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Von Cavandone, dem kleinen Dorfe, das sich an den waldbewachsenen Monte rosso schmiegt, führt an alten Kastanienbäumen hin über rauhe Felsstücke und rauschende Bergwasser der Fußpfad nach Suna hinunter. Auf halber Höhe steht die weiße Kapelle und bietet den Heraufsteigenden eine willkommene Rast auf der steinernen Bank im Schatten des Kirchleins. Aber nur die Schwerbeladenen bleiben auf der Bank sitzen, um sich auszuruhen. Jeden andern lockt es, die Terrasse auf dem Vorsprung des Kapellenhügels zu erreichen und über die Mauer zu schauen. Da leuchtet weithin der blaue See mit den grünen Inseln darin, die wie Smaragde über den Fluten schwimmen. Gegen Süden hin wird aus See und Himmel eine dunkelblaue, endlose Meerflut. Dort an der Mauer stand in der goldenen Morgenfrühe der deutsche Maler und schaute hinaus. Sein Kind hatte die große Tasche mit den nötigen Gerätschaften samt dem Farbenkasten auf den Boden gelegt, sich selbst auf die Mauer geschwungen und schaute schweigend, wie der Vater, in das sonnige Land hinaus.
»Hast du diese Heimat lieb, Dori?« fragte der Vater nach einer Weile.
»O ja, so schön ist es gewiß sonst nirgends auf der Welt!« rief das Kind schnell aus.
»Ja, es ist wohl schön hier, so schön« – wiederholte der Vater und blickte wieder still sinnend über die Inseln nach der fern verschwimmenden blauen Flut hin.
»Willst du denn gar nicht malen heute, Vater?« fragte Dori endlich verwundert, nachdem eine lange Zeit hingegangen war, ohne daß der Vater gesprochen, noch sich gerührt hatte. Daran war das Kind nicht gewöhnt.
»Jawohl, wir wollten ja malen«, sagte der Vater, so als käme er von weit her zu diesem Gedanken und in die Gegenwart zurück. »Dort unten auf den bemoosten Steinen wollen wir uns niederlassen; da müssen die Schneeberge auch noch mehr zum Vorschein kommen.«
Dori folgte dem Vater gegen die Kapelle zurück, wo man um die Mauer herum zu den Steinen niedersteigen konnte. Hier wurde die beste Stelle ausgewählt. Auf dem breiten, bemoosten Felsstück konnte man sich bequem niederlassen und keine Schranke trat hier der vollen Aussicht über das Tal in den Weg. Der Vater hatte recht gehabt. Im Westen stiegen völlig klar die weißen Gipfel der hohen Simplonberge empor und schlossen den Talgrund ab, während im Osten die dunkle Felsenmasse des Monte serro hoch in den blauen Himmel ragte und den See umschloß. Drüben glänzten die Türme und Zinnen von Baveno in der Morgensonne und drüber hin erhob sich schützend und umrahmend der grüne Motterone mit seinen sonnigen Weiden, auf denen ringsum das Morgenlicht schimmerte. Der Maler hatte seinen Pinsel zur Hand genommen, aber es war, als ob ihm heute die Bilder von innen so lebendig vor die Augen träten, daß diejenigen von außen gar nicht bei ihm eindringen konnten. Nach wenigen Strichen legte er seinen Pinsel wieder hin und blickte in Gedanken versunken auf den Moosgrund zu seinen Füßen.
»Vater, warum sagst du gar nichts? Soll ich dir etwas erzählen?« fragte Dori, die eine so lange Pause noch nicht erlebt hatte.
»Ja, tu du so«, entgegnete der Vater und nahm den Pinsel wieder auf. Nun fiel dem Kinde ein, daß es seine Begegnung von gestern mit der jungen Dame dem Vater noch gar nicht erzählt hatte, und eifrig begann es, das Zusammentreffen zu schildern. Alle Worte wußte es noch genau, die gesprochen worden waren. Dann zog es das kleine Buch aus der Tasche, das es da hineingesteckt hatte, und zeigte dem Vater das Lied, dessen Anfang es dem Fräulein hatte vorlesen müssen. »Wollen wir es einmal singen, Vater?« fragte Dori. Er nahm das kleine Buch in die Hand und las den Namen, der in zierlicher Schrift auf dem ersten Blatte geschrieben stand: Helene von Aschen. Dann ließ er seine Augen über die Noten gleiten und begann leise zu singen. Mit heller Stimme fiel Dori ein. Als der erste Vers gesungen war, legte der Vater das kleine Buch in Doris Hand zurück. »Sing du weiter, ich kann nicht singen heute«, sagte er.
