen?›
So weint er, auf dem Stein gekauert, trüb und matt,
Bis daß der Schlaf ihm Ruhe reicht an Trostes Statt.
Und siehe da: die Göttin, die dem Wachen nicht
Sich offenbart, erschien ihm jetzt im Traumgesicht.
Im blauen Himmelsmantel, lächelnd hold und klar,
Ein funkelnd Sternendiadem im goldnen Haar.
Sie sprach: ‹Was weinest du, betört vom kindischen Wahn,
Mein lieber Sohn, und härmst dein Herz und klagst mich an?
Nicht ich, die Gnadenreiche, bin es, die dich flieht.
Dein blindes Auge strafe, daß es mich nicht sieht.
Schau um, du Kind! bin ich nicht stündlich um dich her?
Im Schneegebirg, im Ried, im blauen Himmelmeer?
Hörst du des Windes nicht, des Waldes Stimmenweben?
Spürst du im Nebelhauch nicht meinen Odem schweben?
Der Herd, soweit er reicht, die Welt, so hoch ihr Raum,
Dient mir zu meinem Schleier nur und Kleidessaum.
Mußt mit dem gläubgen Willen durch den Weltraum dringen,
Mit angestrengtem Geist um meinen Anblick ringen.›
So sprechend, legte sie die gnadenvolle Hand
Ihm segnend auf den Scheitel, lächelt und verschwand.
Er lief ihr schreiend nach: ‹Weh mir! ich liebe dich!
Um welchen schweren Preis, sag an, erhörst du mich,
Gestattend, daß ich deinen heilgen Leib umfasse?
Fordre mein Leben, daß ichs lachend für dich lasse.›
Da wandte sie sich huldreich um: ‹Wenn dus erzwingst,
Wenn du mit wachem Aug den Weltenkreis durchdringst,
Besiegend deines Leibes schimpflich Hindernis
Mit willensstarker Seele, daß dein Blick gewiß
Mein Wesen schaut, will ich in Liebe dir gehören.›
‹Mit welchem Namen darf mein Glaube dich beschwören?›
‹Ich bin der reine Geist, von Wesen keusch und strenge,
Zu groß, als daß ein irdisch Namenswort mich zwänge.
Doch wenn es gilt, mich vor den Leuten zu bekennen,
Sprich von Astraia. Also darf dein Mund mich nennen;
Denn überm Himmel thron ich in der Sternenpracht.›

So sprach der Traum. Am Morgen hinter dieser Nacht
Erschien die Wüste in ein Paradies verkehrt,
Die Luft durchgoldet und das Schneegebirg verklärt;
Vom Himmel nach der Erde ein lebendig Ziehen,
Und aus den Schluchten rauschten Geistersymphonieen.
Am Waldhang das Gewölk, im Nebelfeld die Krähe
Verkündeten: ‹Spürst du Astraiens selige Nähe?›

Und täglich trieb nun durch den Winter, frostvereist,
Dionysos umher, wohin ihn stieß der Geist,
Mit Willenskraft des Körpers Widerstand bezwingend
Und mit der Seele um Astraiens Anblick ringend.
Wenn ihm gelang, daß er den Weltenkreis durchdrungen
Und sah der Wahrheit Gärten, engelchorumsungen,
So sprach er: ‹guter Tag›. Wenn seine Kraft erlag,
Daß er kein selig Scheinbild haschte: ‹schlechter Tag›.

Inzwischen, wie er über einen Berg gegangen,
Hielt ihn ein Wandrer an, Almosen zu empfangen.
Seufzte Dionysos: ‹Du armer Wandrer du!
Die Hungerschritte weiß ich auch und nichts von Ruh.›
‹Grausamer!› schrie der Wandrer, ‹was verhöhnst du mich?
Die Augen dein, die leuchtenden, verraten dich.
Ein Fürstenreich voll Gold und köstlichem Gestein,
Ich sehs am Glanze, Falscher, nennst dereinst du dein.
Wenn ich verderbe, wehe, dir gehört die Schuld.›
Der Knabe sprach: ‹Es ist nicht meine größte Schuld.›

