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Das Haus an der Halde in Schuls, in welchem Dorothea als Kind mit Vater und Mutter einmal gewohnt, das sie aber so frühe schon verlassen hatte, daß sie es nur als Heimatshaus der Verwandten kannte, war noch das alte. Nur zwei Stuben, die vor Alter schwarz geworden, waren frisch getäfert und gut hergerichtet. Das waren die Fremdenstuben, von denen die Base Marie Lene geschrieben hatte. Am Fenster der größeren Stube stand jetzt Dorothea und schaute über den Inn hin zum hohen Berge auf, über dem die grauen Wolken lagerten. Dori trat neben sie, ihre Blicke folgten denen der Mutter.
»Ich bin doch froh, einmal wieder meinen alten Pisoc zu sehen«, sagte diese, »es ist doch ein schöner Berg, nicht, Dori?«
»Aber Mutter«, entgegnete Dori zögernd, »er ist so schwarz und so wild und immer liegen graue Wolken drauf, der Monte rosso sieht doch ganz anders freundlich aus, nicht, Mutter?«
»Du mußt nur nicht immer vergleichen, sonst wirst du nie recht sehen, wie schön es hier sein kann«, meinte die Mutter. »Es ist eben hier alles anders, als dort unten am See. Wir sind in einem Bergland, aber sei nur geduldig, bis der Frühling kommt, dann wirst du sehen, wie schön dieses Land ist.«
»Nein, nein, Mutter, ich will nicht mehr vergleichen und auch so etwas nicht mehr sagen, es kam mir, ohne zu wollen, so heraus«, sagte begütigend Dori, die sich fest vorgenommen hatte, der Mutter Heimat nicht herunterzusetzen, nur unversehens entfiel ihr manchmal solch ein Wort der Vergleichung.
Vor drei Tagen war Dorothea mit ihrer Tochter in der Heimat angekommen und schon war das Haus ganz wohnlich eingerichtet, soweit es in den alten Räumen möglich war. Die Verwandten hatten die beiden am Tage ihrer Ankunft sehr freundlich bewillkommt. Die Frauen hatten sich gegenseitig ein wenig verwundert angeschaut, denn jede fand, die andere sei nicht mehr ganz so wie vor nahezu zwanzig Jahren. Nur die Nonna sei gar nicht verändert, fand Dorothea. Weiße Haare hatte sie schon gehabt und das fest gemeißelte Gesicht war dasselbe geblieben. Die Nonna hatte sich ihre Urenkelin recht angeschaut und dann ausgesprochen: »Sie hat die Augen von Daniel, die hätte ich gleich erkannt, wo ich sie gesehen hätte.«
Auch die Vettern waren gekommen, die Angekommenen zu begrüßen. Es war ohne viel Worte ausgeführt worden, die Männer der Familie waren alle ziemlich einsilbig, die jungen wie die alten. Was Dori zu unterscheiden schwierig fand, war, welcher von den jungen ein Matthias und welcher ein Jakob war, denn in beiden Familien hieß immer einer Matthias und einer Jakob, nur der jüngste der drei Brüder war ein Elias, das war eine glückliche Abwechselung, so wußte Dori für einmal doch von einem sicher, wie er hieß. Von den Vettern von Ardez war auch geredet worden, man hatte Dorothea angezeigt, der Junge werde noch diese Woche zur Begrüßung herunterkommen. Als Dorothea eben jetzt das Fenster schloß, das zum Pisoc hinüberschaute, sagte sie: »Ein schöner Gang, den wir im Frühling machen müssen, ist nach Ardez hinauf, dort wird es dir gefallen, wir besuchen dann einmal die Vettern.«
»Ich hoffe nur, diese beiden Vettern heißen nicht auch noch Matthias und Jakob«, rief Dori aus, »und wie wir mit denen verwandt sind, weiß ich gar nicht, Mutter, das sollte ich wohl wissen.«
»Ja natürlich«, sagte Dorothea erschrocken; »das mußt du alles wissen, man würde ja in der Verwandtschaft glauben, ich halte sie nicht wert genug, daß ich dich nicht genau unterrichtet habe. Ich habe es auch, glaube ich, schon getan, du hast es nur vergessen. Hör mir jetzt recht zu: der Nonno hatte einen älteren Stiefbruder, der zu seiner Frau nach Ardez gezogen war und zwei Söhne hinterließ, den Samuel und den Niklaus. Samuel hatte ein großes Geschäft in Neapel, und Niklaus stand dort im Militärdienst. Später, als er seinen Abschied erhalten hatte, trat er auch in das Geschäft seines Bruders ein, das so gut ging, daß sie bald alles einem andern überlassen und als ganze Herren zurückkehren konnten. In Ardez sollen sie das alte Haus, woher ihre Mutter stammte, schön neu aufgebaut und ausgerüstet haben. Samuel war mit einem Buben aus Neapel zurückgekommen, seine Frau hatte er dort verloren. Niklaus war nie verheiratet. Vor einigen Jahren ist Samuel gestorben, nun leben sein Sohn und sein Bruder Niklaus zusammen in dem Haus in Ardez. Der Sohn heißt Niklaus Samuel seinem Paten, dem Oheim, und seinem Vater nach. Sie nennen ihn Niki Sami zur Abkürzung. Ich weiß, dort droben in Ardez wird es dir gefallen, wenn wir einmal hinaufgehen, Dori! Ich bin als Kind oft droben gewesen; das Haus vom Vetter hat so schöne hohe Gänge wie ein Kloster, und an allen Fenstern hatte die Base Töpfe mit Nelken stehen, so schön wie ich sie nirgends sonst in meinem Leben gesehen habe.«
Eben ertönte ein so kräftiges Pochen an der Tür, daß Mutter und Tochter zusammenfuhren. Dori ging zu öffnen. Ein fester Bursche stand vor ihr und schaute mit zwei großen verwunderten Augen sie an, und so deutlich, als sprächen es seine Lippen aus, hieß es in seinem erstaunten Blick: das habe ich nicht erwartet.
»Sie sind gewiß nicht am rechten Ort«, sagte jetzt Dori zu dem erstaunten Fremden.
»Freilich bin ich«, gab dieser sehr bestimmt zurück, indem er eintrat und auf Dorothea zuging. »Ihr seid wohl die Base Dorothea, ich komme, Euch zu begrüßen«, er hielt ihr seine Hand hin.
»Und Ihr seid wohl der Vetter von Ardez. Grüß Gott!« gab Dorothea zurück, seine Hand schüttelnd.
»Der bin ich, und wie ich denke, noch jung genug, daß Ihr zu mir du sagen könnt. Und diese hier wird Eure Tochter sein. Schlag ein, Base!« sagte er, seine Hand Dori entgegenstreckend. Sie legte die ihrige hinein. Er drückte sie so zusammen, daß Dori einen kleinen Schrei nicht unterdrücken konnte. »Du drückst mir ja die Finger ab, Vetter«, sagte sie jetzt lachend, als er losließ.
»Das ist der Willkomm«, entgegnete er ruhig. »Wie gefällt es euch bei uns?«
»Mir muß ja die alte Heimat gefallen, das kann nicht anders sein«, sagte Dorothea, »für Dori sind wir etwas spät im Jahr gekommen, sie sieht das Land nicht mehr, wie es im Sommer ist. Aber sie wird den Frühling kommen sehen und das ist ja die schönste Zeit hier, wie überall.«
»Der Pate läßt euch grüßen«, sagte der junge Vetter, indem er sich auf den Stuhl niederließ, den ihm Dori hingestellt hatte.
»Ich danke. Und dich will ich denn nun bei deinem Namen nennen, Niki Sami«, setzte Dorothea hinzu, »ich weiß, du heißest so nach deinem Vater und deinem Paten. Wie geht es dem Vetter Niklaus, ist er immer wohl?«
»Ja, ja, das ist er schon. Das heißt, er hat immer etwas an einem Bein, das ihn am Gehen hindert«, ergänzte Niki Sami, »das haben alle alten Soldaten so, es ist, denk' ich, mehr so eine Erinnerung an die großen Schlachten und Strapazen, die sie in der Weise aufrecht erhalten. Der Pate raucht wenigstens täglich seine vierundzwanzig Pfeifchen und spült den Rauch nicht ungern mit unserm alten Veltliner herunter.«
»Eben habe ich Dori erzählt, was für Prachtsnelken deine selige Großmutter immer an den Fenstern hatte. Ob ihr immer noch solche habt?« fragte Dorothea jetzt.