»So will ich dir etwas singen, das du gerne hörst, das freut dich besser«, meinte Dori. Sie setzte sich neben dem Vater auf dem Stein zurecht und begann in hellen, weichen Tönen ihr Lied:
»Aus der Jugendzeit, aus der Jugendzeit
Klingt ein Lied mir immerdar,
O wie liegt so weit, o wie liegt so weit,
Was mein einst war.
Was die Schwalbe sang, was die Schwalbe sang,
Die den Frühling wieder bringt,
Ob das Dorf entlang, ob das Dorf entlang
Es jetzt noch klingt?
O du Heimatflur, o du Heimatflur,
Laß zu deinem heil'gen Raum
Mich noch einmal nur, mich noch einmal nur
Entfliehn im Traum!«
Das Kind hielt plötzlich inne; es hatte den Vater angeblickt. Er hielt die Hand über die Augen gebreitet, große Tränen quollen darunter hervor. »Vater, du weinst«, rief das Kind bestürzt aus. »Warum weinst du? Du hast noch nie geweint.«
Der Maler war aufgestanden; einen Augenblick hatte er sich noch abgewandt, dann kehrte er sich zu dem Kinde: »Komm, wir gehen zur Mutter«, sagte er, Dori bei der Hand nehmend, »wir wollen mit ihr sprechen. Ich möchte mit euch heimreisen, dorthin, wo ich daheim war. Ich habe dir ja viel erzählt von dem kleinen Fischerdorf und wie ich dort am Strande zuschaute, wie die hohen Meereswellen heranstiegen mit dumpfem Brausen von ferne und näher und näher mit lautem Donnerrollen. Komm, Kind, komm!« Der Maler eilte mit seinem Kinde den Berg hinan, so als drängte die Zeit, als müßte er schnell ausführen, was er vor hatte. Auf der Terrasse des kleinen Hauses, das am sonnigen Bergrücken wie zu hängen schien, das aber auf dem sichtbaren Felsengrund sehr fest stand, saß die Frau des Malers bei ihrer Arbeit. Von Zeit zu Zeit legte sie das Tuch samt Nadel und Schere auf den Schoß nieder, schaute durch das grüne Weinlaub in den leuchtenden Morgen hinaus und seufzte tief auf; es mußte ihr etwas Schweres auf dem Herzen liegen. Jetzt nahte ein eiliger Kinderschritt der Terrasse. Dori kam hereingestürzt. »Mutter! Mutter! Wir machen eine große Reise!« rief das Kind schon unter der Tür ihr entgegen; »der Vater geht mit uns ans Meer, dorthin, wo er daheim war.«
Eben trat der Vater langsam hinter Dori ein. »Erwin«, rief seine Frau im höchsten Schrecken aus, »wie siehst du aus! Du bist krank! O, du bist so krank!«
»Ich bin nicht recht wohl«, entgegnete der Maler, sich niedersetzend, »du mußt dich aber nicht so aufregen, liebe Dorothea, ich werde mich ein wenig hinlegen, dann wird's besser werden.«
Kurze Zeit darauf saß Dorothea am Lager ihres Mannes, der gleich in einen tiefen Schlaf gesunken war, nachdem er sich hingelegt hatte. Was sie befürchtet, war gekommen, und daß der Mann viel kränker war, als er selbst zugeben wollte, konnte sie sich nicht mehr verbergen. Er war nie sehr kräftig gewesen, aber er stand ja in seinen besten Jahren. Dorothea hatte schon seit einiger Zeit eine Veränderung an ihrem Manne bemerkt, die heimliche Sorge darüber hatte sie seither immer verfolgt.
