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Achtzehntes Kapitel

Der junge Herr hatte mit der Hülle seines Onkels das Tal verlassen. Die Villa stand geschlossen. Dori mochte den Weg, der ihr vor allen lieb gewesen, nicht mehr betreten, er führte ja an dem geschlossenen Hause vorüber, das öde und leer aussah und in Doris Herzen ein tiefes Leid erweckte. Es war ja überhaupt so öde und leer geworden, daß in Dori oft ein Gefühl aufstieg, als gehe alles Leben für sie zu Ende, so wie draußen alles Leben dem Ende zuging. Die Blumen waren verwelkt und die Blätter fielen von allen Bäumen.

In Herrn von Aschens Nachlaß hatte sich ein geschlossener Brief an Dori vorgefunden, der ihr übersandt worden war. Er enthielt die herzlichsten Worte des Dankes für alles, was sie für den Kranken gewesen war, das er als nie zu vergeltende Wohltaten von ihr empfangen habe. Was er ihr zurücklassen möchte, das tue er in dem Sinne, daß Dori ihrem guten Herzen folgen und andern wohltun könne, wie und wo es ihr Freude machen würde. Ein ansehnliches Wertpapier war beigelegt. Dori hatte die Worte, die mit zitternder Hand sichtlich in den letzten Tagen des Geschiedenen geschrieben waren, mit nassen Augen an ihre Lippen gedrückt. Das Papier hatte sie weggelegt.

Dori hatte Melchiors Aufforderung nicht vergessen; aber ihr Herz und all ihre Gedanken waren noch so mit Herrn von Aschen beschäftigt, daß sie meinte, sie könnte für keinen andern mehr recht sorgen, nun sie es für ihn nicht mehr tun könnte. Zwischendurch sah sie plötzlich die forschenden Augen des kleinen Kranken wie mit einem vorwurfsvollen Blick auf sich gerichtet, so als wollte er sagen: Warum kommst du denn nicht? Er hatte sie ja selbst damals im Garten dazu aufgefordert, zu ihm zu kommen. Das hatte er freilich wohl längst vergessen und ihre Person dazu. Aber sie wollte doch nun hingehen, schon um Melchiors willen, der sie schon angemeldet hatte und es ungern sehen würde, wenn sie zu lange ausbliebe. Für ihn wollte sie gern tun, was ihm lieb war, hatte er sie doch zu Herrn von Aschen gebracht.

An einem der letzten Septembertage wanderte Dori das Tal hinauf, dem Kurhaus zu. Ein eisiger Wind blies ihr entgegen und jagte pfeifend über die kahlen Wiesen hin. Auf den Bergen lagen dichte graue Wolken. Will denn schon der Winter kommen? fragte sich Dori schauernd. Im Kurhaus angekommen, ließ sie sich nach Melchiors Anweisung bei Frau Lichtenstern melden.

Sie wurde ins Zimmer der Dame geführt. Diese saß vor einem großen Haufen beschriebener Papiere, welche sie ordnete. »Einen Augenblick warten«, sagte sie, indem sie in ihrer Beschäftigung fortfuhr.

Das Zimmer war sehr groß. Weit drüben am andern Ende stand der kleine Rollwagen mit dem kranken Knaben. Er mußte geschlafen oder sonst tief drinnen gelegen haben, Dori hatte ihn zuerst nicht erblickt.

Jetzt fuhr er plötzlich in die Höhe. »Bist du nun gekommen? Warum kamst du so lange nicht?« rief er Dori zu, »komm hier zu mir herüber, komm!« Er winkte Dori mit großer Lebhaftigkeit zu sich heran.

Die Dame hatte sich umgewandt. »Wie kannst du so unpassend zu einer Fremden sprechen, Willi«, sagte sie tadelnd. »Und Sie, wollen Sie näher treten?«

»Sie ist keine Fremde, ich kenne sie gut«, rief der Kleine dazwischen, »ich habe ihr gesagt, sie soll zu mir kommen, sie gehört auch zu niemand.«

»Du schweigst, Willi, kein Wort mehr«, gebot die Dame in einer Weise, daß der Kleine unter die Decke kroch. »Sie sind mir empfohlen als vorzügliche Kranken- und Kinderpflegerin«, fuhr die Dame zu Dori gewandt fort. »Sind Sie geneigt, die Pflege dieses Knaben zu übernehmen, die wohl von längerer Dauer sein wird? Sein Zustand ist nicht heilbar. Meine Zeit ist so sehr in Anspruch genommen von ganz anders wichtiger Arbeit als Kinderpflege, wie Sie sehen können –«, die Dame deutete auf ihre mannigfachen Papiere, – »so daß ich einer Pflegerin für diesen Jungen bedarf, die ihn völlig übernimmt. Sind Sie dazu geneigt?«

»Ich verstehe nicht recht, wie die Dame das meint, daß ich den Jungen übernehmen soll«, entgegnete Dori.

