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Dori saß am andern Morgen nachdenklich vor ihrem Frühstückschüsselchen und wartete die Mutter ab, die draußen ihre Aufträge an die Salz-Peppe erteilte. Wäre die alte Maja draußen gewesen, Dori wäre schon lange hinaus gerannt, aber die Art der Salz-Peppe war nicht ansprechend für Dori. Es war die Frau, die im Hause die grobe Arbeit zu tun hatte und auch den Garten bearbeitete. Ihren Zunamen hatte die Peppe schon immer getragen, seit sie mit ihrem Mann den kleinen Salzladen besessen hatte, der längst in andere Hände übergegangen war; sie hatte auch lange schon den Mann verloren. Es gab auch Leute, die sagten, die Salz-Peppe habe ihren Namen von dem gesalzenen Wesen her, das ihr eigen war. Dorothea ließ die Frau auch immer lieber machen, was diese wollte, als daß sie ihr viel einredete, denn die gesalzenen Reden, die sonst erfolgten, scheute Dorothea. Die Salz-Peppe war auch sonst eine rechtschaffene Person und verrichtete ihre Arbeit recht, und wenn sie diese nun auch nach ihrem Kopfe tun wollte, so wäre das nie ein Grund gewesen für Dorothea, sie nicht mehr zu beschäftigen. Auch hatte ja ihr Mann die Frau angestellt, das war Grund genug für Dorothea, sie ferner im Dienste zu behalten. Dori hatte sich aber nie zu ihr gehalten, sie hatte alle nötige Hilfe immer bei der alten Maja gesucht, die schon die Pflegerin ihrer ersten Tage gewesen und auch die Hauptstütze der Mutter in all den Jahren geblieben war. Die Salz-Peppe verließ auch immer das Haus, sobald ihre Arbeit fertig war und ging nach ihrer entfernten Behausung; die alte Maja dagegen war ja die nächste Nachbarin.
Als die Mutter mit ihren Aufträgen zu Ende war und nun wieder hereintrat, sagte Dori unverzüglich: »Mutter, es sieht bei Tag noch ganz aus wie bei Nacht, und wenn man es so machen würde, so könnte man sich doch ein wenig daran freuen.«
Die Mutter schaute Dori ganz verwundert an; sie hatte keinen Augenblick daran gedacht, daß das Kind mit einem unausgesprochenen Gedanken hatte einschlafen müssen, noch daß es mit ihm wieder erwachen würde. »Ich weiß gar nicht, wovon du redest und was du meinst«, sagte sie.
»Ich meine, wenn ich nun allemal in der Zeit, da der Vater mit mir las und mich etwas lehrte, zur Maja hinübergehen würde, dann könnte ich die kleinen Kinder auch etwas lehren, daß sie ein wenig still sitzen würden, sie plagen sonst die alte Maja ganz zu Tode. Meinst du nicht auch, der Vater würde sagen, ich solle das tun?«
Dorothea wußte sogleich, daß der Vater das gut finden würde, und so fand sie es auch ohne alle Einwendung, denn was ihr Mann gut geheißen hätte, das war für Dorothea unumstößlich etwas Gutes. Dori holte gleich Griffel und Tafel und alle alten Bücher hervor, vom allerersten an, das sie mit dem Vater gebraucht hatte, und wanderte schwer beladen zur alten Maja hinüber. Diese konnte vor Freude gar nicht daran glauben, daß Dori mit ihrem Vorhaben Ernst machen wollte, denn daß noch jemand da sei, der ihr in ihrer Not beistehen würde, das hatte die alte Maja nicht für möglich gehalten. Sie hatte nichts anderes vor sich gesehen, als daß sie mit den drei Kindern so fort machen müsse, bis sie am Ende sei, was nicht lang dauern könne. Daß Dori ihr zu Hilfe kommen wollte, kam ihr wie ein Wunder vor, sie mußte immer noch einmal fragen, ob Dori auch wirklich so etwas im Sinne habe. Dori begehrte nun, daß Maja gleich an ihre eigene Arbeit gehe und ihr die drei Kinder überlasse, dann wollte sie schon zeigen, was sie im Sinne habe. Mit einem so tiefen Atemzug, als hätte sie schon lange keinen schöpfen können und müßte es jetzt nachholen, ging die alte Maja nach ihrer Küche hinaus, und mit so leichtem Schritt trug sie jetzt ihre zwei Kesselchen dem Bache zu, als wäre sie eben um zehn Jahre jünger geworden, denn nun konnte sie ja gehen, ohne daß drei Kinder an ihr hingen und sie dahin und dorthin rissen. Was ihren Schritt aber am leichtesten machte, das war das erleichterte Herz, in das einmal wieder die Hoffnung eingekehrt war, daß noch ein Fortkommen möglich sei, es wollte ihr ja jemand beistehen.
