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Dori hatte an die alte Maja geschrieben, um ihr zu erzählen, wie es ihr selbst und der Mutter ergehe, und dann auch zu vernehmen, wie Maja weiter mit den Kindern lebe. Dori wußte wohl, daß die Alte weder lesen noch schreiben konnte, aber Giacomo konnte beides für sie tun, Dori hatte ihn doch nicht vergebens so eifrig unterrichtet. Endlich erschien dann auch eine Antwort von Giacomo. »Der arme Kerl ist nicht frohen Mutes, das kann ich in jeder Zeile lesen, wenn er schon nichts davon schreibt«, sagte Dori, als sie den Brief gelesen hatte und ihn nun der Mutter übergab. Es war ein kurzer Brief; darin stand, die Großmutter sei gesund. Vor kurzer Zeit sei der Vater heimgekommen und sei sehr erstaunt gewesen, daß er alles bei ihnen daheim in so guter Ordnung gefunden hatte, und besonders, daß die Kinder alle drei lesen und schreiben konnten. Die Großmutter habe ihm gesagt, wer das alles getan habe, und der Vater lasse vielfältig Dank sagen dafür. Er habe dann erzählt, in Genf habe er gute Arbeit gefunden und wolle zurückkehren, und weil es so gut stehe mit seinem Erlernten, so wollte er ihn, den Giacomo mitnehmen. Aber er hätte nicht gehen können, um keinen Preis; da habe der Vater den Detto mitgenommen, der gern ging. Er selbst arbeite nun bei den Brüdern, welche die große Gärtnerei in Pallanza hielten; dann setzte er noch kleinlaut hinzu: Verdienen könne er für einmal gar nichts, aber Dori sollte doch nur nicht glauben, daß es sei, weil er nicht arbeiten wolle, was er ihr doch versprochen habe, er arbeite gewiß von morgens früh an, immerfort aus allen Kräften, bis zur Nacht, denn zu tun gebe es genug da. Alle untere Arbeit, welche die Gärtner nicht tun wollten, habe er zu verrichten, aber es müsse nun so sein. Die Großmutter sage auch, er solle nur so fortfahren, sie könne sich nun gut durchbringen und ihm auch dann und wann noch zu Kleidern verhelfen. Die Marietta habe so gut stricken und nähen gelernt, daß sie schon für andere Leute etwas arbeiten könne. Dann kam ein Gruß und Giacomos Unterschrift; so kurz, als fürchtete der Schreiber sich vor allen persönlichen Annäherungen und wollte so schnell wie möglich darüber hinwegkommen.
»Wenn der Giacomo nur nichts angestellt hat«, sagte Dori plötzlich, als ihre Mutter den Brief gelesen hatte und ihn hinlegte.
»Was fällt dir denn ein, Dori, der verständige, ordentliche Junge, er hat ja doch nie was Krummes gemacht«, entgegnete die Mutter.
»Ich weiß auch gar nicht, was er gemacht haben könnte«, fuhr Dori fort, »es ist nur etwas in dem Brief, sowie wenn Giacomo nicht recht herausreden wollte. Warum soll er auch gar nichts von dem Gärtner bekommen, wenn er so arbeiten muß, wie er sagt? Und was er sagt, ist gewiß so, ich meine nur, er sagt nicht alles heraus, da könnte nicht alles in Ordnung sein.«
»Das ist nichts so Sonderbares, daß er keinen Lohn erhält«, meinte Dorothea, »wenn er Gärtner werden will, so wird er in die Lehre eingetreten sein, da hat keiner Lohn für die erste Zeit.«
»Es ist aber gar nicht so, als sei er in der Lehre, wenn er tun muß, was keiner der Angestellten tun will; oder dann tut der Meister mit ihm, wie es nicht recht ist. Vielleicht kommt's besser im nächsten Brief.«
Dori war in diesem Augenblick gar nicht geneigt, schweren Gedanken nachzuhängen; so war sie froh, daß die Mutter die Sache anders ansah, und freute sich gern mit darüber, daß es der alten Maja und ja auch den Kindern wohl ging. So steckte Dori schnell ihren Brief ein und sagte: »Ich meine, ich sollte nun die Nonna wieder einmal besuchen.«
Dorothea lächelte. »Ja wohl, tu du das nur, Kind«, sagte sie beistimmend, »ich muß mich nur verwundern, daß es dir nun so oft einfällt, du solltest die Nonna besuchen, und früher mußte ich dich immer treiben dazu.«