»Sind Sie unabhängig?« warf die Dame hin.

Dori wußte abermals nicht recht, was mit der Frage gemeint war. »Ich lebe mit meiner Mutter und denke nicht daran, sie zu verlassen«, war ihre Antwort.

»Dann werden Sie die Persönlichkeit nicht sein, die mir notwendig ist«, bemerkte die Dame. »Ich muß in den nächsten Tagen nach Hause zurückkehren. Der Arzt hat mich aufgefordert, diesen Jungen für einige Jahre in ein wärmeres Klima zu versetzen, wo er sozusagen immer an der frischen Luft sein könnte. Ich suche eine Pflegerin, die lag vor ihren Augen. Aber die Mutter, was würde nun die Mutter sagen? Wenn der Jammer ausbrechen sollte und die Tränen! Jetzt fing eine große Angst an, Doris Herz zusammenzuschnüren. Sie stand an der Tür – einen Augenblick zögerte sie, nun machte sie auf.

Dorothea saß bei ihrer Arbeit. Sie hob den Kopf auf und schaute mit Staunen in die strahlenden Augen ihres Kindes. »Was ist's, Dori, was ist mit dir?« fragte sie lächelnd.

»Mutter, o fang nur nicht an zu weinen und zu jammern!« bat Dori, sie umschlingend, »ich möchte heim, Mutter, ich weiß wie, ich habe eine Arbeit. O, Mutter, komm doch mit mir heim! Wir wollen gehen, ehe der Winter wiederkommt. O, heimgehen, Mutter, wieder heim!«

Dorothea war ganz bleich geworden, aber sie weinte nicht. »Dori«, sagte sie mit einer Stimme, in der es wie Freude klang, »ich werde ja nicht jammern, wie oft habe ich heimlich selbst so gedacht; aber wie durfte ich es sagen! Und seit es so mit Niki Sami gegangen ist, habe ich ja hundertmal im stillen gedacht: Zurückkehren wäre das beste für dich und mich. Aber wie könnten wir das? Wir können nicht machen, wie wir wollen, Dori.«

Aber Dori jubelte laut auf. »Nun können wir, Mutter, nun ist alles gewonnen. Ich hatte ja nur die eine große Angst, du wolltest nicht mehr heim, weil hier deine Heimat war.«

»Ja war, Dori«, wiederholte die Mutter, »du sagst es recht. Ich bin so jung weggeführt worden von deinem Vater und mir war immer, als habe ich erst an seiner Seite zu leben angefangen, mit ihm und da, wo er war. Dann kamst du und warst daheim in dem sonnigen Land und ich mit dir. Und hier fühlte ich es bald, wie es war mit dir. Du bist nicht aus diesem Boden herausgewachsen, es ist so, als wärest du ein Kräutlein, das nicht hierher gehört, um zu gedeihen und seines Lebens froh zu werden. Du könntest dich nie hier daheim fühlen und deine Heimat nur kann meine Heimat sein. Aber immer muß ich wieder sagen: Wie sollte es sein können, Dori, daß wir zurückkehrten?«

Dori mußte erst dem Jubel ihres Herzens freien Lauf lassen, daß die Mutter mit ihr vollkommen übereinstimmte, daß ihr alle Angst darüber für alle Zeiten vom Herzen genommen war. Dann konnte sie endlich erzählen, wie sie zu dem Gedanken gekommen war, daß ihr bei den Worten der Dame gleich das Felsenhaus auf der sonnigen Höhe von Cavandone vor Augen gestanden habe, und daß der kleine Rollwagen nirgends auf Erden so schön im warmen Licht des Himmels hin- und hergestoßen werden könne, wie auf der Terrasse am sonnigen Felsenhaus. Nur der Gedanke an die Mutter hatte sie abhalten können, gleich alles so zu schildern, daß die Dame gewiß die Abreise sofort gewünscht hätte. Nun stiegen aber doch schwere Bedenken bei der Mutter auf, ob nicht zuviel gewagt werde, ein eigenes Haus zu verlassen, das vielleicht nicht verwertet werden konnte, und ein anderes wieder zu übernehmen, das doch große Ausgaben erforderte. Aber Dori ließ keine Sorge mehr aufkommen. Sie bewies der Mutter, daß die Dame wohl wisse, was sie übernehme, wenn sie für Jahre eine Pflegerin mit einem Kinde ins Ausland schicke. Dann sei doch etwas weniges von dem Hause hier auch zu beziehen, man könnte es doch auch verkaufen.