Die erste Unterrichtsstunde fing nicht so an, wie Dori es sich gedacht hatte. Giacomo stellte sich in eine Ecke und schaute Dori mit finstern, schwarzen Augen dann und wann rasch aufblitzend an und rührte sich nicht. Sie konnte freundlich oder ernsthaft ihn zu sich her an den Tisch rufen, auf dem die Griffel, die Lehrbücher, die ganze und die zerbrochene Schiefertafel ausgebreitet lagen, er kam nicht. Detto machte Purzelbäume, schlug die Stühle über den Haufen und versuchte auf dem Kopfe zu stehen. Die kleine Marietta schoß erst hin und her wie ein Kreisel, dann in die Kammer der Großmutter hinein, riß dort an den Bettstücken herum, bis eins nach dem andern am Boden lag. Dori konnte rufen soviel sie wollte, sie konnte den Kindern nachlaufen und sie mit aller Macht ziehen und festhalten wollen, es half alles nichts, die beiden waren völlig wie zwei kleine, wilde Katzen, die auf keine vernünftigen Worte hören. »Mit euch zweien will ich auch gar nichts mehr zu tun haben«, sagte Dori endlich voller Entrüstung, »mit euch kann man nichts machen. Giacomo ist doch noch ruhig. Komm doch endlich hierher zu mir, Giacomo«, rief sie dem Buben freundlich zu; »komm, ich erzähl' dir eine schöne Geschichte von einem Wolf und sieben Geißlein.«
Giacomo lehrte sich gegen die Wand, legte den Arm über seine Augen und kam nicht. Aber Detto hatte aufgehört Sprünge zu machen. Er kam jetzt neugierig heran und sagte: »Erzähl es mir.«
»Ja, das will ich. Komm auch, Marietta, hör die schöne Geschichte!« rief Dori lockend in die Kammer hinein, wo die Kleine noch immer fortriß, so daß bald das ganze Bett der Großmutter auf dem Boden sein mußte. Sie kam nicht. »So komm, Detto, du mußt die Geschichte hören, die andern lassen wir machen, was sie wollen, sie sind recht störrig. Es war einmal ein böser Wolf«, begann Dori.
»Warum war er bös?« unterbrach sie Detto.
»Ja, siehst du, er ist von Natur ein böses Tier und beißt alle Menschen, wo er sie antrifft«, fuhr Dori fort.
»Dann beiß' ich ihn auch«, sagte Detto drohend und zeigte die ganze Reihe seiner weißen Zähne.