»Das kann ich nicht bestimmt sagen«, war Niki Samis Antwort, »die Ursel schleppt so etwas hin und her manchmal, von einem Platz zum andern, das sind vielleicht die Nelken.«
»Wer ist die Ursel?« fragte Dori.
»Das ist die Haushälterin, die kocht und die Sache in Ordnung hält. Du wirst schon wissen, was in einem solchen Haus zu tun ist«, meinte der Vetter.
»Ja, ja, ich weiß schon, und euer Haus ist vielleicht größer als das unsere war in Cavandone«, sagte Dori harmlos.
»Ja, vielleicht«, wiederholte Niki Sami mit überlegenem Lächeln, »vielleicht ist unser Haus ein wenig größer, als ein gemietetes Häuschen dort unten im Italienischen! In ganz Ardez und Schuls ist kein solches steinernes Haus mit Stallung und Scheune und Heuboden, wie das unsere ist. Der Keller ist wie eine Kirche, nicht anders, akkurat so sind die steinernen Gewölbe.«
»Da steigt mir eure Kirche in Ardez vor den Augen auf, die mochte ich immer so gern«, sagte Dorothea, »hat sie noch die alte geschnitzte Tür?«
»Das kann ich nicht sagen, ich bin schon lang nicht mehr drin gewesen, man hört ja doch immer dasselbe darin, das weiß man ja doch einmal gut genug und braucht es nicht immer wieder zu hören«, meinte Niki Sami. »Ich sage: recht tun, das ist die Hauptsache, das ewige Reden in den Kirchen nützt nichts. Ja so, da kommt mir in den Sinn, es läßt Euch noch jemand grüßen, bei Anlaß des Kirchengesprächs kommt es mir in den Sinn, den Gärtner Melchior mein' ich. Der kann einen manchmal so auf der Straße anpredigen, als wäre er eben Pfarrer geworden. Ich habe ihn auf dem Weg angetroffen, und wie ich ihm sagte, wohin ich gehe, da hat er mir einen Gruß aufgetragen. Er habe Euch als kleines Kind oft auf den Armen getragen, sagte er.«
»Das hat er«, bestätigte Dorothea, »und ein Gruß von ihm freut mich, er ist ein guter Mann. Wo lebt er wohl? Arbeitet er immer noch in seinem Beruf?«
»Ja, ja, den ganzen Sommer steckt er im Garten vom Kurhaus droben, da hat er immer etwas zu pflanzen und zu schneiden und auch in den bessern Gärten da und dort im Tal. Den Winter bringt er bei einem alten Freund oder Verwandten oben in Sint zu. Daß er einmal in Amerika war, werdet Ihr wissen.«
»Das war, wie er jung war«, sagte Dorothea, »lang bevor ich die Heimat verließ. Er ist auch sonst noch weit herumgekommen.«
»So, das war nun nur so ein Anfang meiner Besuche, Base Dorothea«, sagte Niki Sami jetzt, indem er sich erhob, »ich komme dann manchmal wieder, und wenn einmal Schnee da ist, dann komm' ich erst recht. Dann hol' ich die junge Base zum Schlittenfahren ab und dann geht's zum Tanz mit ihr. Ja, ja, es ist mein Ernst, wenn Ihr mich noch so verwundert anschaut, die Rosse hab' ich im Stall, und wir verstehn's, uns lustig zu machen in unserem Tal, die Base Dori wird's erfahren, es wird ihr schon gefallen.« Dorothea meinte, der Vetter werde es nicht so eilig haben, er sollte doch erst den Kaffee mit ihr und der Tochter trinken, das sei ja ein guter, alter Brauch im Engadin bei Nachmittagsbesuchen.
Niki Sami fuhr ganz auf vor Freude: »So macht Ihr doch die alten Bräuche noch mit, das ist recht, so gefällt's mir«, rief er aus. »Die Base Marie Lene meinte, Ihr bringt nun so italienische Moden mit und esset nichts als Zwiebeln und Maismehl, das ist nichts für mich. Aber wenn's so ist, daß Ihr Euch noch auf einen vaterländischen Kaffee mit fester Unterlage versteht, so richte ich mich das nächstemal ein, bei Euch zu bleiben, für heute hab' ich noch mit einem Kameraden abgeredet und muß Abschied nehmen für einmal.«
»Sag der Base Marie Lene, daß man in Italien auch noch anderes ißt, als sie meint«, sagte Dori mit Lebhaftigkeit, als sie dem Vetter die Hand reichte, »sie sollte einmal unsere markigen Kastanien sehen und die vollen Trauben, die um unsere Terrasse herumhangen.«
»Da wollte ich noch lieber den Saft sehen, der daraus hervorkommt«, sagte Niki Sami und mußte so ungeheuer lachen dabei, daß alle seine weißen Zähne bis zum hintersten zum Vorschein kamen. Jetzt drückte er Dori noch einmal fest die Hand und ging.
»Niki Sami ist gewiß ein guter Mensch«, sagte Dorothea, als er weg war.
»Ja, das glaube ich auch«, stimmte Dori ein; »aber warum meinen sie denn nur alle hier, sie haben alles viel schöner und besser, als wir es daheim hatten?«
»Du mußt eben begreifen, Dori, daß dem Niki Sami, der ein reicher Gutsherr ist und der sich freut an seinem Besitz, so ein Leben ohne allen Besitz und Reichtum, wie wir es zusammen führen, gar zu einfach, fast ärmlich vorkommen muß.«
»Es kann ihm ja gar nicht wohler sein, als es uns war, was meint er denn?« fragte Dori erstaunt.
»Ich kann dir's nicht erklären, wenn du ihm nicht nachfühlen kannst, wie das ist«, fuhr die Mutter fort, »so wenig, als ich Niki Sami erklären könnte, wie es uns ohne allen Besitz so wohl war, wie es ihm nur sein kann, denn das könnte er nun gewiß unmöglich uns nachempfinden. Es kommt eben darauf an, woran unser Herz sich freut, und das kann keiner für den andern bestimmen.«
»Wenn wir aber dort unten wohl so glücklich und froh waren, wie er droben in seiner Heimat ist, so hatten wir doch kein ärmliches Leben, wir waren gerade so reich wie er, wenn nicht noch reicher«, eiferte Dori. »Ist's nicht wahr, Mutter? Kannst du dir denn ein schöneres Leben denken, als wir es dort unten mit dem Vater zusammen hatten?«
»Nein, nein, das kann ich nicht, Dori, aber mit mir ist's nun auch etwas anderes als mit dir«, meinte die Mutter. »Glücklicher als unser Leben dort war, kann ich mir ja gar keines denken.«
»Ich auch nicht, nie und nirgends«, sagte Dori schnell. –
Der alte Geistliche, der Dorothea vor bald zwanzig Jahren getraut hatte, lebte nicht mehr. Sein Nachfolger, den sie nun aufsuchte, um sich über den Unterricht der Tochter mit ihm zu besprechen, riet ihr, diese recht in die romanische Sprache einzuführen, damit sie den Unterricht mit den Mädchen des Ortes nehmen könne. Er meinte, es müßte der Tochter nicht schwer werden, bald ganz folgen zu können, da sie die italienische Sprache kannte. Er wünschte auch, sie möchte gleich in den Vorunterricht eintreten. Das war für Dori um so leichter auszuführen, da die Mutter ihr von klein auf von so vielen Dingen gesagt hatte, wie diese bei ihr zu Hause benannt werden, und ihr Kind auch viele romanische Liedchen gelehrt hatte. Dori warf sich auch gleich mit großem Eifer in ihre Studien und war in ganz kurzer Zeit soweit, ohne viel Mühe dem Vorunterricht folgen zu können, so daß sie, als die Zeit da war, ohne Hindernis in den Hauptunterricht eintreten konnte. Sie hatte aber ihre Zeit bis dahin nötig gehabt und war auch jetzt so beschäftigt, daß sie sich in der Verwandtschaft kaum sehen ließ und die Mutter ihre Besuche immer allein machen und auch meistens noch allein empfangen mußte. Dori war von ihrem Vater her an ein genaues Lernen gewöhnt, und da der Geistliche wünschte, daß die jungen Leute durch Nachschreiben ihren Unterricht festhalten möchten, gab Dori sich alle Mühe, nicht ein Wort davon zu verlieren, und was sie erst hingeworfen hatte, mußte nachher schön und sauber ausgearbeitet werden. Dazu hatte sie immer noch ihre Sprachübungen fortzusetzen, denn zu lernen gab es da immer noch vieles.