Dorothea ließ sich gern von ihren Befürchtungen abbringen, sie war nur zu froh, daß Dori so bestimmt und voller Zuversicht die Sache in die Hand nahm. Nun diese der Zustimmung der Mutter sicher war, sah sie keinen Grund mehr vor sich, warum sie die Dame noch länger auf Antwort warten lassen sollte, konnte sie selbst es ja auch kaum abwarten, alles festzusetzen, um die Rückkehr nach ihrer Heimat mit Gewißheit vor sich zu sehen. Wenn sie gleich noch einmal nach dem Kurhaus hinaufliefe? Dorothea meinte, morgen wäre es ja noch früh genug; aber das Heute war Dori sicherer. Sie lief. Eine übereinstimmendere Seele als Frau Lichtenstern hätte Dori für ihre Wünsche gar nicht finden können.

Die Dame, die diesmal im Gesellschaftssaal gesucht werden mußte, kam sofort herbeigelaufen und war hoch erfreut über Doris Mitteilungen. Daß da noch eine Mutter war, die mitreiste und mitlebte, befriedigte sie sehr. Sie machte nun gleich Dori einen Vorschlag, wie es mit ihren Bemühungen um den Jungen und sodann mit seiner und ihrer Lebensunterhaltung gehalten werden sollte. Dori ging erfreut auf alles ein, sie wußte, das konnte sie, denn die Berechnungen der Dame für den Lebensunterhalt waren sehr verschieden von denen, die sie selbst kannte, aber nicht zu ihrem Nachteil verschieden.

»So bliebe uns nur noch übrig, den Tag der Abreise festzusetzen«, meinte Frau Lichtenstern. »Was meinen Sie von heut in vier Tagen? Ich habe Eile, fortzukommen. Sie werden es einrichten, daß wir so reisen können.«

Doris Herz klopfte vor Wonne. In vier Tagen schon der sonnigen Heimat zu! Aber die Mutter? Dori sagte, für sie wäre noch viel zu besorgen, vielleicht würde die Mutter sich zu so schneller Abreise nicht entschließen können. Aber Frau Lichtenstern bewies unumstößlich, daß jeder Tag darüber hinaus zu viel wäre, daß plötzlich der Winter hier in den Bergen einbrechen könnte, so daß am Ende diese Bergpässe gar nicht mehr zu überschreiten wären und man den ganzen Winter durch in der Talenge lebendig eingemauert säße. Dori versprach, zu tun, was ihr möglich sei und wollte nur noch einige Anweisungen über die Behandlung ihres künftigen Zöglings haben. Aber Frau Lichtenstern ging nicht darauf ein. Sie sagte, schöne milde Luft und gesunde Kost sei die Hauptsache, das übrige werde die Intelligenz der Pflegerin ihr schon eingeben. Dann ging sie auf einige andere Gegenstände über, die Dori nicht zu besprechen verstand. So stand sie auf, um sich zu entfernen.

Dorothea war es geradezu, als wollte die Welt über ihrem Kopf zusammenfallen, als sie hörte, in vier Tagen sollte alles verpackt, besorgt und sie zur Reise bereit sein.

»Aber Dori, siehst du denn auch nicht ein, daß es völlig unmöglich ist!« jammerte sie. »Was meinst du denn auch! Alles das Hausgerät! Alle die großen Stücke, die man nicht mitnehmen kann. Das Haus selbst. Wie kannst du auch nur einen Augenblick an so etwas Unmögliches denken!«

Aber Dori sah keine Unmöglichkeit vor sich. »Laß mich nur machen, Mutter, in drei Tagen will ich mit allem fertig sein«, sagte sie zuversichtlich. »Die Sachen, die nicht mitgenommen werden, übergeben wir dem Melchior, der besorgt uns das besser als wir selbst. Wir könnten ja ein Jahr lang warten, bevor wir das Zeug losgeschlagen hätten. Das Haus übergeben wir ihm ebenfalls, er weiß besser, was damit zu machen ist, als wir es wüßten.«

»Aber die Nonna, die Verwandten, was wird die Nonna sagen! Was werden sie alle sagen! O wie wird alles noch kommen!« jammerte Dorothea wieder.

Dori ließ sich nicht entmutigen. Sie schlug vor, gleich zur Nonna zu gehen, ihr alles zu erklären und sie zu fragen, was mit dem Haus geschehen soll. Aber der Gedanke, welchen Eindruck der Entschluß bei der Nonna und den übrigen Verwandten hervorbringen würde, war für Dorothea das Schrecklichste. Erst mußte sie den Mut erlangen, das Geständnis des Vorhabens abzulegen.