»Das wirst du wohl bleiben lassen, wenn du ihn einmal siehst mit seinen furchtbar bösen Augen und der großen, roten Zunge, mit der er immer nach Blut lechzt.« Dori schilderte getreu nach dem lebhaften Eindrucke, den sie schon als kleines Kind vom Wolf in ihrem Bilderbuch empfangen hatte. »Ich will dir ihn dann einmal zeigen, Detto.«
«Jetzt! jetzt! zeig mir ihn jetzt!« drängte der Junge nun mit so erwartungsvollen, weit aufgerissenen Augen, daß Dori den Wunsch gewähren mußte. Sie lief schnell heim und kehrte alsbald mit einem großen Buch unter dem Arm zurück. Der Vater hatte ihr nur geschenkt, was ihm selbst gefiel, und das Buch mit den großen, farbigen Bildern war eine besonders schöne Weihnachtsgabe gewesen, die Dori immer noch hoch hielt. Sie schlug gleich das Blatt auf, wo der große, lechzende Wolf mit den glühenden Augen nach den Geißlein schaute. Detto war ganz überwältigt, so etwas hatte er in seinem Leben nicht gesehn. Er hielt Dori an der Schürze fest und schaute unverwandt auf das lauernde Tier.
»Springt es nicht heraus?« fragte er leise.
Dori beruhigte ihn darüber, aber ganz nahe herantreten wollte er doch nicht.
«Frißt er sie?« fragte er teilnehmend.
»Ja, er frißt sie«, bestätigte Dori, »und nun will ich dir alles erzählen«, und sie begann von neuem und erzählte die Geschichte von den ungehorsamen Geißlein, die sollten die Tür geschlossen halten und sie doch aufmachten. So kam der Wolf herein und verschlang sie, eines nach dem andern. Die kleine Marietta war auch wieder herausgerannt, und da sie die schönen Farben erblickt hatte, war sie herangekommen und hatte, lauschend und mit großen Augen das Bild betrachtend, während der Erzählung neben Detto gestanden. Die Geschichte, so angesichts der ganzen, handelnden Gesellschaft angehört, machte einen großen Eindruck auf Detto.
»Hätten sie lieber der Alten gefolgt«, sagte er, sichtlich bekümmert um die Geißlein, die gefressen sein mußten.
»Siehst du nun, Detto, wie es gehen kann«, sagte Dori. »Wenn du der Großmutter nicht folgen willst, so kann auch einmal etwas Schreckliches kommen, das du lieber nicht wolltest. Denk nur an die Geißlein, du auch, Marietta!« Nun machte Dori das Buch zu und sagte, es sei Zeit, daß sie heimgehe.
Aber nun hingen sich die Kinder an sie und wollten sie nicht gehen lassen und wollten immer noch einmal die Geißlein sehen, bevor sie gefressen wären. Aber Dori sagte, heute nicht mehr, morgen käme sie wieder und dann sollten sie ein neues Bild sehen, ein so schönes, wie sie sich gar nicht denken könnten. Als Dori gegen die Tür kam, wo Giacomo die ganze Zeit regungslos gestanden hatte, sah sie, daß er sein Gesicht völlig in die Ecke hineindrückte und leise schluchzte.
»Was hast du, Giacomo?« sagte sie freundlich. »Warum kamst du denn nicht zu uns heran? Wolltest du von der Geschichte nichts hören, die ich erzählt habe?«
»Die Mutter hat uns auch erzählt«, sagte er schluchzend.
»Dann hörst du's ja gern«, fuhr Don fort, »warum bist du denn so störrig und sagst gar nichts und kommst nicht zu uns heran und bist ein wenig fröhlich mit uns?«
»Die Mutter kommt ja nie mehr«, schluchzte er hervor und brach nun in lautes Weinen aus.