So war mit dieser und aller Arbeit, welche die Mutter noch von ihr wünschte, ein Tag wie der andere für Dori so ausgefüllt, daß sie für nichts weiter Zeit hatte, auch nichts weiter auszuführen begehrte. Das verdroß nun die Verwandten: sogar die Nonna, die bis jetzt nichts auf Dorothea und ihre Tochter kommen lassen wollte, schaute ein wenig verwundert der Dorothea entgegen, als diese schon zum vierten Male allein erschien, um den Sonntagnachmittag mit den Verwandten zuzubringen.
Es war ein anerkannter Festgenuß, daß das Gespräch, das durch den gewohnten Familienkaffee belebt wurde, an solchen Sonntagnachmittagen bis in den Abend hinein fortgesetzt werden konnte.
»Ich nahm an, deine Tochter werde dich nun einmal begleiten und gern ein wenig bei uns sein«, sagte die Nonna nach der Begrüßung. »Man bespricht sich über dies und das, was sie noch nicht kennt und was ihr doch auch bekannt werden muß, nun sie hier daheim ist.«
»Sie muß einen Spahn im Kopf haben, so allein in einer Stube zu sitzen, wie eine alte Klosterfrau, wenn sie doch weiß, daß die Verwandtschaft in guter Unterhaltung zusammensitzt und sie dabei sein könnte«, meinte die Base Marie Lene.
»Sie trägt nur das Näschen ein wenig zu hoch, es ist ihr nicht gut genug, was sie bei uns fände«, setzte Frau Katharine hinzu.
»Nein, nein«, wehrte Dorothea, »so etwas müßt ihr nicht denken, Dori ist ja noch ein Kind, sie fährt nur fort, so zu leben, wie sie erzogen worden ist. Sie geht ja so gern dann und wann zu dir, Nonna, und spricht mit dir und hört so gern, was du ihr sagst. Aber wenn wir so zusammen sind, so sprechen wir eben so von Land und Leuten, die sie ja nicht kennt und sie ist nicht daran gewöhnt und denkt, sie könnte unterdessen etwas tun, das für sie besser ist, besonders jetzt, da sie ja auch der Herr Pfarrer ermahnt, ihre Sonntage still zuzubringen und etwas Gutes zu lesen. Es ist schon wahr, das ist gerade, was Dori am liebsten tut.«
Für einmal wurde der Gegenstand wieder fallen gelassen und ein anderer kam an die Reihe; aber auch an den kommenden Sonntagen stieg die Frage immer wieder auf. Von den Basen gab es allerlei spitzige Bemerkungen und die Nonna meinte, die Ermahnung des Pfarrers gelten eben denen, die den Sonntag in leichtfertiger Weise zuzubringen gewohnt seien.
Dorothea fragte dann und wann einmal wieder, ob Dori nicht mitkommen und den Sonntag unter den kurzweiligen Gesprächen der Verwandten zubringen wollte, aber Dori schüttelte immer verneinend den Kopf, und mehr als einmal sagte Dorothea: »Wenn ich sie nicht erzürnte, bliebe ich doch soviel lieber bei dir daheim.« Aber sie ging wieder, denn sie fürchtete sich vor der Ungnade der ganzen Verwandtschaft. Wer über Doris Zurückgezogenheit am meisten aufgebracht war, und in immer heftigere Gärung darüber geriet, war Niki Sami. Er hatte sein Versprechen, bald wieder zu kommen, um einen Nachmittagskaffee mit den Basen einzunehmen, gehalten, und war in ununterbrochenem Gespräch so lange sitzen geblieben, daß es stockfinster geworden war. Dori war schon einigemal aufgestanden, um Licht zu machen, aber er hatte es ihr gewehrt und gesagt: »Tu's nicht, sonst seh' ich, daß ich gehen muß, ich muß ja noch nach Ardez hinauf.«
Aber jetzt stand Dori entschieden auf, holte die Lampe und sagte: »Nun muß ich gehen, ich habe noch viel für meinen Unterricht zu arbeiten.«
Dorothea lud den Vetter ein, wiederzukommen, wenn es ihn freue, und es mußte ihn öfters freuen, denn nun verstrich keine Woche, daß Niki Sami nicht ein- oder auch zweimal erschien und sich bei den Basen fest niederließ. Aber nun machte Dori immer früher Licht und zeigte an, nun sei ihre Arbeitszeit gekommen, und zuletzt ging sie noch am hellen Tag weg und behauptete gegen Niki Samis Einwendungen, sie habe zuviel zu arbeiten, um solange schwatzen zu können, nächstens komme sie gar nicht mehr zum Vorschein.
Niki Sami war sehr ergrimmt gegen den Pfarrer und seinen Unterricht, und in seinem Zorn steigerte er sich selbst so sehr gegen den ahnungslosen Urheber seines Ärgers, daß er zuletzt ganz überzeugt war, der Pfarrer tue es nur ihm zuleide, daß er seine Base so zum Arbeiten anhalte, weil er bei ihm nie in die Kirche gehe.
»Dem will ich's schon noch eintränken«, sagte er mehrmals mit einer drohenden Gebärde gegen die freundlich herniederschauende Kirche von Schuls hinüber, wenn er am Abend von seinem Besuch heimkehrte.
Jetzt war Niki Sami wieder milder gestimmt, denn seit zwei Tagen schon fielen so schöne große Schneeflocken vom Himmel, daß eine prächtige Schlittbahn in Aussicht stand.
So kam der Sonntag heran und mit ihm eine helle Sonne, die herrlich über die weiten Schneefelder hin leuchtete. Schon früh am Morgen schoß Niki Sami von seiner Kammer in die Stube und von da in den Stall und wieder zurück, denn noch immer war er mit dem nötigen Staatsanzug nicht ganz zu Ende.
Auf der Ofenbank saß der Pate Niklaus, behaglich sein Pfeifchen schmauchend und den ungewöhnlich belebten Niki Sami in aller Ruhe betrachtend. »Was soll's denn geben?« fragte er, als Niki Sami nun mit den funkelneuen Schellenriemen vom Boden herunterkam, um sie dem Paten noch unter die Augen zu halten, bevor er sie den Rossen überhängen wollte.
»Eine Schlittenfahrt, denk' ich, sie sollen einmal sehen, was man im Stall hat«, entgegnete Niki Sami mit Bewußtsein.
»Wer sie?« wollte der Pate wissen.
»Die Basen in Schuls, die so etwas noch gar nicht kennen«, meinte Niki Sami.
»Hm«, sagte der Pate langsam zwischen seinen Pfeifenzügen durch, »es ist mir so, wie wenn du viel mit den neuen Basen in Schuls zu tun hättest.«
»Man muß ihnen doch etwas zeigen und sie ein wenig bekannt machen, sie kennen ja niemand im Land als die Verwandten und mit den Vettern unten ist's ja nichts, das wißt Ihr, da muß doch jemand etwas tun.« Niki Sami sprach ganz beredt.
Der Pate Niklaus lächelte schlau. »Nur zu«, sagte er kopfnickend, »du kannst sie ja auch einmal heraufbringen, so kann man sehen, wie das aussieht.«
Niki Sami fuhr ab. Die Rosse zogen lustig aus mit dem leichten Schlitten und die vielen Schellen klingelten so laut durch das Tal, als käme eine ganze Schar von Schlitten dahergefahren. Das gefiel dem Niki Sami. Behaglich zog er seine Decke über die Knie und knallte mit der Peitsche, damit die Rosse noch etwas höher sprangen und die Köpfe schüttelten. Es war überall still in Schuls, als er mit lautem Schellen einzog. Beim Haus an der Halde sprang er hinaus und wollte schnell die Tür aufreißen, sie war geschlossen. Er klopfte, es kam niemand. Er klopfte lauter, noch mehr, immer lauter, drinnen blieb alles still.
Jetzt öffnete am nächsten Hause drüben eine alte Frau ein Fensterchen. »Es ist niemand daheim«, rief sie hinüber, »sie gehen alle Sonntage in die Kirche.«
»Kann der denn nicht schneller machen an einem so schönen Tag«, herrschte Niki Sami die Frau an, als wäre sie schuld an seinem Mißgeschick.