Dori kannte die Mutter gut genug, um zu wissen, daß sie durchaus eine Zeit der ruhigen Vorbereitung bedürfe, um etwas auszuführen, das ihr einen solchen Schrecken einflößte. Sie setzte sich darum ganz fest an den Tisch hin, so als habe sie im Sinn, eine lange Zeit nicht wieder aufzustehen.

»Komm Mutter, heute bleiben wir noch ganz ruhig da, so als hätten wir gar nichts vor«, sagte sie, der Mutter einen Sitz neben sich zurecht machend, »ich habe dir ja auch noch viel mitzuteilen, vor allem noch die Verhandlungen mit Frau Lichtenstern.« Dori hatte den rechten Weg eingeschlagen. Über ihre Mitteilung der Vorschläge, welche die Dame gemacht, und Doris eifrigen Beweisen, wie aus diesen Mitteln in der alten Heimat ein herrliches Leben geführt werden könne, vergaß Dorothea die erschreckende Aussicht und kam weit darüber hinaus mit ihren Gedanken. Sie mußte ausrechnen, ob Doris Beweise richtig seien, ob es wirklich eine Möglichkeit wäre, das alte Leben wieder aufzunehmen. Es kam ihr selbst so schön vor, daß sie es kaum glauben konnte. »Aber das kann ich nicht begreifen«, fuhr Dori in ihren Mitteilungen fort, »daß Frau Lichtenstern mir durchaus keine Anweisungen geben wollte, wie ich den kleinen Jungen zu behandeln habe. Auf meine Frage danach erwiderte sie ganz kurz, die Behandlung des Kindes werde mir die eigene Vernunft eingeben, und sie sei eben jetzt sehr in Anspruch genommen durch die neuesten politischen Ereignisse, das europäische Gleichgewicht sei sehr bedroht. Kannst du denn begreifen, wie so etwas sein kann, daß eine Mutter, die ihr Kind von sich geben muß und dazu noch ein krankes, sich viel mehr darum kümmert, ob Europa das Gleichgewicht verloren hat, als darum, ob das Kind auch so behandelt wird, wie es sein Zustand erfordert?«

»Nein, nein, das begreif' ich nun schon nicht«, bestätigte Dorothea, »aber ich bin ja auch eine so einfache Frau, für mich waren ja mein Mann und mein Kind alles. Nun bedenk aber eine solche Frau, die so viel kennt und weiß, die muß ja so viel zu denken und zu wirken haben, so Großes, daß ich es nur gar nicht verstehe.«

»Ich meine, gerade eine Mutter müßte sich am meisten freuen, daß sie so viel kann und weiß, weil sie es ihren Kindern zugute kommen lassen kann und ihnen von klein auf immerfort das Beste geben kann, was es auf Erden gibt«, meinte Dori. »Wenn ich denke, welche Freude ich hatte, als ich sah, wie aus dem wilden Kätzchen von Marietta ein ganz nettes Menschenwesen sich entwickelte, nachdem es zu uns kam, etwas lernte und sah und hörte, wie man sein sollte, da meine ich, es müßte doch die allergrößte Freude für eine Mutter sein, aus ihren Kindern das Allerbeste zu machen, und wer selbst so viel ist, der hätte ja so viel zu geben. Ich meine, die Menschen fangen schon als ganz kleine Kinder an, das aufzunehmen und zu werden, was die sind, die ihnen am nächsten stehen und mit ihnen leben. Nun denk nur, Mutter, welch ein Unterschied für ein Kind das ist, wenn eine solche vorzügliche Frau ganz mit ihren Kindern lebt, so daß diese nur immer das Beste und Höchste sehen und hören, oder wenn die Kinder Leuten überlassen werden, die selbst nicht viel Gutes kennen und wissen. Ich weiß recht gut, was ich meinem Vater verdanke, dem ich nicht von der Seite kam, solang ich mich nur erinnern kann.«

»Wir können gewiß die Sache nicht so recht beurteilen, Dori«, meinte die Mutter, »es ist doch vielleicht etwas sehr Großes, wenn eine Frau solche Kenntnisse hat, daß sie Dinge beurteilen kann, von denen wir ja nicht einmal einen Begriff haben, was es sein könnte; ich einmal weiß nun gar nicht, was ein europäisches Gleichgewicht ist. Eine solche Frau kann vielleicht große Dinge ausführen, von denen wir gar nichts wissen, so daß wir vielleicht anders denken müßten, wenn wir etwas davon verstehen könnten.«

Dori war nicht so leicht zu überzeugen. Sie schüttelte den Kopf. »Ich glaube nun einmal, daß eine solche Frau doch nichts machen kann, daß Europa wieder ins Gleichgewicht kommt, wenn es einmal daraus gekommen ist; daß ihr aber die Kinder nicht aus dem Gleichgewicht kommen, kann sie sicher am besten verhüten und daran müßte ihr doch am besten gelegen sein. Sie hat selbst zuerst die Freude und den Gewinn davon und dann die andern Menschen auch und das ganze Land, und Europa bleibt gewiß so am allerbesten im Gleichgewicht.«

.