Nun war er doch so plötzlich wie zusammengebrochen, so hatte sie ihn nie gesehen. Aber sie konnte sich ja täuschen und ihr Mann konnte seine ganze Frische wiedergewinnen. So gingen ihre Gedanken unruhig auf und nieder, während sie die ungleichen Atemzüge des Schlafenden belauschte. Dabei glitt einmal ein lichter Hoffnungsstrahl über ihr Gesicht, dann mußte sie wieder die aufsteigenden Tränen wegwischen.
Jetzt schlug der Kranke seine Augen auf. Er schaute wie träumend auf Dorothea hin. Ein glückliches Lächeln breitete sich über sein Gesicht; er streckte die Hand aus und sagte: »O, Mutter, bist du da!«
Dorothea beugte sich über ihn und fragte, ob er etwas bedürfe.
»So bist du es, Dorothea«, sagte er, wie erwachend und sich besinnend! »Ja, nun weiß ich's, ich hatte einen so schönen Traum. Ich war daheim und hörte draußen das Meer rauschen und die Mutter saß bei mir, so wie ehemals und blickte mich so liebevoll an. O, Dorothea, ich habe ein großes Verlangen, die Heimat wiederzusehen. Willst du alles bereit machen, daß wir gleich reisen können, wenn ich wieder ganz wohl bin, es wird ja nicht lange dauern. Das tust du mir, nicht wahr, du tust es?«
Dorothea schaute erschrocken in die fieberhaft erregten Augen des Kranken. »Jetzt können wir nicht reisen, Erwin, du bist zu krank, du mußt Ruhe haben. Denk nicht an ein Fortgehen jetzt«, bat sie.
»Daran denken muß ich, nur daran kann ich eben jetzt denken, o, laß mich die Heimat wiedersehen!« Der Kranke schaute flehentlich zu seiner Frau auf. »Tu mir das, liebe Dorothea, mach alles bereit! Ich werde bald gesund sein. Laß den großen Reisekoffer herunterholen, tu mir's zuliebe, Dorothea!«
Die Frau stand auf, sie wußte nicht, was sie tun sollte. Ihr Mann war wohl fieberhaft aufgeregt, aber er hatte doch nicht im Fieber geredet, er hatte den brennenden Wunsch mit ganzem Bewußtsein ausgesprochen.
Jetzt schien ihr ein beruhigender Gedanke gekommen zu sein. Sie kehrte zu dem Lager zurück: »Ich will gehen, Erwin, und tun, was du wünschest: aber du mußt mir auch etwas zuliebe tun, du mußt erlauben, daß ich den Arzt von Pallanza heraufkommen lasse.« Sie wußte wohl, daß ihr Mann ihr widerstehen würde.
»Es ist ja so weit«, sagte er, »und auch gar nicht nötig, ich ruhe mich aus, dann ist's wieder gut. Wenn du's aber durchaus haben willst, nun ja, so tue, wie du denkst. Aber Dorothea, bis wir gehen können, gib mir das Bild, das ich dir einmal geschenkt, du weißt, die Ansicht vom Meeresstrand. Laß mich die Heimat anschauen!«
Dorothea verließ das Zimmer. Draußen auf der Terrasse hinter dem wehenden Weinlaub saß Dori mit einem Buch in der Hand, sie hatte für die Unterrichtsstunden beim Vater zu lernen. Oft aber entwischten die lustigen Augen dem Buch und schauten nach dem Schatten der Blätter, die im Sonnenschein am Boden sich zierlich hin- und herbewegten.
»Dori«, sagte eilig die Mutter, »weißt du, wo das Bild ist vom Meeresstrand aus des Vaters Heimat? Wo ist es wohl hingekommen?«
»Das habe ich gar nie gesehen«, entgegnete Dori. »Ist es schön? Wie sieht es aus?«
»Ach, es ist ja wahr, du warst noch nicht einmal am Leben, als er mir's gab. Wo muß ich es nun suchen? Geh du schnell zur alten Maja hinüber und bitte sie, daß sie mir zum Doktor nach Pallanza hinuntergehe. Sie soll doch bald herüberkommen, daß ich noch mit ihr reden kann!«
Dori lief hinaus. Die alte Maja wohnte noch etwas höher am Bergabhang im uralten Häuschen, das recht schwarz ausgesehen hätte, wäre es nicht um und um von Weinreben und anderem grünen Laubwerk ganz überdeckt gewesen. So sah es hübsch und lustig aus, und die hölzerne Galerie, um die sich die grünen und die braunen Blätterranken wanden, war besonders zierlich anzusehen und Doris ganze Freude. Wie oft schon hatte sie dort bei der alten Maja gesessen und ihren wunderbaren Geschichten zugehört, während die dichten Blätterranken sie vor der Sonne schützten und immerfort ein geheimnisvolles Flüstern hören ließen, das wie zu den Geschichten gehörte. Die alte Maja war Doris ganz besondere Freundin. Sie hatte auch das Kind wie eine Großmutter besorgt als es zur Welt kam, und wie eine Mutter die junge, fremde Frau gepflegt, die unten im Felsenhause lag und keinen Menschen kannte als nur sie, die alte Nachbarin.