Doch eines Abends zischelte das Herz zum Magen:
‹Pst! Schläft er, glaubst du? Kann man reden? Darf mans wagen?›
Der Magen tröstete: ‹Er schläft. Sprich frank und frei.›
Da schrie das Herz: ‹Und hört ers, sag ichs einerlei!
Ich habs genug. Wenn du in alle Ewigkeit
Dem Überwitzling, der so grausam uns kasteit,
Knechtisch gehorchen willst, demütig und ergeben,
Ich nicht! Das ist fürwahr ein Martergang, kein Leben!
Verneint wird jeder Wunsch, das billigste Begehren
Verweigert. Unsre einzige Speise heißt Entbehren.
Zwar bin ich willig, Opfer mag ich gern entrichten,
Doch auf ein Schlücklein Weltlust kann ich nicht verzichten.
Ein Herz muß dann und wann an einem Glück sich laben,
Es muß der Liebe viel und etwas Frohsinn haben.›
‹Also›, bestätigte der Magen, ‹mein ichs auch.
Bin ich zwar bloß verächtlich ein gemeiner Bauch,
So bin ich einmal mit. Mein Anspruch ist gerecht:
Ich fordre Nahrung als mein angeboren Recht.›
‹Komm›, sprach das Herz, ‹wir wollen unsre Macht vereinen,
Mit Speck und Butter ihm die Phantasie verscheinen.
Nimm du das Bürschlein tüchtig in die Hungerschule,
Indes ich ihm den Blick mit Schenkelbein verbuhle.
Was gilts? Aus seinem metaphysischen Zenit
Holt hurtig ihn herunter Brunst und Appetit.›

Und als am andern Morgen nach verwichner Nacht
Dionysos der heiligen Arbeit war bedacht,
Schande, da war Astraiens Himmel weit und breit
Verbuhlt mit Bildern wollustschwüler Üppigkeit;
Und durch der Seele Trauer, durch den Geisteskampf
Malte der Hunger Gastgelag und Bratendampf.
Im andachtvollen Auge lüsterte die Gier,
Und hinterm heiligen Willen lauerte das Tier.
Da ward ihm schwer sein Dienst und saurer als zuvor,
Doch blieb er treu der keuschen Göttin, der er schwor.
‹Fürwahr›, hohnlacht er, ‹welch ein Späßlein unerhört!
Mein eigner Körper, der sich wider mich empört!
Hinweg, du Schmach von Fleisch und Schleim, dich kenn ich nicht.
Bleib du im Schmutz mit deinem irdischen Schwergewicht!
Ich aber, spottend deiner Lüsternheit und Sünde,
Entfliehe in Astraiens hohe Sternengründe.›
Er riefs, und herrlicher und seliger gedieh
Nach bitterm Kampf und Sieg die Geistersymphonie.

Da sprach der rechte Fuß zum linken Knie: ‹Du scheinst
Mir auch nicht ganz so stramm und rüstig mehr wie einst.
Sieh, wie bei jedem Schritte du vornübersinkst,
In den Gelenken schneppst und in den Flechsen hinkst.›
Darauf erwiderte das linke Knie: ‹Ich schneppe
Im Gleichschritt übereins mit deinem Fußgeschleppe.
Umsonst, daß du gespreizt im Stelzengang dich steifst:
Man merkt doch, wie du ängstlich mit den Zehen greifst,
Den Ballen seitwärts wendest und die Hacke schleifst.›
‹Das kommt›, erwiderte der Fuß, ‹von meinem kranken
Zerschundenen Geknöchel. Doch warum uns zanken?
Wer trägt die Schuld? Dies kindische Männlein jahresjung,
Das aus dem Körper unternimmt den Narrensprung!
Weltüber fühlt er sich vergeistet und vergottet
Und merkt nicht, daß er über Sümpf und Steine trottet.
Allein was gilts, daß er nicht länger uns verlacht!
Wenn wir nur wollen, halten wir die Obermacht.
Beständiger Schmerz bezwingt den Stärksten. Darum beiße
Und brenn und stich ihn, während ich ihn zerr und reiße.›
Dermaßen schlossen sie den bösen Rädelsbund,
Die matten Kniee und die kranken Füße wund,
So daß nunmehr Dionysos bei jedem Tritt
Vor Qualen stöhnte, die er im Gebeine litt,
Und mühsam wankt er durch des Nebels feuchte Gassen:
Er mochte doch von seiner lieben Frau nicht lassen.
‹Gleichgültig›, ächzt er, ‹was den Leib mir kneift und zwickt!
Dafür hab ich den Geist, daß mich kein Übel knickt.›
Und wenn Gefolgschaft ihm verweigerten die Glieder,
Daß er zusammenbrach, zwang er empor sich wieder.