»O du armer Giacomo«, sagte Dori und faßte den Jungen um den Hals, »nun weiß ich schon, wie es dir ist; mein Vater kommt auch nie wieder«, und nun brach auch Dori in Weinen aus und alle freundlichen Worte ihres Vaters und sein ganzes, liebes Wesen stiegen vor ihr auf, und in ihrem Herzen tönte es wieder und wieder: Er kommt nie mehr. Und wie sie neben sich den armen Knaben so bitterlich schluchzen hörte, sagte sie wieder: »Ich weiß schon, wie es dir ist, Giacomo, es ist mir gerade so wie dir.«
Giacomo hatte Doris Hand erfaßt; er hielt sie immer fester. Nun hatte er jemand gefunden, der wußte, wie es ihm war, und der mit ihm um die Mutter weinte. Die gute Großmutter hatte ja keine Zeit dazu und jammerte nur immerfort über alles Elend, und den Vater hatte er gar nicht mehr gesehen, seitdem die Mutter tot war. Niemandem hatte er sagen können, wie es ihm war, daß alles für ihn leer und aus war. Die Mutter war nirgends mehr und ein furchtbares Gewicht auf dem Herzen erwürgte ihn fast. Nun wußte Dori, wie es war und weinte mit ihm, und er konnte auch einmal recht herausweinen, und dazu hielt Dori liebevoll ihren Arm um seinen Hals geschlungen, so wie die Mutter getan hatte und sonst niemand tat, und zum erstenmal seit dem schrecklichen Tag, da die Mutter die Augen geschlossen, fühlte Giacomo das schwere Gewicht auf seinem Herzen ein wenig leichter werden. Aber nun mußte Dori gehen, es wurde ja schon Nacht. Giacomo hielt sie noch fest an der Hand, er wollte bis zuletzt bei ihr sein. Detto hielt sie an der Schürze fest und Marietta hinten am Schürzenband. So kamen sie heraus. Die alte Maja kam eben aus dem Holzbehälter hervor. Ihre betrübte Miene hatte sich etwas gelichtet.
»Ach, Dori, mir ist es wie ein Wunder, daß ich auch einmal wieder etwas fertig bringen konnte und zwei Schritte vor mich sehen kann. Ach, wie dank' ich dir's, du weißt nicht, was es ist, wenn man nichts mehr vor sich sieht und wie erdrückt wird von einem Berg von Lasten und Sorgen und die Kraft nicht mehr hat für die Kinder. Wie hast du's nur gemacht, daß sie still waren bis jetzt? Ach, Dori, ich darf es nicht sagen, aber wenn du mir so alle Wochen einen halben Tag diese Kinder abnehmen wolltest, so wie du's verstehst, sie hängen ja alle drei an dir, als wollten sie dich nicht mehr loslassen! Aber was würde die Mutter sagen?«
»Alle Tage komm ich nun, Maja, ich verspreche dir's, und der Mutter ist es auch recht; aber nun erwartet sie mich, gute Nacht!« Dori machte die kleinen Hände, die sie immer noch festhielten, los, und rannte davon.
Ihrem Versprechen gemäß trat Dori am andern Tag um dieselbe Stunde aus ihrer Tür. Sobald sie in Sicht war, kam Giacomo ihr entgegengelaufen; er hatte schon lange gelauert, ob sie erscheinen werde. Sowie Detto und Marietta das große Buch unter Doris Arm erblickten, kamen auch die beiden herangerannt; sie wollten sehen, ob der Wolf die Geißlein gefressen habe, oder ob sie noch da seien. Aber diesmal ging es nicht, wie sie meinten, nun wollte Dori ihren Willen haben; heute mußte das Lernen beginnen. Ein neues Bild und die Geschichte dazu sollten das Ende der Lehrstunden bilden, wenn diese gut ausgefallen sein würden. Dori holte nun, was nötig war, aus der großen Tasche hervor, die sie wieder mitgebracht hatte, und es begann ein regelrechter Unterricht im Schreiben. Dori wußte noch sehr gut, wie da angefangen und fortgefahren werden mußte, war es doch noch gar nicht sehr lange, seit sie selbst mit ihrem Vater dieselbe Arbeit von Anfang an durchgemacht hatte. In dieser ersten Lehrstunde machte Dori eine Erfahrung, die sie mit großer Freude erfüllte und einen ganz neuen Eifer für ihre Lehrtätigkeit in ihr erweckte. Mit der größten Leichtigkeit erfaßte der achtjährige Giacomo alles, was Dori ihm beibrachte, führte es so gut aus, als es zu tun war, und vergaß es nicht wieder.