Auch bei Maja ging es zu ebener Erde ins Häuschen hinein; die Tür stand weit offen. Dori rannte hinein. Schon im Vorraum stand die alte Maja und hackte ihre Holzstöckchen kurz, die auf dem kleinen Herd nebenan den täglichen Mais zu kochen verwendet werden sollten. Dori richtete schnell ihren Auftrag aus.
»Das ist nichts Gutes!« sagte die Alte, den Kopf schüttelnd. »Das tun sie nicht leicht. Gleich komm' ich mit dir.«
Dori schaute gerne dem Getreibe der Alten zu, wie sie ihr graues Tuch um den Kopf band und eine saubere Schürze aus dem Schrank herausholte und dann noch die breiten Schuhe anzog. Jetzt holte sie den großen Korb vom Gestell herunter; er sah ziemlich zerfetzt aus. Die Alte schaute ihn bedauerlich an: »Man sollte einmal einen neuen haben«, sagte sie seufzend.
»Das hast du schon vor einem Jahre gesagt, Maja, als du die Trauben in dem Korb holtest unten beim alten Turm«, bemerkte Dori.
»Das hab' ich gewiß getan«, bestätigte die Alte, »vor einem Jahr und vor zweien schon hab' ich's gesagt. Aber siehst du, erst kommt's ans Notwendigste bei mir und dann ans andere, und an den Korb ist es bis jetzt noch nicht gekommen.«
Dorothea ging in voller Unruhe von einem Raum in den anderen, als die beiden bei ihr eintraten.
Sie erklärte nun der teilnehmenden Maja, wie der Zustand ihres Mannes sei und was sie den Arzt fragen sollte, wenn er heute den Kranken nicht mehr besuchen könnte. Dann teilte sie jammernd der alten Bekannten mit, daß der Kranke so sehr nach einem Bilde verlange, das seine Heimat darstelle und das sie nicht mehr finden könne, und fragte, ob Maja nicht irgendeinen Laden in Pallanza wisse, wo man ein solches Bild vielleicht finden könnte. Die Alte meinte, das werde wohl möglich sein, sie wollte nachfragen, nur wüßte sie nicht recht, was es sein müßte. »Lauf mit, Dori, daß die Maja keine Zeit verliert, und frag recht nach, du weißt ja schon, Bilder vom Nordseestrand mußt du begehren. Ach, vielleicht ist doch etwas zu finden.«
Dori zog gern aus mit der alten Maja. Die Sonne stand schon im Westen über dem Motterone. Der Felspfad nach Suna hinunter lag weithin wie vergoldet von ihren Strahlen; der alte Turm am Wege war nicht grau wie sonst, er stand in einem rosigen Licht und Scharen von zwitschernden Vögeln schwirrten oben darüber hin. Hier stand Dori einen Augenblick still. »Dort vorn am Turm hast du mit der Maria gearbeitet, und ich habe euch zugeschaut, und die großen, blauen Trauben hingen überall herunter, so viele, viele. Arbeitest du nicht mehr dort, Maja?« fragte das Kind.
»Ja du gutes Kind, wenn du wüßtest, wie gern ich es täte«, entgegnete die Alte mit einem tiefen Seufzers »Ja, das war noch andere Zeit, da die Maria so frisch und gesund war und wir dort miteinander im Weinberg so schöne Arbeit hatten. Nun liegt sie so krank, und die kleinen Kinder müssen gepflegt sein, und ihr Mann, der Steinhauer, ist auch halbkrank vor Kummer und Sorge. Manchmal mein' ich, es geht nicht mehr weiter, ich weiß mir nicht mehr zu helfen.«
»Sag du es nur meinem Vater, er hilft dir schon«, sagte Dori zuversichtlich.