»Wer?« fragte sie gutmütig.
»Pah, der alte Pfarrer dort oben, denk' ich«, rief er erbost zurück. »Wie lang macht er noch?«
»Eine halbe Stunde geht's noch. Es ist aber gar kein alter Pfarrer, ein junger ist's«, berichtigte die Frau, noch ehe sie das Fenster zumachte.
»Desto schlimmer, wenn der alt ist, wird er gar nicht mehr fertig!« rief Niki Sami ihr noch zu, dann fuhr er peitschenknallend davon, gegen Sint hinunter. Nach einer halben Stunde kehrte er zurück. Eben wollten Dorothea und ihre Tochter ins Haus eintreten, als sie die Schellen klingeln hörten und den Schlitten herankommen sahen. Von weitem schon machte Niki Sami deutliche Zeichen mit der Peitsche, daß er bei ihnen anhalten wollte. Sie blieben beide stehen, bis er da war. Nun sprang er aus dem Schlitten, die Decke hatte er schon zurückgelegt. »Nun gleich eingestiegen, Base Dori«, sagte er, auf den Schlitten deutend, »angezogen bist du und eine Decke ist da, die hält uns beide warm genug. Ich war schon einmal da, es ist nicht mehr zu früh, wir fahren nach Zernez hinauf, da kommt eine lustige Gesellschaft zusammen, gegen zwanzig Schlitten, da kannst du einmal Bekanntschaften machen und die Schlittenbahn ist heute so, daß es eine Freude ist auszufahren. Steig doch einmal ein«, drängte Niki Sami.
»Nein, Vetter, ich danke dir, ich will lieber daheimbleiben«, sagte Dori einfach.
»Was?« schrie Niki Sami. »Das ist ja sicher nicht wahr. Hat dir's der Pfarrer verboten? Wenn ich den einmal erwische«, und Niki Sami hob seine Faust so drohend auf, daß der Herr Pfarrer hätte erschrecken müssen, wenn er sie gesehen hätte.
Dori sagte ohne Schrecken: »Erbos dich doch nicht gegen jemand, der von allem nichts weiß, der Herr Pfarrer hat mir nichts verboten, ich sage dir's ja, wie es ist, ich bleibe lieber daheim.«
Aber Niki Sami blieb keinen Augenblick im Zweifel, daß ein so unnatürlicher Ausspruch, wie dieser für ihn war, der jungen Base von jemand eingegeben worden war, und das mußte der Pfarrer sein. Noch einmal brach sein Zorn über seinen Widersacher los.
Aber Dorothea hielt ihn an und suchte den Aufgebrachten zu beschwichtigen. Sie meinte, wenn dann der Frühling komme, werde es anders sein, da gehe man dann an den schönen Sonntagen spazieren zusammen, das tue Dori auch über alles gern.
Aber der Trost lag für den Vetter zu weit weg. »Komm du lieber jetzt mit, Base Dori, und lauf dann dem Pfarrer im Frühling nach«, schlug er noch einmal vor.
»Ich habe dir's bestimmt gesagt, ich danke dir und wünsche dir eine glückliche Fahrt«, gab Dori zurück und ging ins Haus hinein. Niki Sami fuhr zähneknirschend davon.
Wenige Tage nachher lief Niki Sami mit großen Schritten dem Hause der Nonna zu. Schon von weitem konnte man ihm den treibenden Eifer ansehen. Als Marie Lene von ihrem Fenster aus den Herankommenden sah, stand sie schnell auf, um auch hinüber zu gehen, machte auch im Vorbeiweg eilig die Tür der Frau Katharine auf und rief hinein: »Komm zur Nonna hinauf, da hat's etwas gegeben.«
Kathrine folgte dem Ruf. Gleich hinter Niki Sami traten die beiden Basen bei der Nonna ein. Er meinte, das treffe sich gut, daß sie auch gerade eintreffen, er habe etwas zu sagen, wobei sie auch mitreden können. Er komme expreß her, um die Verwandten aufzufordern, daß etwas getan werde, der Pfarrer mache die junge Base Dori ganz kopfscheu und verdreht, mit keinem Menschen wolle sie zusammenkommen, keinen kennen lernen und vor denen, die sie schon kenne, schieße sie auch weg wie eine scheue Fledermaus. Und die Mutter unterstütze noch den Pfarrer und helfe dazu, daß die Tochter von allen natürlichen Wegen abkomme und sich noch übersinne. Die Basen sollten Doris Mutter zurecht bringen, damit sie dem verdrehten Pfarrer entgegenarbeite. Marie Lene sagte sogleich: An all den Querkopfgeschichten sei die Base Dorothea allein schuld, sie habe von jeher alles anders haben wollen, als andere Leute, nun sollte die Tochter auch in ein besonderes Modell gedruckt werden. Frau Kathrine bemerkte bedächtig, die Base Dorothea brauche da nicht nachzuhelfen; daß die Verwandten nicht viel berücksichtigt und keine Bekanntschaften gesucht werden, gehe von dem Töchterchen selbst aus, das sein Näschen zu hoch trage, als gehöre es in eine bessere Luft als die andern alle. Aber die Nonna fing nun auch zu sprechen an und bedeutete den dreien, die Base Dorothea könne man nun noch gar nicht so beurteilen, die Tochter habe sie durchaus in den Religionsunterricht eintreten lassen müssen, denn das Alter sei da. Das sei nun wirklich eine besondere Zeit für die jungen Leute, da diese mit Recht ein wenig zurückgehalten werden. Bis zum Frühling müsse man die junge Base Dori nun in der Stille ihren Weg gehen lassen, nachher könne es ja ganz anders kommen. Als Niki Sami sah, daß kein Einschreiten der Nonna, die allein es tun konnte, stattfinden werde, nahm er Abschied und ging grollend davon. Seine Besuche wiederholte Niki Sami immer wieder bei der Base Dorothea, nur mit dem Schlitten kam er nicht mehr. Er
Der April war gekommen. Das Osterfest sollte in wenig Tagen gefeiert werden. Noch lag ein tiefer Schnee ringsum auf dem Lande, nur an den sonnigen Halden kamen kleine, grüne Stellen zum Vorschein und weckten frohe Frühlingsahnung in Doris verlangendem Herzen. Eben war sie hereingekommen, die ersten grünen Blättchen in der Hand tragend, die sie an einer der schneefreien Stellen erobert hatte.
»Endlich, Mutter«, rief sie fröhlich aus, »endlich wird auch hier der Frühling kommen!«
»O und er ist so herrlich hier in seinem ersten Grün«, rief Dorothea aus, die der wonnevollen ersten Frühlingstage gedachte, die ihr als Mädchen nach den damals erlebten, langen Winterzeiten wie süße Wunder Herz und Auge erfreut hatten.
Dori war eben noch beschäftigt, ihre Blätter und Zweiglein ins Wasser zu stellen, als ein fester Tritt der Tür nahte; Dori machte schnell auf. Ein alter Mann stand vor ihr mit dichtem, weißem Haar und einem freundlichen Gesicht, aus dem zwei durchdringende, fast jugendlich glänzende Augen sie ganz väterlich anblickten. Einen Augenblick schaute Dori verwundert zu ihm auf, dann fiel ihr Blick auf die Blumen in seiner Hand, und ihre Hände zufammenschlagend rief sie aus: »O, der volle Sommer, der ganze duftende Sommer noch vor dem Frühling!«
Dorothea war herzugetreten. Sie erfaßte die ausgestreckte Hand des Alten und drückte sie mit großer Herzlichkeit. »Grüß Gott, Melchior, grüß Gott!« wiederholte sie mit warmer Freude, den Gast in die Stube hereinziehend.
»So kennst du mich noch, Dorothea«, sagte er, ihr folgend, »das freut mich, ich dachte, ich müßte dir aus der Erinnerung gekommen sein. Und das ist dein Kind, bist du auch eine Dorothea? Gib mir die Hand!«
Dori erwiderte den Händedruck des Alten und bejahte seine Frage. »Wie sollte ich Euch nicht mehr kennen, Melchior, Ihr seid ja noch immer ganz der gleiche«, sagte Dorothea wieder.