Es war Dori sehr daran gelegen, daß die Mutter heute recht früh sich zurückziehen möchte, denn morgen sollten doch die Zurüstungen zur Reise beginnen. Dazu müßte sie sich vorher erst recht ausruhen und kräftigen, meinte die Tochter.

Dorothea willigte nicht ungern ein, denn die ganze Sache lag wie ein unübersteiglicher Berg vor ihr. Sobald sie sich zurückgezogen hatte und Dori allein war, begann sie, alles Bewegliche im Haus zusammenzutragen, zu verpacken und die Kisten zu füllen. Jedes Ding kam wieder an seinen Ort darin, es war ja noch nicht lange her, seit die ganze Verpackung zum erstenmal stattgefunden hatte. Als das erste Morgenlicht den Himmel über dem dunkeln Pisoc rötete, hatte Dori ihre Arbeit vollendet, nur die letzten kleinen Dinge, die vorweg noch gebraucht werden mußten, waren noch zu sehen.

Als Dorothea früher als gewöhnlich in die Stube trat, um zur Zeit an die große Unternehmung zu kommen, schaute sie voller Erstaunen um sich. »Was bedeutet das, Dori? wo ist denn alles hingekommen, das hier in allen Schubladen lag?« fragte sie endlich in ängstlicher Weise.

»Das ist alles in die Koffer hineingekommen und bedeutet unsere Abreise, Mutter«, war Doris fröhliche Antwort. »Es ist alles verpackt, du hast nur deinen Kaffee zu trinken, der ist auch bereit und nachher gehen wir gleich und nehmen Abschied von der Nonna und den Basen.«

Nun stieg der große Schrecken plötzlich wieder vor Dorothea auf, aber Dori ließ ihr keine Zeit, sich davon umwerfen zu lassen. Sie begann zu schildern, wie die verschiedenen Dinge gepackt seien, was die Gedanken der Mutter gleich in hohem Grade in Anspruch nahm, und sobald sie ihren Kaffee getrunken und sich vom Tisch erhoben hatte, um noch einen prüfenden Blick auf die nächtliche Verpackung zu werfen, erfaßte Dori den Arm der Mutter und sagte überzeugend: »Nun ist das allerbeste, wir gehen gleich zur Nonna, dann haben wir alles Schwere hinter uns und du wirst sehen, wie du dich am Kommenden freuen wirst.«

Dorothea ließ sich unwillkürlich mit fortziehen, und ehe sie sich recht besann, stand sie schon mit Dori an der Tür der Nonna und trat ein.

Ohne Zögern begann Dori in fließender Weise zu erzählen, wie sich ihr unerwartet eine Aufgabe geboten habe, die ihre baldige Rückkehr in die alte Heimat erfordere, und wie schon alles zu der Reise vorbereitet sei. Die Mutter habe freundlich eingewilligt, mitzukommen, denn ohne sie könnte die Sache nicht ausgeführt werden.

Die Nonna hörte schweigend zu, auch als Dori zu Ende war, saß sie noch schweigend da, sie schien gar nicht reden zu wollen. Endlich sagte sie langsam: »Wo kein Rat gewünscht wird, ist keiner zu geben. Anständig wird es sein, die Verwandten in Kenntnis zu setzen, daß man ein Haus verläßt, das sie zu übernehmen haben, wenn diejenigen, die ein solches für nichts achten, nicht an den Bettelstab kommen wollen. Geh, hol die Basen herauf, Dori.«

»Ich denke nicht, daß wir die Hilfe brauchen«, entgegnete Dori rasch; aber die Mutter machte ihr die angstvollsten Zeichen, daß sie schweigen und gehen solle. Dori ging, kam aber gleich wieder, die Basen folgten ihr. Erst blieb alles still, eines sah das andere an.

»Wir sind geholt worden, Nonna«, sagte Frau Kathrine jetzt steif, »warum wissen wir nicht.«

»Berichte, was zu berichten ist, es ist deine Sache«, gebot die Nonna in kurzem Ton, indem sie sich zu Dori wandte. »Es scheint, deine Mutter will nicht reden, an mir ist es nicht!« Dori gehorchte und kam mit ihrer Mitteilung rasch zu Ende.