»Ach, und dein guter Vater ist nun auch krank«, jammerte die alte Maja, »wer wird uns allen helfen! Ach, wer wird uns helfen?« stöhnte die Alte noch einmal.
Nun waren die beiden unten in Suna angelangt und auf der trockenen, glatten Landstraße ging es schnell gegen Pallanza zu. Einmal mußte aber Maja noch stille stehn. Unten am See klopften die Steinhauer auf den Felsplatten herum, daß es weithin hallte. »Dort ist der Platz, wo sonst der Beppo mitmacht«, sagte die Alte, auf eine Stelle hindeutend, wo eine Menge von Steinhauern die harten Steinmassen bearbeiteten. »Er ist so brav und arbeitsam, aber das Leid erdrückt ihn fast. Jetzt ist er oben und pflegt seine kranke Frau, die Maria und die armen kleinen Kinder. Ach, alle die armen kleinen Kinder überall herum! Wer soll allen helfen!«
»Sind viele überall herum?« fragte Don aufmerksam.
»Die ganze Welt voll«, sagte sie aufseufzend. Das machte einen tiefen Eindruck auf Dori. Bei der offenen Halle in Pallanza angelangt, wo die Frauen mit den Fruchtkörben saßen, sagte Maja: »Sieh, hier gehst du die Straße hinauf, links ist der Laden mit den Bildern. Ich muß noch ein wenig weiter. Kommst du zurück, so wart mir hier bei den Frauen.«
Dori lief die Gasse hinauf. Aber noch war Maja nicht weit über den Kirchenplatz hinausgekommen, so hörte sie hinter sich rufen: »Wart, Maja, wart mir ein wenig!« Es war Dori. Keuchend berichtete das Kind, der Herr im Laden habe gesagt, das sei nichts, was es wolle, und kein Mensch habe so etwas in ganz Pallanza, und dann habe er ihm durchaus Karten verkaufen wollen mit Rosen und Veilchen darauf. Dann sei es gleich fortgelaufen. »Was kann ich nun tun, Maja? Die Mutter hat gesagt, der Vater hätte so gern das Bild!«
Die Alte wußte immer einen guten Rat. »Ich weiß etwas«, sagte sie, »lauf zum großen Hotel hinaus, du weißt, dort am See. Da hängen alle Wände voll von solchen Sachen, es wird wohl etwas da sein, das der Mutter recht ist. Dort kannst du mir warten, ich will dich an der Tür abholen.«
Dori lief eilig davon. In den weiten Korridor im großen Hotel eingetreten, schaute das Kind suchend um sich; da waren überall der Türen so viele, daß es gar nicht wußte, nach welcher Seite es sich wenden sollte. Nun kam ein Kellner dahergeschritten und fragte nach des Kindes Begehr. Es tat seine Frage an ihn, ob nicht ein Bild im Hause hänge, wo man den Nordseestrand sehen könne. Der Kellner lief laut lachend einer Tür zu und verschwand. Jetzt trat aus derselben Tür ein kleiner, dürrer Mann, der sah aber gar nicht aus, als ob er lachen wollte. »Was ist das für dummes Zeug!« fuhr er Dori mit lauter Stimme an. »Wer schickt dich in ein Haus wie dieses hier ist, um lächerliche Fragen zu stellen? Was soll das heißen?« Das Kind war so überrascht und erschrocken über die zornige Anrede, daß es am liebsten gleich davongelaufen wäre. Vor Furcht blieb es aber unbeweglich stehn und sagte kein Wort. In diesem Augenblick kam ein Herr die Treppe herunter und wollte aus der Haustür treten. Der zornige Mann machte ganz untertänig Platz und schob Dori von der Tür weg. Aber das Kind hatte den Herrn mit den weißen Haaren schon erkannt. Es stürzte wie auf einen Retter auf ihn zu und hielt seine Hand fest. Erst jetzt erkannte der alte Herr das Kind. »Na, das ist ja unsere kleine Freundin von Cavandone! Grüß Gott!« sagte er, Dori freundlich auf die Schulter klopfend. »Du wolltest wohl meine Tochter besuchen?«
»O nein, aber ja, ich will sie gern besuchen«, änderte das Kind schnell seine Rede, nur schon um den Blicken des zornigen Mannes zu entfliehn, die zwar in diesem Augenblick mehr mit Neugierde, als mit Zorn auf ihm ruhten.