»Aber welch ein Nelkenreichtum! Was sind das für Prachtsblumen, sieh doch, Dori!«
In voller Bewunderung standen die beiden vor dem übergroßen, in allen Farben schimmernden Nelkenstrauß. »Die hab' ich gut überwintert, nicht? Da, junges Blut, die bring' ich dir, zu deinem Fest«, sagte Melchior, Dori den Strauß überreichend. »Ich wäre schon früher gekommen, dich zu begrüßen«, fuhr er, zu Dorothea gewandt, fort, »aber ich kam nie so weit. Ich war oben in Sint den Winter, da kommt man nicht so leicht herunter. Aber ich habe gehört, daß deine Tochter zum Osterfest in die Gemeinde eintritt. Zu dem Feste wollte ich dich und sie begrüßen.«
Dori konnte erst jetzt recht danken für ihre schönen Blumen, die, in eine große Schüssel eingestellt, wie ein volles Nelkenbeet aussahen. »So etwas kann nur ein Gärtner zustande bringen, während draußen der Schnee noch alle Pflänzlein unter seiner dicken Decke in den Boden bannt«, sagte Dorothea, die duftenden Blumen mit immer neuem Entzücken von allen Seiten betrachtend.
»Ja wohl, ein Gärtnermeister hat sie zustande gebracht, aber nicht etwa ich, Dorothea«, wandte Melchior lächelnd ein, »aber daß ich des großen Gärtners Handlanger sein darf, darüber freue ich mich jeden Tag meines Lebens; es ist ein schöner Beruf.«
»Ich glaube, der hat Euch so jung erhalten, Melchior«, sagte Dorothea, »ich muß nur immer staunen, wie wenig Ihr Euch in den zwanzig Jahren verändert habt. Eure Augen glänzen wie die eines Jünglings.«
»Das hängt mit meinem Beruf zusammen, da hast du recht, Dorothea«, bestätigte Melchior. »Jedes Frühjahr werde ich wieder jung mit meinen jungen Pflänzchen, denn da bin ich so glücklich über all das neue Leben, das als das größte Wunder wieder vor meinen Augen entsteht, und das Wunder erfahr ich auch in meinem Herzen und danke dem lebendigen Gott dafür, daß er den Tod nichts festhalten läßt; denn der Lebenskeim geht mit dem Absterbenden in die Erde hinein, und ich weiß schon, wie es aussieht, wenn es wieder aufersteht. Und zu meinen jungen Pflänzchen sag ich fröhlich jedes Jahr: So, Kinder, nun müssen wir recht wachsen und gedeihen miteinander das Jahr durch, daß ein jedes von uns seinem Gärtner Ehre mache, ich dem Meister, ihr dem Handlanger, damit jeder, der uns ansieht, sagen muß: Die sind in einer guten Hand. So messe ich mich das ganze Jahr durch mit ihnen, und das bringt mich auf viele heilsame Gedanken. Und muß ich mich einmal niederlegen, Dorothea, dann denk ich: der Gärtnermeister weiß jetzt schon, wie er den Lebenskeim wieder auferstehen läßt, der in die Erde muß, so wie ich es von meinen Pflänzchen weiß, und ich bleibe fröhlich und sicher, denn ich bin in einer guten Hand.«
Dorothea wollte den alten Freund nicht fortlassen, ohne daß er die übliche Kaffeestunde mit ihr und der Tochter zugebracht hätte. Sie ging auch gleich, die nötigen Vorbereitungen zu dem gemeinsamen Genusse zu treffen, und wies Dori an, mit ihrem Gast und alten Freund unterdessen Bekanntschaft zu schließen.
»So komm, wir wollen der Mutter folgen«, sagte dieser, indem er sich setzte und einen andern Stuhl neben den seinigen rückte, damit Dori sich darauf niederlasse. »So sag mir nun, wie du's hast: Bist du froh, den Unterricht zu verlassen, oder hast du im Sinn, ihn mitzunehmen und darin zu bleiben, wo du auch weiterhin im Leben sein magst?«
Dori schaute erst ein wenig nachdenklich den Frager an, dann sagte sie: »Ich nehme immer alles mit mir, was ich gelernt habe, und lasse nichts zurück, denn ich bin froh über alles, was ich weiß.«
»Da hast du recht, denn Lernen und Wissen ist eine schöne Sache. Es gibt aber noch etwas Besseres«, setzte Melchior nach einer Weile hinzu.
Er schaute Dori fragend an dabei. »Ich weiß nicht, was Ihr meint«, sagte sie.
»Welcher hat es besser«, fragte Melchior weiter, »einer, der im kalten Kellerloch sitzt und nicht heraus kann, wohl aber weiß, daß draußen die Sonne lieblich warm auf alle Pflänzlein niederscheint: oder einer, der draußen im lichten Sonnenschein sitzt und die warmen Strahlen in allen Gliedern bis ins Herz hinein empfindet? Was meinst du?«
»Nun, ich denke, der letztere«, sagte Dori lachend.
»Ich auch; denk dir aus, wie ich's meine«, sagte Melchior.
Jetzt trat Dorothea mit einem vollbesetzten Kaffeebrett in die Stube ein.
»Wir sind noch nicht fertig mit der Bekanntschaft«, rief ihr Melchior entgegen, »aber wir wollen sie schon fortsetzen, nicht Dori?«
»Ja, das wollen wir«, gab diese so freundlich lächelnd zurück, daß Melchior sehen konnte, es mußte ihr auch recht sein. Dorothea wollte nun gerne wissen, ob der alte Freund den Sommer wieder in der Nähe zubringen werde und vernahm mit Befriedigung, daß Melchior den Garten vom Kurhaus wieder übernommen und nun bald zu arbeiten beginnen werde. Auch einige andere Gärten in der Umgegend hatte er, wie schon manchen Sommer durch, zu besorgen. So würde er meistens in der Nähe sein, und man könnte wohl manchmal wieder zusammentreffen, meinte Melchior. Als er sich erhoben und dann nach wiederholtem, herzlichem Händedrücken sich entfernt hatte, sagte Dori lebhaft: »Der gefällt mir, Mutter, viel besser als alle Verwandten miteinander.«
Dorothea erschrak ein wenig über den Ausspruch; so durfte man doch eigentlich seine Verwandtschaft nicht hintansetzen, und dann, wenn jemand ein solches Wort hörte, was konnte daraus werden! Ihr Schrecken wurde noch größer bei dem Gedanken, Dori könnte vor anderer Ohren sich so aussprechen. »Du solltest nicht so mit den Worten herausfahren, Dori«, sagte sie, »man sagt hier nicht alles so gerade heraus. Und dann mußt du doch sehn, wie gut und freundlich die Nonna ist, das solltest du auch anerkennen und erwidern.«
»Ja, ja, das tu' ich wirklich, Mutter, die Nonna ist mir recht lieb, aber«, setzte Dori eifrig hinzu, »die Basen habe ich nichts desto lieber, wenn ich sehe, wie du dich immer vor ihnen in acht nehmen mußt und sie halb fürchtest und halb verehrst.«
Aber Dorothea wollte nichts auf die Basen kommen lassen und sagte, sie sei ja selbst schuld, daß sie so unsicher sei und ihren Weg nicht fest gehe, wie die andern es tun können. Dori sollte aber durchaus die Verwandten alle lieben und achten.
Das Osterfest war noch im Schnee gefeiert worden. Jetzt hingen die dicken, grauen Wolken über den Pisoc herein, und ganze Ströme von Regen stürzten ins Tal herunter und schwemmten die hohen Schneehaufen fort. Dann kam die Sonne mit mächtigen Strahlen heraus, und auf allen Wiesen und drüben am Wald, an allen Hecken, überall quoll das helle Grün heraus und funkelte in der Maisonne. Niki Sami schlenderte mit vergnügtem Gesicht durch den erfrischenden Frühlingswind und milden Maisonnenschein gegen Schuls hinab. Er war in der besten Laune. Endlich war der ewige Unterricht doch zu einem Abschluß gekommen, und man konnte in ungestörtem Frieden ein Stündchen mit den Basen verleben. Er trat in das Haus an der Halde ein. Die Base Marie Lene war drinnen. Sie hatte einen Brief gebracht, den Dorothea eben aufmerksam durchlas.
»Setz dich, Vetter«, sagte Dori, den Eintretenden begrüßend, »es ist ein Brief von einem Kurgast, der unsere zwei Zimmer haben will.«
»Niki Sami kennt ihn schon, es ist der Doktor Strahl, der schon dreimal da war«, bemerkte die Base Marie Lene.