Bis eines Tages in der Dämmrung sich begab,
Daß er vom Sattel schaute in ein Tal hinab,
Erhellt von Stimmen, übersät mit Lichtgefunkel,
Und schwarze Türme, Mauern ragten aus dem Dunkel.
Da sprach zu sich Dionysos: ‹O Heimatstadt,
Wo sie in warmen Betten ruhn, gesund und satt!›

Nachdem er seine Sehnsucht vollgenug geweidet,
Des eignen Loses herben Gegensatz beleidet:
‹Ich darf fürwahr›, begann er, ‹hehre Frau, mir sagen:
Ich habe freudig dein geliebtes Joch getragen.
Nicht Mühsal, noch Entbehrung mochten mich verdüstern;
Des Hungers Gier hab ich verhöhnt, des Fleisches Lüstern
Verschmäht; des Herzens traute Stimme ward mir fremd;
Des Körpers Trotz hat mich gehindert, nicht gehemmt.
Mochten die Glieder meutern, mochten sie erkranken:
Wenn meine Qualen schrien, so sangen die Gedanken.
Aus Trübsals Nacht floh ich zu dir, im Glauben heiter.
Doch hier ist meines Wandels Ziel, ich kann nicht weiter.
Ich haft im Leib, der Tod hat über mich Gewalt;
Drum, wenn michs trifft zu sterben, muß ich sterben halt.
Doch eher als ich stumm und spurlos hier verende,
Rüst ich zum Sieg und schwing zur Opfertat die Wende.
Mit meinem Blut will ich von dir, Astraia, zeugen,
Der Erde Völker unter deinen Namen beugen.
O stärke mich zum Werk, geliebte Göttin mein!
Verlaß im Tode nicht den treuen Diener dein!
Vielleicht, daß du mit einem Lächeln mich besonnst,
Wo nicht, nimm meinen Abschiedsgruß, ich tus auch sonst.›
Und als der neue Tag sich hob durchs Morgenrot,
Stand auf und schmückte sich Dionysos zum Tod,
Bekränzte sich mit Efeu, wusch sich überm Quell,
Und seine Seheraugen glänzten schön und hell.
Als er die Weinbergstufen schwankend stieg hinab,
Wo sein verklärter Blick die Berge rings umgab:
‹Dies alles nehm ich›, sprach sein gläubiger Wunderwitz,
‹Für meine keusche Himmelsgöttin in Besitz.›
Ein Zollhaus stand am Weg. Ein lieblich Mägdlein kraus
Guckte durchs Fenster zwischen Blumenstöcken aus.
‹Wes Namens sind die Leute, die dort unten wohnen?›
Das Mägdlein sprach: ‹Du siehst die Hauptstadt der Hedonen.
Doch, Pilgrim jung und fein, warum schaust du so traurig?›
Er sprach: ‹Von ernstem Glück ist meinem Herzen schaurig.›
‹Wann kehrst du wieder diesen selben Pfad einmal?›
‹Weiß nicht. Bin nicht mein eigner Herr, hab nicht die Wahl.›
Doch als er ins Gewühl der städtischen Straßen kam,
Im hellen Tageslicht den Lebenslärm vernahm
Mit seinen Werkelsorgen, strebsam und geschäftig,
Und sah die schönen Fraun, die Männer klug und kräftig,
Da ward sein Eremitenmut ihm plötzlich klein,
Und unter Tausenden verspürt er sich allein.
Und wie er vollends seine wilde Tracht verglich
Mit den geputzten Herrenleuten, schämt er sich.
An einer Ecke stand ein Grüpplein Volk versammelt.
Hier ward von ihm ein zaghaft Wort verwirrt gestammelt,
Von Sternen stotternd und von einer Göttin blau;
Wohin er zielte, wußt er selber nicht genau.
Kaum rief sein Spruch ein achselzuckendes Gelächter.
Gleichgültig zog vorbei die Menge der Verächter.
‹Weh meiner Torheit›, stöhnt er, ‹meinem Unverstande:
Des Todes nur gedenk, vergaß ich Schimpf und Schande.›
Errötend kehrt er um, beschämt, enttäuscht, vernichtet.
‹Heim in die Wüste!› war sein einziger Wunsch gerichtet.
Sich durch die Gassen stehlend, längs der Wand gedrückt,
War bis zum Tor ihm schier die hastige Flucht geglückt,
Und schon gedacht er, daß ins freie Feld er lenke.
Da schoß Thiasos wuchtigen Schrittes aus der Schenke,
Von Wein betrunken, von Gedankenarmut nüchtern,
Und feindlich jedem, den er zaghaft sah und schüchtern.
Dionysos erblickend, brüllt er: ‹Seht auf den!›
Und aus der Schenke trabt auf seinen Ruf Silen.
Umsonst des Knaben Flucht. Von allen Seiten schon
Feindlich umringt, empfing ihn Haß, verfolgt ihn Hohn.
‹Ohe! – der Efeunarr!› erscholl des Pöbels Gellen,
Verstärkt mit Beckenrasselsturm und Klingelschellen.
Durchs Tor und durch die Vorstadt in den Weinberg weit
Hing sich an seinen Fuß das hetzende Geleit.
Bis endlich, eingedenk der heimatlichen Schenken,
Der wüste Schwarm geruhte lärmend umzuschwenken.
Er selbst, nach kurzem Weitertaumeln ohne Ziel,
Brach machtlos auf den Boden; gleich, wohin er fiel.