»Das ist wirklich wahr, Mutter«, bestätigte Dori, »aber jetzt ist auch alles so anders geworden hier, es ist ja gerade wieder wie damals, als wir mit dem Vater lebten, so herrlich und so reich ist jeder Tag, daß man sich nur immer freuen kann vom Morgen auf den Abend und wieder auf den kommenden Tag. Eine ganze neue Welt ist vor mir aufgegangen in den vierzehn Tagen, da der Herr Doktor mit mir liest und mich so viel Neues, Schönes, Herrliches kennen lehrt. O es ist wieder ganz wie mit dem Vater! Alles kennt er und macht es mir klar und sagt mir, was ich weiter darüber lesen kann. O wie ist das so anders, als wenn ich allein die Bücher vom Vater lesen wollte und überall anstand, weil ich so vieles nicht verstehen konnte. Und siehst du, Mutter, jeden Tag geht etwas Neues, Schönes vor meinen Augen auf und in mir selbst, und alles um mich und in mir wird wie weiter und größer und reicher. O es macht mich so glücklich und froh, ich möchte nur immer laut aufsingen, den ganzen Tag.«
»Das tust du auch nahezu«, schaltete Dorothea hier ein.
»Und nun will ich dir sagen, Mutter, warum ich alle zwei Tage zur Nonna laufe«, fuhr Dori in ungedämpftem Eifer fort. »Ich gehe ja schon gern zu ihr, sie ist immer so gut und freundlich, aber ich bleibe dann gar nicht so lange bei ihr, wie ich fortbleibe, ich denke nur, ich muß doch einen Grund haben, wenn ich so fortlaufen will. Aber siehst du, es ist mir eigentlich mehr ums Hinauslaufen, als um den Besuch zu tun. Dort auf der Höhe über der Brücke wird es nun so schön, es kommen alle Blumen heraus, die Enzianen, die goldenen Sonnenröschen und die roten Steinnelken. Manchmal setz ich mich dort mitten auf den Boden hin auf der sonnigen Weide, und es ist so wonnig zu sehen, wie sie herausquellen zu ganzen Büschen, von einem Tag auf den andern, die rot und blau und gelb schimmernden Blumen, und die Augen so gern zur Sonne auftun, daß sie warm hineinleuchte. Und nachher lauf ich den Berg hinauf, und dann kommt der Weg oben auf der Höhe gegen die Häuser von Vulpera hin, der ist mir so lieb geworden! Da geht es so dem Abendlicht entgegen und ringsum ist's so still und schön. Da geh ich immer langsam, es reut mich jedesmal, wenn ich am Ende bin und die Häuser kommen. Aber dort mach ich gewöhnlich noch einen Halt und der freut mich immer, dort, wo links am Weg die einzelne Villa steht. Dort arbeitet nun fast jeden Tag der Gärtner Melchior in dem kleinen Garten. Er schneidet das Gebüsch und die Bäumchen zurecht. Er soll alles ordnen, daß es ringsum ein wenig freundlich aussieht. Ein kranker Herr hat die Zimmer gemietet, sagt Melchior, und da er nicht weit gehen kann, möchte er's doch im Garten ein wenig nett haben. Mit dem Melchior habe ich dann jedesmal ein Gespräch, wenn er dort ist. Den habe ich so gern! Und immer sagt er etwas, worüber man nachdenken muß. Nachher lauf ich dann aus allen Kräften zum Kurhaus hinunter und den Waldweg zurück hierher. Dort wird es nun auch schön geworden sein, aber ich stehe nicht mehr still, ich bin immer so spät, daß ich nur zu rennen habe, um heim zu kommen, bevor es Nacht wird.«
»Nun begreif ich, warum du immer so atemlos ankommst«, sagte Dorothea zufrieden lächelnd. »Hab ich dir's nicht gesagt, Dori, daß es auch schön ist hier? Jetzt fängst du an, es zu sehen. Sag es auch der Nonna, daß du siehst, wie schön das Land ist, sie hört es gern.«
Das wollte Dori schon gern tun. Jetzt setzte sie ihren runden Hut auf den Kopf und machte sich auf den Weg. Noch auf der Hausschwelle stimmte sie an und in hellen Tönen erklang ihr Lied:
»Rote Wolken am Himmel,
Wilde Rosen im Hag, . . .