»Komm mit mir!« sagte der alte Herr freundlich und führte Dori die Treppe hinauf. Dann öffnete er eine Tür und hieß Dori in das große Zimmer eintreten. Auf einem schneeweißen Bett am Fenster lag das kranke Fräulein und sah fast so weiß aus, wie die Kissen, an die sie sich lehnte. Sie streckte sogleich Dori ihre Hand entgegen. »So kommst du, mir einen Besuch zu machen, Dori? Wie hast du mich denn gefunden?« fragte sie, dem Kinde den Lehnstuhl an ihrem Bett als Sitz anweisend.
Dori erzählte nun, wie ihr Vater krank geworden und welchen großen Wunsch er hatte, auch welchen Rat die alte Maja ihr gegeben, um zu dem Bilde zu gelangen.
Herr von Aschen lachte herzlich. Aber das Fräulein wollte so gerne dem kranken Vater und auch dem Kinde die Freude machen, wenn es möglich wäre. »Ach Väterchen«, sagte sie bittend, »würdest du nicht in meinen Blättern nachsehn, ob nicht eine der Skizzen, die ich in unserm Norden gemacht, damals auf Borkum oder bei den Halligen oder am Strande bei Sylt, darunter ist, vielleicht wäre etwas davon zu gebrauchen.«
Der Vater schüttelte ein wenig zweifelnd den Kopf, er wollte aber gern dem Töchterchen den Gefallen tun. Als er das Zimmer verlassen hatte, fragte das Fräulein Dori, was denn ihrem Vater fehle, ob er sehr krank sei. Dori wußte nicht recht Bescheid. Die Mutter hatte gesagt, er sei sehr schwach und habe Fieber. »Und Sie sind auch so krank, wenn Sie im Bett liegen müssen«, sagte Dori ganz mitleidig.
»Ja, das bin ich, ich weiß es recht gut«, entgegnete die Kranke nachdenklich.
»Wollen Sie nicht auch den Doktor kommen lassen, daß er Ihnen helfe?« meinte Dori gleich in hilfreicher Weise.
Die Kranke lächelte ein wenig. »Er kommt wohl, aber er kann mir nicht helfen«, sagte sie leise, aber mit so überzeugtem Ton, daß Dori sie erschrocken anblickte. »Aber der liebe Gott kann mir noch helfen, siehst du, Dori, und darüber bin ich so froh, daß ich so sicher weiß, er hat mich wohl so lieb wie mein Vater, er will mich nur glücklich machen, ich muß nur seinen Willen annehmen. So sage ich immer wieder zu ihm:
›Nimm meine Hand!
Wird mich die deine leiten,
Geht's in ein selig Land!‹
Und dann wird es mir wieder so sicher zumut und so wohl! Und ich denke, wenn ich es nur meinem lieben Vater recht sagen könnte, daß es ihm auch wohl machen würde, aber er wird immer noch so traurig, wenn ich davon sprechen will!« Eben trat der gute Vater ein und legte mehrere große Blätter auf das Bett der Tochter nieder. Sie überschaute die Malereien. Schnell hatte sie gewählt. Sie hielt Dori das Blatt hin. »Glaubst du, daß das etwas ist, das den Vater freuen wird?« fragte sie.
Das Kind schaute auf die großen, grauen Wellen, die sich unter dem grauen Himmel aufbäumten und sagte etwas zweifelhaft: »Ich weiß nicht.«
»Nimm es nur mit«, fuhr das Fräulein fort, das Blatt mit dem großen Papier umwickelnd, das der Vater ihr reichte, »und wenn es deinem Vater Freude macht, so soll er es nur behalten. Wenn du es dann etwa ansiehst, so denkst du dabei an mich, das freut mich. Willst du auch bald einmal wiederkommen und uns sagen, wie es dem Vater geht?«
Das Kind versprach, so zu tun, und dankte vielmals für das Geschenk an den Vater. »Und wenn ich komme, will ich auch noch Rosen bringen«, setzte es hinzu, denn es war ihm nicht entgangen, daß die drei Rosen, die es dem Fräulein und ihrem Vater auf dem Weg zur alten Maja hinauf geschenkt hatte, in einer kleinen Vase auf dem Tischchen am Bett der Kranken standen und noch ganz schön aussahen.