Zum Zöllnertöchterlein Ariagne sprang die Magd:
‹Jammer! Im Weinberg unten›, hat sie ihr gesagt,
‹Am Weg, den Kopf im Graben, liegt der feine Knabe,
Den ich im Zwiegespräch mit dir gesehen habe.
Ich weiß nicht, was sie ihm getan und was ihm fehlt.
Gleich einem Leichnam liegt er da, doch scheint beseelt.›
Oinos, den Vater, rief Ariagnes Ruf herbei,
Drauf gingen sie den Knaben holen alle drei,
Und pflegten, speisten, trösteten den kranken Gast,
Als Fremdling nicht, als einen Sohn und Bruder fast.
Kein Kind wird sorglicher und zärtlicher geborgen.
Darüber ward es manchmal Nacht und manchmal Morgen,
Des Knaben Blick ward muntrer, sein Geblüt genas.
O welch ein Festtag war im Zöllnerhäuslein das!
Recht so, als ob vom Grab er auferstanden wäre.
Und jeder wähnte, daß es ewig also währe.

Doch eines Abends, als wie sonst das Brot man brach,
Sah still er für sich hin, worauf er traurig sprach:
‹Ihr lieben Leute, hätt ich einen Feuerstift
Und eine Leiter hoch, ich schriebs mit Flammenschrift
Leuchtend am Himmel auf, was ihr an mir getan.
Mich aber tritt der Bann der Weiterreise an.
Ich bin ja nun genesen, kann jetzt wieder leiden.
Habt Dank, ihr lieben Leute, morgen muß ich scheiden.›
Da stieß Ariagne heftig ihre Schüssel für,
Sprang auf vom Stuhl und rannte schluchzend durch die Tür
Und lauert insgeheim, bis man vom Mahl erstand.
Dann zog sie ihn zum Birnbaum an der Hinterwand.
‹Geliebter Knabe›, zürnte sie, ‹du darfst nicht wandern;
Wir wollen täglich, stündlich bleiben eins beim andern.›
Er sprach: ‹Du freundlich Mägdlein, schade, ich muß scheiden.›
Sie schrie: ‹Allein das darfst du nicht! Ich kanns nicht leiden.
Vielmehr wirst du mein Gatte, erbst des Vaters Zoll,
Dann sind wir arm an Schätzen, aber Glückes voll.›
‹Dein Mund spricht süß›, beharrt er, ‹dennoch muß ich scheiden.
‹Weshalb›, begehrte sie unwillig, ‹mußt du scheiden?›
Da wuchsen seine Augen, und sein Herze schwoll.
Und von Astraias Pracht erzählt er sehnsuchtsvoll
Und ihrer Herrlichkeit, und teilt ihr jedes mit,
Was er erlebte und im Wüstenschnee erlitt.
Und Wunder, wie dem schüchternen Dionysos
Die Rede jetzt in tönendem Gesange floß!
Zu Boden glitt sie, faßte gläubig seine Knie:
‹Nimm an Astraias Jüngerin!› erklärte sie.
‹Ob ich auch nicht begreife, wer Astraia ist,
Genug, daß du sie liebst und du ihr Fürsprech bist.›
Inwendig aber kreischte sie: ‹Jetzt erst, jetzt recht,
Jetzt halt ich ihn. Gleichviel, mit Unrecht oder Recht!›
Und wühlt in den Gedanken, was sie möcht erfinden,
Ihn zu betören, zu versäumen und zu binden.

Um Mitternacht, als er im tiefsten Schlafe ruhte,
Ging, auf den Zehen schleichend, sie die Magd, die gute,
Aufwecken, daß sie zu dem listigen Betrug
Ihr helfe, den sie im verliebten Busen trug.
‹Mach schnelle! Schminke mir die Wangen und den Mund
Mit Rot, schwärz einen Bogen um die Augen rund!›
Drauf ließ mit duftgem Öl sie das gewellte Haar
Sich salben, mit Arom den Körper ganz und gar,
Mit einem Flitterdiadem die Stirn sich krönen.
‹Die Schärpe dort! Den Gürtel auch, den roten, schönen!
Nun einen Becher hurtig noch vom stärksten Wein!›
Tat von berauschendem Gewürz ein Pulver drein.
So ausgerüstet trat sie in sein Kämmerlein.
Und während hinter ihr die Magd mit einem Docht
Und einer rußigen Fackel Feuerringe focht,
Begann sie feierlich mit priesterlichem Ton:
‹Wach auf, Dionysos, wach auf, wach auf, mein Sohn!
Astraia naht. Bet an! Doch wehe! frage nicht!
Und mir ins Angesicht zu schauen, wage nicht!
Auf daß du zum Empfange würdig seist und rein,
Sollst du mit diesem Trunke Leib und Seele weihn.›
Also befahl Ariagne. Ungelehrt im Lügen,
Ließ sich der Knabe von der blöden List betrügen
Und schlürft auf einen Zug den Becher. Kaum getrunken,
War er, vom würzigen Wein bezwungen, hingesunken.
Jetzt ihm zur Seite liegend: ‹Feuer über dich
Und Wolf und Bären, wagst dus und berührst du mich.›
‹Ach›, seufzt er, an die Wand sich drückend, ‹ach, haja!
Lieg ich im Himmel oder in der Hölle da?›
Und wenn er kaum die Nase hob, die Zehe kehrte,
So kam ein Nadelstich, der ihn den Rückweg lehrte.
Und also fort mit Seufzen und mit Nadelstrafen,
Bis daß er schließlich gähnend vorzog, einzuschlafen.
Jetzt schrob sie sachte sich vom Bette, bog sich vor
Und tönt ihm den posaunenden Befehl ins Ohr:
‹Mich ziehts. Die Sterne rufen. Büß und bete fein.
Denn morgen nah ich wieder dir im Kämmerlein.
Erwarte mich. Fluch, wirst du mein Gebot verachten!›