Jetzt fuhr Marie Lene heraus: »Das habe ich ja immer gesagt, wenn eine aufgewachsen ist wie eine Zigeunerin, so konnte es nicht anders kommen. Man hat sie nur zu gut betten wollen, das ist der Dank; ein geordnetes Leben begehrt sie nicht, so soll sie gehen und wieder Zwiebeln und Maiskolben essen und Kauderwelsch reden. Von der Mutter will ich nichts sagen, wer nachgibt wie ein Schilfrohr, verliert das Regiment.«

»Ich will nur eins sagen«, bemerkte jetzt Frau Kathrine zurückhaltend, »wer seinen Verwandten den Rücken kehrt, weil ihn sein Hochmütchen sticht, der soll sich dann nur nicht einbilden, daß die Verwandten ihm gleich wieder das Gesicht zuwenden und ihn ins Fett und in die Wolle setzen, wenn das Elend da ist, in das der Hochmut führt.«

»Ich meine, wir können nun gehen«, sagte Dori aufstehend und die Mutter anblickend, die schreckensbleich dasaß, weniger noch um deswillen, was schon gesprochen worden, als um deswillen, was alles noch kommen könnte; denn Dori machte Augen, als fürchtete sie sich vor gar nichts. Aber nun ging es schnell, man gab sich die Hände, niemand sprach mehr ein Wort, und Dorothea stand auf der Straße mit ihrem Kinde und ging der hölzernen Brücke zu, sie wußte vor innerer Freude nicht, wie es so schnell gekommen war. Sie atmete tief auf. Es war ihr, als sei die Luft um das Doppelte leichter geworden, seit sie das Haus hinter der Brücke im Rücken hatte. Leicht wie ein Reh stieg sie neben ihrem Kinde die Höhe hinan und schaute von Zeit zu Zeit auf die grünweißen Wellen des dahinrauschenden Inn hinunter.

»Aber Dori, wohin gehen wir denn?« sagte sie, plötzlich stille stehend, »das ist ja gar nicht unser Weg nach Haus.«

»Nein, das schon nicht, aber komm nur, Mutter«, bat Dori, »droben kommt das Blumenfeld, das möchte ich noch einmal sehen. Es war doch auch schön hier zur Zeit der wilden Rosen und wenn ich nach den roten Hennenaugen und den blauen Enzianen hier herauflief. Dann sah ich so oft den Herrn Doktor drüben auf dem Waldweg eilig dahinschreiten. Man konnte ihn gleich unter allen erkennen mit seinem raschen Schritt und der hohen, schlanken Gestalt. Wie viel habe ich ihm zu danken! Wir werden wohl im Leben nie mehr etwas von ihm hören. Denkst du nicht auch so, Mutter?«

»Doch, gewiß denk' ich auch so«, entgegnete diese, »wenn er auch wieder hierher kommt, wer wird uns etwas von ihm berichten? Aber Dori, ich mag nicht mehr diesen Weg zurückgehen, wir müßten ja noch einmal am Haus der Nonna vorüber.«

»Das habe ich gar nicht im Sinn zu tun, Mutter«, versicherte Dori. »Wir gehen nachher dort beim Waldweg über den schmalen Steg zur Straße hinüber, dann kannst du zurückkehren und ich gehe weiter nach Ardez hinauf.« Dorothea blieb erschrocken mitten auf dem Wege stehen.

»Du wirst doch nicht so etwas tun wollen, Dori! Was würde man doch von dir sagen, und was würden sie beide in Ardez denken, der Alte und der Junge!«

»Der Pate war von allen Verwandten am freundlichsten zu mir, und ich will nicht fortgehen, ohne von ihm Abschied zu nehmen. Ich will nicht so fort, als ob etwas zwischen uns wäre, der Pate ist mir lieb. Niki Sami wird sich keine Gedanken darüber machen, zusammen kommen wir nicht, er ist nicht daheim. Wie wir hinaus gingen, hörte ich die Base Kathrine zur Nonna sagen, Niki Sami sei heute früh zur Hochzeit seines Kameraden nach Zernez hinaufgegangen, da werde er wohl bemerken, daß es noch Mädchen im Engadin gebe, die keinen andern nachstehen.«

»Mach wie du meinst, aber ungewohnte Sachen führst du immer aus, ich wäre mein Leben lang nicht mehr nach Ardez gegangen an deiner Stelle«, versicherte die Mutter.

Nun waren sie oben auf der Straße angekommen und trennten sich. Dori wanderte rasch gegen Ardez hinauf.

Der Pate schaute verwundert über sein Pfeifchen hin, als er die Eintretende erkannte. »So, so, und was bringt dich zu uns?« sagte er, Doris dargebotene Hand drückend. »Komm, sitz zu mir hin, da«, er deutete neben sich auf die Ofenbank. »Ich hätte es nicht gedacht, aber wenn es dich reut, so sag mir's nur grad' heraus, ich höre es nicht ungern.«

»Nein, nein, Pate, so ist's nicht gemeint«, sagte Dori lebhaft und erzählte nun rasch, was sie vorhabe und daß sie nicht fortreisen könnte, ohne von ihm Abschied zu nehmen.