Als so die ersten Lehrstunden zu Ende waren, hatte Giacomo eine Reihe schöner Buchstaben hingeschrieben und kannte sie alle einzeln, ohne sich zu irren. In seinen dunkeln Augen war der finster blitzende Ausdruck verschwunden; sie glühten jetzt voller Lerneifer und schauten immer wieder erwartungsvoll zu Dori auf. Auch die kleine, fünfjährige Marietta war tätig geworden und machte dem Giacomo alle Strichlein ganz genau nach, wie ein kleines Äffchen, denn sie hatte einen großen Nachahmungstrieb; aber ihre kleinen Buchstaben konnte sie nicht voneinander unterscheiden. Der siebenjährige Detto machte ganz erstaunliche Figuren, er meinte, die Hauptsache sei, daß die Tafel zu Ende überkratzt sei, daß man zum Wolf und den Geißlein übergehen könne. Heute war es völlig dunkel geworden, bevor Dori zu Ende gekommen war mit allem, was sie sich zu vollführen vorgenommen hatte. Denn nachdem der Unterricht beendet war, mußte ja das versprochene Bild gezeigt und die Geschichte dazu noch erzählt werden.
Völlig erfüllt von dieser wunderbaren Geschichte drängten sich alle drei Kinder immer noch näher an Dori heran, um kein Wort davon zu verlieren, als die alte Maja hereinkam und ausrief: »O du guter Engel, Dori, bist du denn noch da! Mir ist, es sei mir alle Sorge abgenommen, seit ich nun von Tag zu Tag weiß, daß du wieder kommst!«
»Großmutter! Großmutter!« schrieen die Kinder alle auf einmal, »sag nichts mehr, sei doch ganz still, die Geschichte ist nicht aus, der kleine Tom muß vielleicht erfrieren.«
»Die Geschichte ist gleich aus«, sagte Dori, »der kleine, verlaufene Tom war nun so müde vom Suchen seines Weges, daß er unter einer Tanne niederfiel und gleich liegen blieb. Und wie die Sternlein so freundlich zu ihm niederschauten, da kam es ihm in den Sinn, daß der liebe Gott dort oben nun gewiß so auf ihn niederschaue und ganz gut wisse, wie schlimm er daran sei. Da fürchtete er sich kein bißchen mehr und rief in den Himmel hinauf: »Lieber Gott, weil mir doch sonst niemand den Weg zeigen kann und ich ihn nicht mehr finde und so stark friere, so zeig mir ihn dann auch morgen, jetzt muß ich gewiß zuerst schlafen, ich bin so müde. Dann schlief er ein. Und dann hätte er erfrieren müssen. Aber der liebe Gott gab dem Holzhacker ins Herz, daß er beim Heimgehn sich ein wenig nach den Tannen umsehe; da sah er im Schnee den kleinen Tom liegen und schlafen. Schnell nahm er ihn auf und trug ihn heim, denn er wußte schon, wem der kleine Tom gehörte. Nun ist's aus.«
»Dann will ich es auch so machen, wenn ich verlaufe«, sagte schnell Marietta.
»Ja, ja, lieber nicht verlaufen, gewiß hast du es schon im Sinn«, sagte besorgt die Großmutter.