Und ähnlich tat sie sieben Tage. Doch am achten
Geschah ihr, daß vor großem Liebesübermaß
Sie beides: Vorsicht, Scham und Züchtigkeit vergaß
Und küßt und herzt ihn, und, in seinem Arm geborgen,
Entschlief sie, selig schlummernd bis zum späten Morgen.
Und als er blinzelnd nun beim hellen Tageslicht
Ariagne ihm zur Seite fand, Astraia nicht,
Und sah die Schminke über ihre Wangen rinnen,
Entdeckt er den Betrug und stahl sich still von hinnen.
Zum Abschied aber schrieb er mit geschwinder Hand
Das harte Sprüchlein an des Hauses Hinterwand:
‹Wahrheit und Schminke tun mir nicht denselben Dienst.
Leb wohl! ich gehe suchen jene, die du schienst.›

Dann zog er fort. Bis daß des Birnbaums Wipfel nur
Von der verschmähten Heimat zeichnete die Spur.
Da stach ihn Reue, also daß er stehenblieb,
Rückwärts gewandt. Und als sein Fuß ihn weitertrieb,
Und vor und hinter ihm und weitwärts ohne Ende
Gleichgültig ihn umstand ein liebelos Gelände,
Da fühlt er plötzlich sich verlassen und verwaist,
Und alles Warme schien ihm aus der Welt verreist.
Die Hände streckt er aus zum nächsten Hügelrücken:
‹Möcht wissen, welch ein Los mir wird dahinter glücken.›
Da kam ein schwarzer Wind und ein Gewölk von dort.
‹Ich wüßt es!› heult es aus der Wolke. Zwar das Wort
Verstand er nicht, doch eines bösen Hauches Schauer
Umfing sein ahnendes Gemüt mit Todestrauer.
‹Ich möchte doch, ich glaub, so jung nicht sterben müssen!›
Das Leben schmeckt ihm traulich seit Ariagnes Küssen.
Dann stieg er auf den Hügel. Als ins Tal er sah,
Lagen der Dörfer manche um ein Kloster da.
‹Soll dorthin oder soll ich eher seitwärts ziehn?
Gleichviel.» Lahmwillig steuert er zum Kloster hin.
Als er die Schilderung der Klosterwand beschaute,
Warf er die Arme hoch, und trunkne Wonnelaute
Lallte sein Mund. Denn eine Himmelskönigin,
Astraia gleich, gewahrt er im Gemälde drin.
Vom Fenster frug der Pförtner: ‹Ei, was freut dich so?›
Er sprach: ‹Astraias süßes Abbild macht mich froh!›
Da zeterte der Pförtner: ‹Hilf mir, Astaroth!
Wer ist Astraia?› ‹Also›, sagt er, ‹heißt mein Gott,
Die keusche Himmelskönigin, die Sternenbraut,
Die ich, wohl mir, im wüsten Schneegebirg geschaut.›
Da schrie der Pförtner: ‹Frommen Leute, eilt herbei!
Er lästert Istar Astaroth!› Auf sein Geschrei
Erschienen flugs die Mönche. Aber Korybas,
Der Abt: ‹Was ist dein Glaube?› forscht er schmunzelnd, ‹was?›
Und als Dionysos nun schlicht und einfach wahr
Erzählte, wie Astraia ihm erschienen war,
Im blauen Mantel, thronend auf dem Sternenwagen,
Und alles, wie es war, und wie sichs zugetragen,
Schlug ihm der Abt die Faust entrüstet ins Gesicht:
‹Bekenne Astaroth, du Gauch, und lästre nicht!›
Die Nachricht schrie herum, und Grauen fror die Leute.
Aufruhr und Wutgebrüll erscholl und Sturmgeläute.
‹Greuel! Bewahre unsre Gauen, Astaroth,
Vor Sündenspott! Er lästert Gott! Er leugnet Gott!›
Und eine Treibjagd wurde wider ihn gesetzt
Und einem Raubtier gleich Dionysos gehetzt.
Bei Nacht verkroch er sich im Busch, versteckt im Straub.
Ist das der Morgenwind, der raschelt dort im Laub?
‹Herbei! da liegt er ja, der Gottesleugner! Schaut!
Leise! – Jetzt drauf! Hui! faßt den Unhold! Herzhaft! Haut!›
Als er dem ersten Streiche taumelnd unterlag,
Stöhnt er: ‹Das ist für meiner Eltern Sorg und Plag.›
Als sie die Knochen ihm zerbrachen und die Glieder:
‹Das ist für meiner Braut verweinte Augenlider.›
Doch als das Herz sie würgten in der Brust dem Armen:
‹Wie anders›, schrie er, ‹damals in Ariagnes Armen!›
Dann ward er sterbend übers Feld gezerrt, zerrissen,
Zerstückt, zerfleischt von frommen Weibern gottbeflissen.