Und ich freu' mich, ja ich freu' mich
Am sonnigen Tag.«
Das ganze Lied wurde durchgesungen, und sogar die Worte:
»Und die Freude, ja die Freude
Verweht wie ein Traum« –
hallten wie lauter Freude durch das Tal, und noch jubelnder tönte der Schlußgesang:
»Ein jeder neue Frühling
Bringt die Rosen zurück.«
Dori war auf der kleinen Steintreppe am Hause der Nonna angekommen und trat ein.
»Sing du nur zu, ich höre es gern«, rief die alte Nonna Dori entgegen.
»Ich will schon«, sagte Dori und sang ihren Schlußvers gleich noch einmal.
»So, das tönt ganz erfreuend«, sagte die Nonna, »nun setz dich hier zu mir, Dori, und erzähl mir, was ihr macht und wie ihr's habt, du und die Mutter. Mir scheint, der Frühling gefällt dir hier?«
Dori bestätigte diesen Eindruck und erzählte der Nonna, wie es in ihrem kleinen Haushalt zuging, und daß die Mutter auch so zufrieden und heiter sei, wie man nur wünschen könne, fast wieder so, wie sie in den frühern Zeiten gewesen, deren Dori sich sehr deutlich erinnerte. Das hörte die Nonna gern.
Noch nicht viel anderes hatte Dori weiter berichtet, als mit einem gewaltigen Ruck die Türe aufging, es war Niki Sami, der hereintrat. Er lachte von einem Ende des Gesichtes bis zum andern, als er Dori erblickte, und rief ihr gleich zu: »Das ist recht, daß du mir entgegenkommst, gerade von der Nonna weg wollte ich zu dir hinauf; da sieh!« Er hielt ihr einen Gegenstand so dicht unter die Augen, daß Dori gar nichts sehen konnte.
Sie entfernte seine feste Hand ein wenig; es war eine halb offene wilde Rose, die er ihr entgegenhielt. »O, die ist schön! Noch habe ich gar keine gesehen hier. Wo hast du sie gefunden?« fragte Dori, die Rose selbst feststeckend, die Niki Sami jetzt ihr aufstecken wollte.
»Ja, wo? Gelt, wenn ich es dir nur gleich sagte!« gab er zurück. »Komm du nur zuerst zu uns herauf, dann sag ich dir's, wo die Rosen sind, ganze Sträuche voll.« Er erzählte nun der Nonna, auf die Zeit der wilden Rosen hin sei der Besuch verschoben worden, und nun sei er gekommen, um zu zeigen, daß die Zeit da sei.
Die Nonna nickte zustimmend und sagte, Dori werde Freude haben, den Besuch zu machen und das schöne, neu aufgebaute Haus in Ardez zu sehen, mit den angebauten großen Stallungen und den luftigen Böden oben drüber. Sie selbst hätte sich recht gefreut, da überall herumzugehen, wo alles so gut aussehe. Da werde Dori dann noch ganz andere Dinge anzuschauen haben, als nur wilde Rosen, deren es droben im Gestrüpp am alten Turm haufenweis gebe.
Dori stand jetzt auf und sagte, sie wolle nun gehen, Niki Sami werde wohl noch ein wenig mit der Nonna reden wollen, unterdessen mache sie noch einen Umweg und treffe dann mit Niki Sami daheim wieder zusammen, er komme ja nachher zm Mutter hinauf.
Aber davon wollte der Vetter nichts wissen: »Du brauchst keinen Umweg zu machen, komm du nur geraden Weges mit mir«, sagte er auflachend, denn es war ihm so, als habe er unversehens etwas ganz Bedeutsames gesagt. »Und mit der Nonna habe ich keine Geheimnisse, du kannst schon hören, was wir sprechen, oder nicht, Nonna?« Diese bestätigte Niki Samis Worte und war auch seiner Ansicht, Dori könne wohl auf den Vetter warten, da er doch eigentlich um ihretwillen gekommen sei, dann können sie den Weg zur Mutter hinauf miteinander machen. So hatte Dori zu bleiben. Es ging aber viel weniger lang, als sie im Sinne gehabt, auf ihrem Umweg zu verweilen.