Dorothea hatte fertig gelesen. »So weißt du ja schon, wie er ist, wenn er schon in drei Sommern die Zimmer bewohnt hat«, sagte sie zu Marie Lene gewandt; »ihr würdet mir also raten, ihn ins Haus zu nehmen, du und dein Mann?«
»Du kannst gar keinen bessern finden, wenn du einmal einem Kurgast die Zimmer geben willst«, entgegnete eifrig die Base, »und ich wüßte nicht, warum du es nicht tätest. Wir mußten mehr zusammenrücken mit unsern drei Buben, als ihr es müßt, und wir konnten es ganz gut machen. Du hast eine schöne Einnahme für die Zimmer, und die Zimmer hast du ja gar nicht nötig.«
»Warum braucht denn der zwei Zimmer, er wird doch wohl nur in einem schlafen, oder wechselt er in der Nacht?« fragte Niki Sami auflachend, beim Gedanken an diesen Umzug mitten in der Nacht.
»Man kann in einem Zimmer auch noch etwas anderes tun, als nur schnarchen, wie du tust, sobald du in dem deinen anlangst«, antwortete Marie Lene schnell. »Das ist ein gelehrter Herr, der im Tag manche Stunde auf seinem Zimmer sitzt und schreibt und studiert, auch oft am Abend tut er das noch. So muß er ein frisches Zimmer zum Schlafen haben, das versteht man wohl.«
»Schon im Juni will er kommen, schreibt er, also recht bald«, sagte Dorothea wieder. »Glaubst du, daß es ihm nichts macht, Marie Lene, nicht mehr dieselben Hauswirte zu finden? Er glaubt ja, er komme wieder zu euch. Hat man viel mit ihm zu tun?«
»Gar nicht«, entgegnete Marie Lene, »und wer ihm im Haus die Sache regiert, ob du oder ich, kann ihm ja einerlei sein. Für die groben Arbeiten und das Auslaufen hast du ja ein Mädchen genommen. Am Morgen geht er früh zur Kur weg und bleibt oben, beim Kurhaus, bis um 9 oder 10 Uhr. Da hast du alle Zeit, seine Zimmer zu ordnen, das ist die Hauptsache. Die Mahlzeiten nimmt er alle drüben im Gasthaus ein. Dazu geht er leise aus und ein und hält sich still. Er ist ruhig und schweigsam und sagt kaum ein Wort zu dir, außer der höflichen Begrüßung, die er nie vergißt.«
»Und dabei macht er Augen, daß man denken muß, die schauen ganz durch dich hindurch und kommen auf deinem Rücken wieder heraus«, ergänzte Niki Sami das Bild und lachte laut auf, indem er sich seine Schilderung vergegenwärtigte.
»Da ist etwas Wahres dabei«, sagte Marie Lene, »Niki Sami hat's hinter den Ohren, und manchmal sagt er auch etwas, das gescheiter ist, als er selber merkt. Es ist wahr, daß der Doktor so durchdringende Augen hat, wie ich noch keine gesehn habe, aber Augen, die man doch gern sieht, das kann man nicht anders sagen. Die Nonna ist auch dafür, daß du ihm die Zimmer zusagest, du könnest keinen Mieter bekommen, der besser in dein Haus passe, als der stille, ruhige Herr.«
Dorothea fand, wenn alle, die den Herrn nun schon drei Sommer durch gekannt und auch selbst im Hause gehabt hatten, so für seine Aufnahme stimmten, so hätte sie ja keinen Grund, dagegen zu sein. So trug sie denn gleich Marie Lene auf, den Brief, der an diese gerichtet war, dem Herrn in bejahendem Sinne zu beantworten.
»Kommst du gleich mit?« fragte Marie Lene, von ihrem Sessel aufstehend, »oder was hast du im Sinn, Niki Sami?«
»Komme nicht mit«, entgegnete dieser. »Heut hab' ich im Sinn, der Base Dorothea den Fleck nicht zu räumen, bis sie mir sagt, an welchem Tag sie und die Tochter nach Ardez heraufkommen, daß ich mich richten kann.«
»Wir spazieren einmal an einem schönen Nachmittag zu euch hinauf, Vetter, zu richten brauchst du ja doch nichts«, meinte Dorothea.
»Zu uns brauchen die Leute nicht zu Fuß zu kommen, man kann anspannen«, sagte Niki Sami und fuhr so vergnüglich mit seinen Händen in den weiten Taschen herum, daß ein großes Gerassel darinnen entstand, er mußte ein gutes Teil seiner Habe mit sich führen.
»So, so, ihr habt's gut im Sinn miteinander. So macht's aus und berichtet dann auch ein wenig, wie's gegangen ist, daß man auch etwas davon hat«, sagte Marie Lene im Fortgehen.
Niki Sami begann nun, Dorothea zu drängen, daß sie ihm den Tag bezeichne, da man sie einmal in Ardez erwarten könne, der Pate habe auch gesagt, die Basen besinnen sich lange, bevor sie's wagen. »Der Pate hat es ja auch noch nie gewagt, zu uns zu kommen«, warf Dori ein.
»Ja, daran ist immer das Bein schuld, er sagt's wenigstens«, gab Niki Sami zurück; »er ist bequem geworden und steht nicht mehr gern vom Fleck auf. Da kann er das angegriffene Bein gut brauchen, so als Grund, warum er nicht dahin und dorthin kommen kann. Aber es wundert ihn grausam, wie die Basen aussehen, ich habe schon so dann und wann ein Wort der Beschreibung fallen lassen.«
Bei diesen Worten zwinkerte Niki Sami ganz schlau mit den Augen gegen Dorothea hin, so, als wollte er andeuten, daß die Beschreibung nicht übel ausgefallen sei. Dori schlug nun vor, der Besuch sollte noch ein wenig aufgeschoben werden, die Mutter sage ja immer, wie schön es droben in Ardez und in der Umgebung sei, und nun müsse ja alles mit jedem Tag noch schöner werden. Wenn dann das Gras in allen Wiesen, und die Blumen an den Halden recht draußen seien, dann müßte man die Fahrt machen. Niki Sami sah ein, daß er sich noch eine Weile gedulden mußte, bis er mit seinem Fuhrwerk erscheinen könne, denn auch Dorothea war derselben Meinung, die Fahrt müsse noch verschoben werden. Sie dankte aber freundlich für die Einladung und zeigte solche Freude über die Aussicht, an einem schönen Frühlingstag so durch das Land zu fahren, daß der Vetter sich mit dem leidigen Verschieben wieder ein wenig aussöhnte. Aber ohne ein bestimmtes Versprechen wollte er doch nicht gehen; ein solches wollte er nun einmal haben, sagte er, und wenn er bis morgen auf dem gleichen Fleck darauf warten müßte. Da sagte Dori, die Mutter habe ihr erzählt, bei Ardez und droben bei der Ruine wachsen so viele wilde Rosen; wenn diese offen seien, so wollte sie am liebsten kommen, die wollte sie so gerne sehen und die Mutter gewiß auch, das wisse sie. Nun stimmten alle drei überein, zur Zeit der wilden Rosen sollte die Fahrt nach Ardez hinauf stattfinden.
Doktor Strahl war angekommen und hatte seine Zimmer bezogen. Er war ein so stiller, ruhiger Hausbewohner, daß seine Anwesenheit kaum bemerkbar geworden wäre, hätten nicht die kleinen Geschäfte, die für ihn getan werden mußten, jeden Morgen daran erinnert, daß ein Fremder im Hause war. Er machte regelmäßig seine Gänge, wie die Base Marie Lene vorher gesagt hatte; daneben brachte er manche Stunde auf seinem Zimmer zu, wo er wohl recht in seine Arbeiten vertieft sein mußte, wie Dorothea dachte, da sie ihn kaum einmal umhergehen hörte. Traf sie oder Dori einmal mit ihm beim Aus- oder Eingehen zusammen, so grüßte er mit großer Höflichkeit und ging weiter. Jeden Morgen fuhr er nach dem Bad hinauf, und Dorothea hatte Zeit genug, seine Zimmer zu besorgen, was sie mit großer Sorgfalt tat, um sie so wohnlich und angenehm wie möglich zu machen, da sie ja wußte, daß ihr Zimmerbewohner einen guten Teil des Tages darin verbrachte. Damit war für den ganzen Tag alles besorgt, was er bedurfte.