Der Pate schwieg eine Weile, dann sagte er: »Was ich meinte, wäre mir lieber gewesen, aber ich hätte es auch nicht getan. Wenn es denn so sein muß, so freut es mich, daß du mir noch die Hand geben wolltest, es ist vielleicht das letzte Mal, daß wir zusammen kommen.«

Davon wollte nun Dori durchaus nichts hören. »Im Gegenteil, Pate«, rief sie eifrig aus, »ich komme nicht nur um des Abschiednehmens willen, sondern auch, weil ich noch ein Versprechen von Euch haben will. Bei uns dort über dem Berg ist es so schön, daß Ihr mich durchaus einmal besuchen müßt. Ihr müßt mit mir auf der sonnigen Terrasse sitzen und von unseren blauen Trauben mit mir essen, die wir dort herunternehmen können, ohne aufzustehen. Ihr müßt es so bequem haben und so gemütlich, daß es Euch sicher wohl sein muß bei uns. Bis Ihr mir das in die Hand versprecht, Pate, daß Ihr sicher kommt, laß ich Euch gar nicht mehr los.« Und Dori hielt dem Paten beide Hände fest, bis er einschlagen wollte.

Er lächelte ein wenig, aber die Augen wurden ihm ganz naß dazu. »So partout hat mich noch kein Mensch bei sich haben wollen, mein Leben lang nicht. Aber Dori, du bist nicht schlau«, fügte er, seine Augen mit dem Ellbogen wischend, hinzu, denn die Hände hatte er nicht frei. »Wenn du bei deiner Drohung bleibst, so versprech' ich sicher nicht, daß ich die Mühe haben will, über den Berg zu klettern, ich kann dich näher finden.«

Dori lachte und ließ los. »Nein, ich will ja nicht drohen, Pate, aber versprecht mir's doch«, bat sie, »daß ich doch noch eine rechte Freude im Herzen mit mir aus dem Engadin fortnehme.«

»Ist dir's so, dann komm! da, ich verspreche.« Und der Alte schlug klatschend in Doris Hand ein und drückte diese, daß sie krachte.

Nun stand Dori freudestrahlend auf. »Ich bin so froh, daß ich so freundlich aus diesem Hause wegkomme, es hätte mir doch leid getan, wär' es anders. Nun grüßt mir noch freundlich den Niki Sami und hier lasse ich ihm zur Erinnerung zurück, was ich ihm einmal versprochen habe, für ihn zu verfertigen.« Dori legte einen schimmernden Geldbeutel von grüner und roter Seide auf den Tisch.

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Der Pate lächelte schlau. »Den soll er haben«, sagte er, Doris ausgestreckte Hand ergreifend. Dann folgte ein letzter Händedruck und Dori eilte davon. Aber noch einmal wurde sie gerufen. Der Pate rief durch das kleine Fensterchen: »Sag der Mutter, es schicke sich, daß sie mir auch Lebewohl sage, ich erwarte sie!«

Dori nickte bejahend zurück.

Die Aufforderung beunruhigte Dorothea aufs neue, allerlei Befürchtungen wollten in ihr aufsteigen. Aber Dori schlug sie alle kräftig nieder und bestand darauf, daß die Mutter den freundlichen Paten noch besuchen sollte. Dori behauptete auch, das Verpacken müsse doch von ihr fertig gemacht werden, und während sie im Nachmittag die letzte Hand anlege, könne die Mutter den Gang noch unternehmen. So geschah es.

Sobald Dorothea beim Vetter eingetreten war, sagte dieser kurz: »Ich habe dir noch etwas zu sagen, sonst hätt' ich dich nicht heraufgerufen.«

Dorothea wollte sich ein wenig entschuldigen, daß sie nicht ungerufen gekommen sei.