Nach einem kurzen Gespräch mit der Nonna brach der Vetter auf und die beiden stiegen zusammen die Halde hinan.
Niki Sami hatte es eilig, zu Dorothea hinaufzukommen, um die bevorstehende Fahrt mit ihr zu besprechen. Schon beim Eintreten rief er, seine Blume hoch aufstreckend: »Base Dorothea, die wilden Rosen sind offen!«
Dorothea war denn auch ganz einverstanden, daß der erste schöne Tag für die Fahrt benutzt werden sollte, wie der Vetter erst vorschlug. Dann meinte er aber selbst wieder, so sei die Abrede unsicher, es müsse ein Tag festgesetzt werden. Morgen wär's Freitag, das sei ein krummer Tag, meinte Niki Sami, er wolle nicht, dah etwas krumm gehe. Am Samstag war kein Mensch vor Fegen und Putzen seines Lebens sicher, fand er, und auch Dorothea wollte lieber, daß ein anderer Tag gewählt würde. Am Sonntag wollten die beiden Basen erst in die Kirche gehen. Dann würde es viel zu spät, behauptete der Vetter, denn er wollte sie am Morgen zum Mittagessen abholen. So wurde der Montag festgesetzt.
Als Niki Sami am Abend heimkehrte, saß der Pate erwartungsvoll auf seiner Ofenbank und blies die Rauchwolken aus seinem Pfeifchen. »Nu, was jetzt? Wird's bald?« fragte er, als Niki Sami sich hinsetzte, seine Hände in die Taschen steckte, ein wenig rasselte und dann zu pfeifen anfing.
»Am Montag«, sagte der Neffe jetzt und pfiff befriedigt weiter.
»So, mich nimmt nur wunder, ob's nicht vorher noch Neujahr wird«, bemerkte der Pate gelassen.
Jetzt hörte der Neffe auf zu pfeifen und sagte ärgerlich: »Bin ich denn schuld daran, daß der alte Pfarrer ihnen in den Kopf gesetzt hat, wenn sie nicht alle Sonntage ihre sechs Stunden und noch mehr in der Kirche sitzen, so haben sie's verspielt? Wenn ich den einmal auf einem Weg treffe, so will ich's ihm werden lassen, dem – dem –«
»Du redest, wie du bist, alles in den Tag hinein und ohne Vernunft«, setzte der Pate ein, da der Neffe den Ausdruck seines Gefühls nicht zu finden schien. »Jetzt will ich dir etwas sagen, denn du bist noch jung und unerfahren und bist sonst kein Phönix: Wenn du etwa einmal daran denken solltest, eine Frau zu nehmen, so sieh darauf, daß es eine ist, die in die Kirche geht; da hört sie doch nur etwas Gutes und der Mann hat den Profit davon. Und eine Frau, die an dem Freude hat und danach tut, und darum sozusagen vor ihrem Herrgott lebt, die richtet ihr Haus nach seinem Wohlgefallen ein, das bringt Ordnung und eine gute Art mit sich, so daß alles im Frieden zugeht. Das ist durch die ganze Welt so, du kannst hinkommen, wohin du willst. Und dann will ich dir noch etwas sagen: Es weiß kein Mensch, wohin er kommen kann, und was er etwa noch brauchen könnte. So religiöses Wesen und dergleichen hat ja ein Mann gerade nicht so nötig, aber die Frau muß das haben, so als Halt und Stütze, weil sie das braucht, und dann ist es gut für den Mann, daß sie das hat und kennt, wenn er etwa im Notfall doch auch einmal so etwas nötig haben sollte, dann kann sie ihm doch gleich beistehen und ihm sagen, wie es zu finden ist.«
Niki Sami pfiff wieder. Der Pate blies seine Wolken vor sich hin, es war die gewöhnliche Weise, wie die beiden ihre Stunden zusammen zubrachten, wenn sie miteinander zu Hause waren.