Die ersten Wochen des Juni waren so regnerisch und unfreundlich, daß keine längeren Gänge im Freien unternommen werden konnten, wenn man nicht immer wieder durchnäßt und erkältet zurückkommen wollte. Das mußte Doktor Strahl besonders gern vermeiden, denn er saß an den schlechten Tagen nach dem Morgenausgang fast unbeweglich in seinen Räumen. Endlich teilten sich die Wolken. Gegen Abend warf die Sonne da und dort einen leuchtenden Blick ins Tal hinein, und auf einmal wölbte sich weit über den Pisoc hin ein funkelnder Regenbogen.
»Sieh Mutter! sieh Mutter!« rief Dori, die am Fenster saß, mit Entzücken aus. »O das muß ich recht sehen!« Sie rannte zum Haus hinaus. Als der Bogen erloschen und die Sonne hinter den Bergen verschwunden war, kehrte Dori zurück, einen großen Strauß blühender Zweige der Weißdornhecke mitbringend, an dem noch die frischen Tropfen hingen. »O sieh, wie schön! O nun wird einmal wieder die Sonne kommen!« rief sie der Mutter entgegen. »Aber der Herr Doktor droben dauert mich so sehr! Eben hab' ich ihn getroffen mit dem ganz gleich ernsthaften Gesicht wie immer, gewiß hat er gar nicht gesehen, daß die Sonne wieder kam, und daß es nun so schön werden muß. Er hat gewiß so furchtbar viel auszudenken und in seinem Kopf zu verarbeiten, daß er nicht merkt, wie die Wolken aufgestiegen sind und sich daran freuen kann. Wenn man ihm doch zeigen könnte, wie's nun schön wird! Soll ich ihm nicht von den Zweigen in sein Zimmer hinaufstellen? Die sieht er gewiß gern nach dem langen Regenwetter.«
»Das kannst du ja tun«, sagte Dorothea, »aber stelle sie auf die Seite, aufs Gesims, nicht zu seinen Papieren und Büchern, die auf dem Tisch liegen, es darf nichts davon naß werden.«
Dori ging und stellte sorgsam das hohe Glas mit den Blütenzweigen auf das Gesims. Sie warf einen Blick auf den Tisch hin, der über und über mit Büchern und Schriften belegt war. An dem Platze, wo der Sessel noch stand, den der Doktor wohl eben verlassen hatte, lag ein großes Buch aufgeschlagen, es waren so kurze Linien auf den Blättern zu sehen, das war gewiß ein Lied. Lieder hatten eine unwiderstehliche Anziehungskraft für Dori. Sie konnte nicht widerstehen, schnell zu lesen, was da stand. Sie fing an. – Es war nicht deutsch, was sie las, aber sie verstand ja alles so wohl. O wie schön war es! Nicht wie ein Lied, aber so schön! Sie las weiter, immer eifriger. Jetzt ging die Tür auf, – Dori fuhr zusammen – der Doktor stand vor ihr. Dori wurde dunkelrot bis in die Haare hinauf. »O verzeihen Sie mir's doch, Herr Doktor«, brachte sie endlich in ihrem Schrecken heraus. »Ich wollte nur die Zweige in ihr Zimmer stellen und sah hier das Blatt, es sah so aus wie ein Lied, ich dachte, ich dürfte es vielleicht lesen, aber ich hatte doch keine Erlaubnis dazu.«
»Das ist ja kein Verbrechen, das ich zu verzeihen hätte, beruhigen Sie sich nur«, sagte lächelnd der Doktor, indem er einen Blick auf das Buch warf, um sich zu versichern, daß es wirklich dasjenige war, in dem er eben selbst gelesen und das er offen hatte liegen lassen. »Aber sagen Sie mir«, fuhr er fort, »haben Sie denn auch verstanden, was Sie da gelesen haben?«
»O ja, so gut, und ich sah alles so deutlich vor mir! O ich habe so oft die Sommerabende so gesehen, das war schön!« Dori sprach mit immer steigender Wärme, die ihr von neuem das Blut in die Wangen trieb.
»So lesen Sie leicht Italienisch und sprechen es vielleicht auch?« fragte der Doktor mit Interesse.
»Ja gewiß, gesprochen habe ich es mehr als Deutsch, besonders seit der Vater nicht mehr da war. Ich meine eben daheim, nicht hier; wir sind noch nicht sehr lange hier«, ergänzte Dori.
Doktor Strahl wünschte zu wissen, wo Dori früher gelebt und wo sie die italienische Sprache erlernt habe.
Nun begann Dori von ihrem Vater zu erzählen, von ihrem Leben im sonnigen Felsenhaus hoch über dem blauen See, und je länger sie von ihrer schönen Heimat und ihren Erinnerungen an ihr dortiges Leben erzählte, je wärmer wurde Dori, immer wärmer, immer lebendiger. Plötzlich bemerkte sie, wie der Doktor lächelte, aber ganz ruhig zuhörte. Sie unterbrach sich sofort: »Ich habe gewiß schon zu viel erzählt, Sie müssen wohl lachen über mich. Aber ich glaube, ich erzähle immer zu lang, wenn ich davon anfange. Sie sollten nur wissen, wie schön es dort unten ist!«
Der Doktor sagte, er habe sehr gern der Erzählung zugehört, sie sei ihm gar nicht zu lang vorgekommen. Er wünschte nun zu wissen, was denn ihr Vater mit ihr gelesen habe und sich von ihr habe vorlesen lassen, was ja, wie sie sagte, täglich geschehen sei. Dori berichtete, welche deutschen und welche italienischen Werke er mit ihr durchgelesen und ihr erklärt hatte und welche sie nach seinem Tode in seiner Bibliothek gefunden und dann für sich gelesen und zu verstehen gesucht habe. »Aber es ist gar nicht mehr dasselbe«, schloß Dori, »jeden Tag empfinde ich mehr, was ich an meinem Vater verloren habe. Er konnte mir alles erklären, er wußte so viel, und nun stoße ich beim Lesen auf so vieles, das verstehe ich nicht, und ich sehe wohl, ich sollte so vieles wissen, von dem ich gar nichts weiß, um die schönen Bücher des Vaters zu verstehen. Er hatte immer gesagt, wenn ich älter sei, wollte er sie mit mir lesen. Aber es ist alles anders geworden, seit er nicht mehr da ist, und seit ich Sie sprechen höre, merke ich auch erst recht, wie schlecht ich nun Deutsch spreche. Es spricht auch kein Mensch um mich her, wie mein Vater sprach, nur Sie sprechen so.«
Doktor Strahl nahm das Buch wieder zur Hand; er hielt es Dori hin: »Würden Sie mir nicht einmal das Gedicht, das Sie sich angesehen haben, vorlesen?« fragte er.
»O ja, sehr gern, es ist so schön!« sagte Dori, indem sie das Buch ergriff und mit großer Lebendigkeit die Verse vortrug. Als sie zu Ende war, wollte sie das Buch niederlegen, aber der Doktor sagte: »Nun hab' ich noch eine Bitte: Wollten Sie nicht den Anfang, die vier ersten Zeilen noch einmal lesen und sie mir gleich übersetzen, in einer Weise, daß man den Eindruck davon so ähnlich wie möglich erhielte? Am genauen Worte hänge ich nicht.«
»Meinen Sie in Poesie?«
»Jawohl, wenn das geht«, gab er lächelnd zurück.
Dori las wieder vor:
La donzeletta vien dalla campagna,
Giu sul calar del sole,
Col suo fascio dell' erba, e reca in mano
Un mazzolin di rose e di viole.
Dori schaute vor sich hin, als sähe sie's lebendig vor sich, was sie gelesen hatte. Es mußte ihr gefallen, ihre Augen lachten in Freude und Eifer. Jetzt sagte sie laut, was sie erst leise bei sich in Worte gebracht hatte:
»Vom Feld kommt das Mädchen, der Tag ist aus,
Die Sonne will sich neigen.
Im Arme trägt sie ihr Gras nach Haus,
In der Hand einen duftenden Blumenstrauß
Von Veilchen und Rosenzweigen.«
»Nein, ich übersetze nicht mehr. Sie lachen mich gewiß aus«, sagte Dori jetzt schnell, als sie bemerkte, welch heiteres Lächeln auf ihres Zuhörers sonst so ernstem Gesichte lag.