Dori wollte schnell aufstehn, aber die Kinder baten alle drei so dringend, nur noch einmal den kleinen Tom unter der Tanne im Schnee liegend anschauen zu dürfen, nun sie sicher waren, daß er nicht erfrieren mußte, denn vorher hatten sie mit großer Angst das Bild angeschaut. Aber es war nichts mehr zu sehn, die Nacht war da und Dori rief nur tröstend noch einmal zurück: »Morgen komm' ich ja wieder, dann dürft ihr's gleich sehn!«
Dori kam so erfüllt von ihren Erfolgen, von der Freude der Kinder, von dem erleichterten Herzen der alten Maja, von dem Lerneifer des auflebenden Giacomo zurück, daß sie die Mutter mit ihren Nachrichten völlig überschüttete und mit sich fortriß. Zum erstenmal, seit Dorothea ihren Mann verloren, schaute sie mit Lächeln auf ihr Kind und folgte den beredten Worten mit einer Teilnahme, wie sie sonst für gar nichts mehr gezeigt hatte. Als Dori bemerkte, daß die Mutter einmal wieder zuhörte und teilnahm an dem, was sie zu berichten hatte, kam ihr plötzlich ein Gedanke: Wenn die Mutter alles mit ansehn und anhören könnte, da müßte ihr erst die rechte Freude an der Sache aufgehen.
»O Mutter, ich weiß, was wir tun könnten!« rief Dori jetzt aus. »Ich könnte jeden Nachmittag die Kinder zu mir kommen lassen. Dann würde ich unser Schulzimmer auf der Terrasse einrichten und du säßest mit deiner Arbeit daneben und könntest alles sehen und hören. Wolltest du nicht auch gern dabei sein? Die kleine Manetta würde dich so zu lachen machen, und Giacomo gefiele dir so gut in seinem Eifer, alles gerade so zu machen, wie es mir gefällt, und Detto ist so drollig in seinen Erfindungen, wenn er alles verkehrt macht; nicht wahr, Mutter, du willst sie kommen lassen?«
Die Mutter willigte ein. Gleich am andern Nachmittag holte Dori ihre drei Schüler in den neuen Lehrsaal herüber. Das war ein ganzes Fest für die Kinder. Lustig tanzten die Schatten der Rosenblätter auf dem sonnenbeschienenen Steinboden und über die offene Terrasse zog ein frischer Windhauch und brachte hin und wieder liebliche Düfte von der Rosenhecke herauf. Mitten in dem offenen Raum stand der wohlgeordnete Tisch mit den nötigen Büchern und Papieren bedeckt. Auf allen vier Seiten standen die Sitze bereit für die drei Schüler und ihre Lehrerin. Auf einem eigenen Stühlchen lag das geschlossene, freudenverheißende, große Buch und in der Ecke, beim dichten Weinlaubgehänge saß Frau Dorothea mit ihrer Arbeit und hieß die eintretenden Schüler freundlich willkommen. Die Arbeitszeit wurde aufs beste angewandt, sogar Detto machte heute aus Respekt vor der neuen Umgebung einige erkennbare Striche. Das Schwierigste war, nachdem dann auch der Genuß von Bild und Geschichte gefolgt hatte, die Kinder wieder fortzubringen, denn die neue Lehranstalt gefiel ihnen über die Maßen wohl. Es gelang auch an diesem Tage weder Dori noch ihrer Mutter, die drei beglückten Schüler zum Aufbruch zu bringen, bis die alte Maja erschien, die den Grund des langen Ausbleibens der Kinder ahnte und herüber gelaufen kam, um mit tausend Danksagungen die Widerstrebenden heimzuholen. Jetzt erzeigte es sich, wie nützlich auch die Salz-Peppe an ihrer Stelle war, obschon Dori im stillen oft schon ausgedacht hatte, wie nett es wäre, wenn man die Salz-Peppe nie mehr sehen und hauptsächlich nie mehr hören müßte mit ihrer kratzenden Stimme. Aber es war gut, daß sie jetzt auf dem Platze war. Von nun an kamen immer schon am frühen Morgen Detto und Marietta herbeigerannt und wollten in ihr Schullokal vordringen, denn sie kannten kein größeres Vergnügen mehr, als dort mit Dori ihre Zeit zuzubringen.