Also erlitt Dionysos das Strafgericht.
Gleichgültig zog herauf das frostige Tageslicht,
Und schielend langten an die Krähen: ‹Kria! kreisch!
Heut gibt es Dichteraugen mit Prophetenfleisch.›
Der Regen tröpfelte: ‹Des Lebens Zweck ist Schmutz.
Gehirn und Herz gibt Dünger, für die Rüben nutz.›
Der Nordwind pfiff: ‹'s ist alles eins, Gestank und Duft.
Im Stein ist Wahrheit. Blut verraucht und Geist verpufft.›

Allein nach dieser Zeit nach langen, langen Jahren
Kam einst ein Fremdling ins Hedonenland gefahren:
‹Was deutet, sagt mir, diese liebliche Kapelle?›
‹Knie ab, das ist der Gnadenort, die Wunderstelle,
Wo vorzumal am Zoll das Winzerhäuschen stand,
Da unser Herr die heilige Ariagne fand.›
‹Und wem gehört der Dom danieden in der Stadt,
Der große, welcher eine goldne Kuppel hat?›
‹Der Dom, das ist der Tempel des Dionysos,
Am Platz, wo er zum Predigtwort den Mund erschloß.›
‹Halt, sieh dort, welch ein Zug mit Efeu naht sich da?›
‹Sprich leis. Das ist die Äbtin Korybasida
Mit den Ariagnepriestern. Hörst du das Geschrei:
Ohe! Ewö! Der ganze Adel ist dabei
Mit seinen stolzen Fraun und Jungfraun, schönen, weißen.
Doch knie nun hurtig ab, daß sie dich nicht zerreißen!›»

So tönte von Dionysos die Mär, im Dunkeln
Gestanden auf der Männerbank beim Mondenmunkeln
Von einer rätselhaften Stimme unbekannt.
Zeus aber sprach: «Bist du Dionysos genannt?
Das hast du nicht erfunden, Freund, das ist gereift.
Den Buben hast du mit der Schulter angestreift,
Und zu dem Winzerhäuschen kennst du wohl die Pfade.
Keimt dir ein Wunsch, so sprich! Ich nenn es Dank, nicht Gnade.»
Da sprach der Unbekannte: «Eines wünsch ich. Dies:
Dem heiligen Mägdlein, die mein Lied Ariagne hieß
Und die vergessen liegt im fernen Grabesgrunde,
Spend einen Ruhm aus deinem königlichen Munde.»
Da reckte sich der große König, und mit Macht
Schickte sein Mund die Stimme durch die finstre Nacht:
«Den Toten allen schuldigen Andachtsgruß zuvor!
Ein Mägdlein ruft vom Grabe mein Gebet empor,
Ariagne, oder wessen Namen du dich lobst,
Pathos! Die du den Knaben von der Straße hobst,
Pathos! Die du sein frierend Herz mit Lieb erwärmt,
Pathos! Die du um ihn zu Tode dich gehärmt,
Sei heilig mir! Zwar Denkmalbaun und Tempelmessen
Hält Zeus nicht im Geschmack. Du selbst bleibst unvergessen!»
So betete der König. Und die andern drei
Standen entblößten Hauptes ehrerbietig bei.
Drauf sprach er: «Habt nun Dank. Mein Urlaub neigt zu Ende.
Die Stunde mahnt, daß ich zur Heimat jetzt mich wende.
Hier meine Hand. Die Weile wurde mir zum Feste.
Und einen andern Abend seid ihr meine Gäste.»


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