»Nein, nein, wie sollte ich das tun«, wehrte er entschieden, »ich freute mich nur darüber, wie gut und rasch Sie Ihre Aufgabe gelöst haben. Eigentlich wollte ich nur wissen, ob Sie auch recht verstehen, was Sie da lesen wollten, ich zweifle aber gar nicht mehr daran.«
»Ach so«, sagte Dori lachend, »Sie haben nur sehen wollen, ob ich Ihnen nicht nur etwas vormachen wollte, Sie dachten wohl, ich wisse ganz und gar nichts. Ich glaub' es wohl, ich weiß ja wenig genug.«
»Gar so schlimm wird es ja nicht sein«, sagte der Doktor nun sehr freundlich, »auch habe ich Ihnen durchaus nicht zugetraut, daß Sie mir nur etwas vormachen wollten, an dem nichts war. Ich wünschte, Sie Italienisch lesen zu hören und zu wissen, wie ich Ihr Verständnis der Sprache und Ihre Art zu übertragen zu beurteilen hätte, da ich Ihnen einen Vorschlag machen möchte: Wie wäre es, wenn ich täglich eine Stunde aus den deutschen Werken, die Ihr Vater liebte, mit Ihnen lesen und Ihnen alles erklären würde, was Sie wünschen sollten? Dafür würden Sie mir ein italienisches Werk vorlesen und dazwischen mich vorlesen lassen und mich aufmerksam machen, wo meine Betonung nicht richtig wäre. Sie lesen gut, so viel kann ich schon beurteilen, und nach allem, was Sie mir erzählt haben, müßte es Ihnen nicht unlieb sein, die Werke, die Ihr Vater liebte, mit mir durchzulesen.«
Dori war so entzückt von dem Vorschlag, daß sie erst vor Freude gar keine Worte fand, sie konnte nicht glauben, daß sie wirklich dem gelehrten Herrn gegen die Wohltat, die er ihr erweisen wollte, etwas zu bieten habe. »Ich kann Ihnen gar nicht genug danken für Ihr Anerbieten, Herr Doktor«, sagte sie endlich in hoher Freude, »ich muß es gleich meiner Mutter mitteilen. O, wenn ich Ihnen doch wirklich etwas dagegen bieten könnte!«
»Das können Sie wirklich«, bezeugte er bestimmt und bot Dori die Hand zur Bestätigung.
Dori kam in großer Erregung zu ihrer Mutter zurück, die in Spannung und Verwunderung ihrer harrte, denn sie hatte ihren Hausbewohner eintreten gesehen und seitdem unaufhörlich gelauscht, ob Dori noch nicht herunterkomme. Sie teilte Doris Freude bei ihrer Mitteilung; wie gönnte sie ihrem Kinde diese so lang ersehnte Vervollkommnung der Kenntnisse, die der Vater so sehr für sein Kind gewünscht, daß er so früh, als es nur anging, mit seiner Anleitung begonnen hatte. Leider war ja sein Unterricht so früh abgebrochen worden.
»Wie würde der Vater sich darüber freuen!« waren Dorotheas erste Worte nach der Mitteilung. Bei jeder Frage, die des Kindes Weg und Leben betraf, war ja immer ihr erster Gedanke: »Was würde der Vater dazu sagen?«
Gleich am folgenden Tage, sobald Dorothea hörte, daß Doktor Strahl von seinen Morgengängen zurückgelehrt war, stieg sie in sein Zimmer hinauf, um ihm für sein Anerbieten zu danken und ihn zu bitten, wenn ihn die Sache ermüden sollte, so möchte er es doch gleich aussprechen, vielleicht stelle er sich vor, Dori sei viel vorgerückter in ihren Kenntnissen, als es wirklich der Fall sei, und diese Unterrichtsstunden könnten ihn mehr angreifen, als er sich denke.
Der Doktor beruhigte Dorothea über ihre Besorgnisse und sagte ihr, die gestrige Unterhaltung mit ihrer Tochter habe ihm so viel Genuß bereitet, daß er sich nun selbst wahrhaft darauf freue, die Lesestunden mit der lebendigen Schülerin zu beginnen, wie auch nachher die Schülerin als Lehrerin kennen zu lernen, von welchem Verkehr er keinen geringen Gewinn für sich selbst erwarte. Er wollte noch von Dorothea wissen, ob das Mädchen Gedichte mache für sich, oder viele solche lese.
Sie antwortete, das erstere glaube sie nicht, sie wenigstens wüßte gar nichts davon. An Gedichten habe schon ihr Mann viel Freude gehabt und Dori viel solche auswendig lernen lassen. Auch habe er soviel mit seinem Kinde gesungen, daß die Tochter eine Menge von schönen Liedern kenne.
Das weltabgeschiedene Leben, das der Maler mit seiner Familie in der schönen Gegend geführt hatte, beschäftigte den Doktor lebhaft, er hatte immer noch eine Frage darüber an Dorothea zu tun, und sie erzählte gern von den schönen, vergangenen Tagen.
Dori sah ihrem neuen Unterricht mit solchem Verlangen entgegen, daß sie seit gestern an nichts anderes mehr dachte und nur immer befürchtete, es könnte noch ein Hindernis aufsteigen und sie ihres Glückes berauben. Als die Mutter so lang von ihrem Besuche nicht wiederkehrte, sah Dori ihre Befürchtung schon verwirklicht und ganz niedergeschlagen rief sie der endlich eintretenden Mutter entgegen: »Ja, ich kann mir's schon denken, natürlich, nachdem er nachgedacht, hat er eingesehen, wieviel Zeit er verlieren würde, und nun ist ihm alles verleidet; er will nicht mehr.«
Aber die Mutter konnte Dori beruhigen, daß es nicht so sei, daß der Herr Doktor gleich morgen beginnen und immer die Stunden des Vormittags zu dem gemeinsamen Lesen verwenden wolle, so komme am wenigsten Störung hinein.
Dorothea konnte gar nicht genug sagen, wie freundlich der sonst so einsilbige Mann mit ihr gesprochen und allen ihren einfachen Beschreibungen, die sie ihm von ihrem Leben in Cavandone gemacht, zugehört und immer weiter danach gefragt hätte.
»Hast du auch gesehen, wie viele graue Haare ihm schon zwischen den schwarzen durchschimmern, Mutter?« fragte Dori, »und er kann doch gewiß noch nicht alt sein?«
»Nein, alt ist er wohl noch nicht, aber er kann ja Kummer und Leid gehabt haben, das macht früh grau. Ich habe schon oft gedacht, wenn er so gedankenvoll dahinging, wenn er nur keinen Kummer in sich trägt!« sagte Dorothea teilnehmend.
»Nein, nein, Mutter«, wehrte Dori, »du siehst so bald einen Kummer bei den Menschen, er hat gewiß nur so schrecklich viel zu denken, man kann es sehen, er schaut ja weder rechts noch links, wenn er so vom Haus weg stürmt. Er weiß gewiß alles, was der Vater wußte, und vielleicht noch mehr, glaubst du nicht auch? Er ist auch wohl so alt, wie mein Vater jetzt wäre, nicht?«
Die Mutter meinte, das sei er jedenfalls, vielleicht noch etwas älter. »Dein Vater war 38 Jahre, als er starb. Du warst damals 12 und wirst nun 17«, rechnete Dorothea, denn sie ging immer den Persönlichkeiten nach, um die Jahre zu finden, »also wäre der Vater nun 43 Jahre. So alt mag der Herr Doktor auch sein, mehr aber nicht. Aber wissen kann er ja wohl mehr, als dein Vater wußte, er muß ja soviel studiert haben. Ich weiß nun, daß er Professor der Sprachen ist, er sagte mir's, darum will er auch so gern Italienisch mit dir lesen. Wie wird er dir alles erklären können! Er kennt natürlich die Sprache ganz anders als du, aber er sagte, er sei nie länger in Italien gewesen und höre darum gern das Italienische vorlesen, so wie es sein muß. Du mußt dir Mühe geben, Dori!«
»O das weiß ich ja schon, Mutter, meinst du, das habe ich nicht gleich im Innersten gefühlt, wie schrecklich nichtig ich zum Vorschein kommen werde?« rief Dori aus; »ich begreife ja durchaus nicht, daß er von mir etwas hören will, aber auf diese Lesestunden freue ich mich doch so sehr, wie ich gar nicht sagen kann.«