Herr von Aschen nahm jetzt das Kind väterlich bei der Hand und führte es bis vors Haus hinunter. Er wollte wohl damit die Begegnungen mit all den Kellnern im großen Korridor dem Kinde ersparen.
Die alte Maja hatte schon seit einiger Zeit draußen gewartet. Die Nachfrage im Hotel hatte länger gedauert, als sie erwartet hatte. Die Sonne war schon hinter den Höhen des Motterone verschwunden, der ganze Himmel leuchtete wie feuriges Gold über dem Gebirge bis weit hin gegen die Schneegipfel im Westen.
»Sieh, sieh, wie schön!« rief Dori aus. »Du bist selbst wie ein Heiligenbild in der Kirche, ganz goldig und strahlend. Steh still, Maja, steh still! Sieh hinter dir die Kirche, wie rot und glühend, und die großen Bäume dort im Garten haben ganz goldene Blätter, sieh, sieh!«
»Was du auch sagst, Dori, eine sündige, alte, runzlige Frau ein Heiligenbild!« gab die Alte zurück, immer weiter gehend, »du könntest dich noch versündigen. Komm! Komm! Wir müssen machen, daß wir heimkommen, der Vater wartet, ich habe eine Arznei.«
Das Kind lief nach, aber von Zeit zu Zeit stand es wieder still und schaute zurück und hinüber, wo der ganze, lichte Abendhimmel vor ihm lag. Noch waren sie nicht am Berg angekommen. Die Alte mahnte immer wieder: »Komm! Komm! Wir müssen weiter!« Nun ging es von der Straße ab, den Felsenweg hinan.
»O der Turm, Maja, sieh den Turm!« schrie Dori auf, »er ist ganz neu, o wie er leuchtet!« Ein rosiger Schimmer umfloß das alte Gemäuer. Hoch oben über dem verfallenen Gestein jubelten die Vögel im goldenen Lichte. Von den grünglänzenden Sträuchern, die sich am rosigen Turm emporrankten, trug der leise Abendwind einen würzigen Duft auf den Fußpfad herüber. Dori lief dem Turm zu, in den Acker hinein, wo die Maisstauden grünten und die Weinreben sich um die Bäume schlangen. »Dies ist dein Acker, Maja, komm herein!« rief Dori hinüber; »komm sieh, wie's leuchtet darin!«
»Mein Acker, du lieber Gott, mein Acker!« wiederholte die Alte, »mein war er nie und pachten kann ich ihn auch nicht mehr. Ja, könnt' ich mit den goldigen Rebenblättern dort bezahlen, so hätte ich mein Äckerchen wieder!« Sie ging weiter. Das Kind, selbst von lichtem Gold umflossen, blieb staunend und sinnend unter den hängenden Weinranken stehn, dem leise verglimmenden Abendhimmel zugekehrt. Die Alte war schon oben bei der Kapelle angelangt, als Dori ihr nachgerannt kam und nun ohne Halt dem Felsenhause bei Cavandone zueilte.
Dorothea, die lange schon nach den Ankommenden ausgeschaut hatte, kam ihnen entgegengelaufen. »So hast du wirklich ein solches Bild gefunden!« rief sie freudig aus, als Dori ihr die Rolle hinhielt.
»Ja, aber es freut vielleicht den Vater nicht so besonders, es ist nicht so schön, wie es bei uns ist«, meinte das Kind.
Die Mutter war ins Haus eingetreten und hatte das Blatt aufgerollt. »O das wird ihm Freude machen; gewiß, davon hat er mir erzählt«, rief sie hocherfreut aus. »Es ist nicht wie sein Bild war, aber das muß er kennen! Das wird er sicher kennen.«
Maja gab nun ihren Bericht ab, daß der Doktor erst morgen kommen könne und überreichte Dorothea die mitgebrachte Arzneiflasche. »So helf Gott, ihm und allen armen Leidenden!« wünschte die Alte und ging.