Aber er fuhr gleich fort: »Sag nur nichts, ich weiß schon, du wirst dich gefürchtet haben; sie werden dir wohl ihre Meinung gesagt haben, und du hast gedacht, ich habe auch noch ein Hagelwetter für dich parat gemacht. Setz dich zu mir nieder und höre, was ich dir zu sagen habe. Ich habe heut' deinem Kind ein Versprechen gegeben, es wollte nun einmal haben, daß ich euch dort unten besuche, das versprach ich. Aber so in ein Miethäuschen, von dem man nicht einmal weiß, wem es gehört, und ob man nicht über Nacht einmal hinausgeschmissen wird, geht unsereiner nicht, Wohnung zu nehmen. Ich bin daran gewöhnt, einen festen Sitz unter mir zu haben, das wirst du wohl wissen. Wenn ich nun zu euch kommen soll, so sorg dafür, daß ich den finde! Du weißt, wer mein Erbe ist. Er hätte auch ohne das genug, aber er soll seine Sache von mir haben, ich bin der Pate. Wenn er aber nicht ein vierfacher Lehmbodenstöpsel wäre, so wäre dein Kind auch meine Erbin geworden. Etwas muß sie von mir haben, das ist nur recht und billig. Das Haus dort unten, das ihr lieb ist, mußt du ihr kaufen; bezahlen kannst du es jeden Tag, das Erbe kann es erleiden, daß das Stück davon wegkomme. Ist die Sache richtig, so schreib, vorher komm ich sicher nicht.«

»Vetter Niklaus, ich weiß gar nicht, was sagen vor Überraschung und vor Glück. Was ist das für eine Freude für Dori! Ihr Haus, ihr liebes Häuschen! Und auch für mich, Vetter! Was habe ich dort für Jahre des Glücks mit meinem seligen Mann verlebt!« Dorothea konnte vor Rührung und Freude nichts mehr sagen, die hellen Tränen liefen ihr die Wangen herunter.

»So, nun weißt du's, Base, mach's in Ordnung und habt gute Tage zusammen in eurem Haus. Dein Kind hast du recht erzogen, das will ich dir auch noch sagen.« Damit stand der Vetter Niklaus auf und geleitete die tiefgerührte Dorothea bis zur Tür, wo sie mit wenigen Worten, aber vielen warmen Händedrücken von ihm Abschied nahm.

Dorothea flog fast, von ihrer übergroßen Freude getrieben, die Straße gegen Schuls hinab. Was hatte sie ihrem Kinde für eine Nachricht zu bringen! Aber plötzlich stieg eine Sorge in ihr auf: Von Cavandone war so lange schon keine Nachricht mehr gekommen, man wußte gar nicht, wie dort alles stand. Wenn das Haus bewohnt, vielleicht von jemand angekauft wäre, der es selbst bewohnte? Wenn es gar nicht zu kaufen wäre? Welch ein Schlag müßte das für Dori sein, nachdem sie ein solches Glück in Aussicht hatte! Nein, lieber wollte Dorothea noch gar nichts von dem Hause sagen; war es nicht mehr zu haben, so war das Leid, nicht mehr da hineinziehen zu können, schon groß genug für Dori, dann sollte sie nicht auch noch wissen, daß es ihr Eigentum hätte werden sollen. Nur daß der Pate voller Güte gegen sie gewesen sei und auch von seinem Besuch in Cavandone gesprochen habe, erzählte sie bei ihrer Heimkehr.

Hocherfreut sagte Dori: »Der gute Pate wischt allen Ärger aus, der einem von den Worten der andern Verwandten her im Herzen hätte sitzen bleiben können, und das ist so erfreulich. So kann man immer wieder gern hierher zurück denken, wir haben doch auch viel Schönes hier erlebt.«

»Ja gewiß«, stimmte die Mutter schnell bei, »und die Verwandten haben es doch alle gut mit uns gemeint. Wenn du nun einmal kein Glück in dem sahst, was sie für ein solches halten, so hätten sie dir es ja doch gern gegönnt.«

»Ja, das wollen wir ihnen nicht vergessen«, stimmte nun auch Dori bei.

Spät am Abend trat noch einer ins Haus ein, der Abschied nehmen wollte, es war der Gärtner Melchior. Er wußte schon, wie schnell alles sich gemacht hatte. Seine guten Augen leuchteten vor Freude, als er Dori seinen Segen auf die Reise und ins weitere Leben hinaus gab.

»Sie weiß den rechten Weg, Gott erhalte sie darauf und uns mit ihr«, sagte er, indem er Dorotheas Hand schüttelte und einen letzten Blick auf Dori warf.

Schon stand er unter der Tür, aber so leicht, wie er meinte, kam er nicht hinaus. Auch von ihm wollte Dori das Versprechen haben, daß er über den Berg komme und sehe, wo sie wohne mit ihrem kleinen Schützling, den er ihr zugeführt hatte. Und vor allem sollte Melchior die Rosen in ihrem Garten sehen, schönere Blumen trüge die Erde nicht; die ihnen an Schönheit am nächsten kämen, wären die vollen Nelken im Engadin, fügte Dori bei.

»Es ist gut, daß du meine Nelken noch anerkennst, sonst wären wir geschiedene Leute«, sagte Melchior lächelnd. »Deine Rosen dort unten möchte ich schon noch einmal sehen im Leben; die vergißt keiner mehr, der sie einmal gesehen hat.«


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