Dorothea holte ein Schüsselchen herein, legte ein kleines, rundes Brötchen daneben und sagte: »Du mußt dein Abendessen allein einnehmen, Dori, ich muß zum Vater hinüber. Nachher mußt du ganz still zu Bette gehen.«
»Aber ich muß doch dem Vater gute Nacht sagen«, wandte Dori ein.
»Ja, leise herantreten kannst du wohl und ihm einen Kuß geben, aber du mußt nicht sprechen«, warnte die Mutter, »jeder Ton schreckt ihn auf, er schlummert so leise.«
Sobald die Mutter sich entfernt hatte, ergriff Dori das Schüsselchen und trug es durch die offene Tür auf die Terrasse hinaus. Dort stand ein kleiner Tisch, von Weidenstäben geflochten, der war so leicht, daß Dori ihn ohne Mühe an die Brüstung heranschob, das Weidenstühlchen davor hin, und hier, wo der Abendwind lieblich durch das Weinlaub säuselte, und von drüben der lichte Abendstern hereinschaute, war es prächtig, den Milchbrei mit dem weißen Brötchen zu genießen. So saß Dori und ließ sich's wohl sein, hörte den flüsternden Blättern zu, schaute nach dem immer heller flimmernden Abendstern hinüber, der nun auf die dunkeln Linien des Motterone einen leisen Schimmer warf, und vergaß alles andere, bis eine ängstliche Stimme drinnen in der völlig dunkeln Stube ertönte: »Dori! Dori, wo bist du denn?«
Das Kind rannte hinein: »Nur auf der Terrasse, Mutter«, sagte es beruhigend, »kann ich jetzt zum Vater kommen?«
»Komm, es ist spät, ich dachte, du liegest lang schon in deinem Bett, dort sah ich nach dir und fand dich nicht. Dein Vater ist erwacht und wußte, daß du ihm nicht gute Nacht gesagt hattest. Das tat ihm leid.« Damit führte die Mutter Dori an das Lager des Kranken. Das Kind umschlang mit beiden Armen den Vater, schmiegte sich an ihn und liebkoste ihn.
»Dori, mein Kind«, sagte er zärtlich, »du hast so oft mir die Freude ins Herz gesungen, willst du es noch einmal tun?«
Hocherfreut wollte Dori gleich ihr Lied von der Freude und den Rosen anstimmen, denn sie dachte, das sei, was der Vater hören möchte. Aber die Mutter wehrte schnell ab, sie hatte das steigende Fieber des Kranken wohl bemerkt. Sie sagte, Dori sollte dem Vater morgen singen und nun zur Ruhe gehn, damit er auch zur Ruhe komme. Aber der Vater hielt noch eine Weile die Hand des Kindes fest, bevor er es von sich ließ. Dann sagte er: »So geh, aber komm am Morgen bald wieder, mein Sonnenschein.«
Als Dori das Zimmer verlassen hatte, fuhr er fort: »Wir wollen das Kind hüten, Dorothea, daß es von keiner unreinen Luft angeweht werde. Und wenn nun die Knospe aufgeht, da wollen wir alles tun dafür, daß nur der Himmel und Gottes Sonne hineinschauen und der Erdenstaub nicht eindringe und sie zerstöre. Alles Schöne und Gute und Große soll das Kind kennen lernen, ich will es in allem unterrichten, das ich kenne, und meine Heimat soll es sehen und auch die deine. Es weitet die Gedanken, auch anderer Menschen Leben kennen zu lernen. Nicht wahr, Dorothea, das ist auch dein Sinn, dazu willst du helfen?«
Dorothea versicherte ihrem Mann, daß sie ja in allem mit ihm übereinstimme, aber sie meinte, nun sollte er nicht mehr nachsinnen, das rege ihn auf, er müßte nun ruhen. Und Dorothea bettete ihren Mann sorglich zurecht, setzte sich dann ganz still an sein Lager und freute sich, als sie bei dem matten Schimmer der Nachtlampe erkennen konnte, daß er seine Augen schloß!