Dieses Andringen der zwei kleinen Geschöpfe an das Haus, zu dem sie gehörte, war aber der Salz-Peppe ein Dorn im Auge, und sobald sie die kleinen Füße herantrippeln hörte, guckte schon der Kopf mit dem roten Tuch darüber um eine Ecke herum, und gleich schoß die Salz-Peppe hervor und hob so drohend ihren Besen in die Höhe, daß die beiden noch viel schneller, als sie herangekommen waren, wieder davonrannten. Das war nun eine gute Wache für Dori, die sonst ihre ganze Zeit nur mit Abwehren der Kinder hätte zubringen müssen, und sie hatte doch viel anderes zu tun, das nicht zu vernachlässigen war. Der Vater hatte sie so gut gelehrt, wie sie der beiden Sprachen, in denen er sie unterrichtet hatte, immer mächtiger werden und das Beste sich davon aneignen konnte. Sie hatte täglich mit ihm einige Stücke aus den Büchern seiner Sammlung von einer Sprache in die andere übertragen; so konnte sie nur fortfahren, sie kannte die Bücher, die der Vater für sie wählte. Auch war ja die Mutter beider Sprachen mächtig und konnte guten Rat erteilen. Da war auch noch so vieles zu lesen, das der Vater mit ihr hatte durchnehmen wollen, sie wußte es ja von ihm selbst und nun wollte sie es für sich tun, denn Dori wollte alles ganz so ausführen, wie es der Vater angeordnet hatte. Das war auch der Mutter recht. Daneben sollte aber Dori auch bei ihr noch mancherlei lernen. Dorothea wollte, daß ihr Kind in aller Handarbeit geschickt werde, wie sie solche auch selbst erlernt hatte.
So hatte Dori vom Morgen bis zum Abend so viel zu tun, daß sie kaum wußte, wie die Tage vergingen. Aber sie wurde so frisch und fröhlich dabei, daß es sie drängte, ein neues Lehrfach einzuführen. Die Kinder mußten Lieder singen lernen. Das war nun eine Hauptfreude für jedermann. Alle Lieder, die Dori je gekannt, wurden einstudiert und dieser Zweig des Lernens gab nun ganz und gar keine Mühe, sondern war lauter Vergnügen für alle. Dabei tat sich die kleine Marietta in erstaunenswerter Weise hervor, denn kaum hatte sie eine Melodie angehört, so sang sie sie ohne allen Anstoß nach und vergaß sie nie wieder. Giacomo hatte eine schöne, weiche Tenorstimme und Detto brummte einen festen Baß dazu. Ertönte so der Gesang all der frischen Stimmen zusammen, so legte Dorothea oft ihre Arbeit in den Schoß und ein Lächeln zog über ihr Gesicht, fast wie in früheren Tagen.
So war es Herbst geworden. Die wenigen Wintertage waren vorübergegangen, wieder war der Frühling eingezogen mit allen singenden Vögeln und allen blühenden Hecken, und wieder, wie vor dem Jahr, standen die vollen Rosen draußen im Garten im Sonnenlicht. Dori stand oben auf der Terrasse und schaute hinunter auf den Strauch, von dem sie vor dem Jahr die Rosen gebrochen hatte, die sie dem kranken Fräulein und ihrem guten Vater hatte bringen wollen, und eine Erinnerung nach der andern aus jenen Tagen stieg in ihr auf. Jetzt kehrte sie sich um und schaute die Mutter an. »Aber nicht wahr Mutter, es ist wahr«, sagte sie, »es gibt doch noch etwas, an dem man sich freuen kann?«
Die Mutter blickte auf und lächelte: »Ja, Dori«, sagte sie, »es ist wahr, du hast's gefunden. Das hast du von deinem Vater, er wußte überall etwas zu finden, das andere nicht fanden, und das allen, die um ihn waren, das Leben froh und lieblich machte. Ach, Dori, wenn er noch bei uns wäre, wie würde er sich freuen darüber, daß die Kinder etwas lernen und sich so zum Guten verändern, und darüber, daß du alles so gut behalten hast, was er dir gegeben und es wieder so gut anwendest. Und auch über die alte Maja, die jetzt immer vor Freude aussieht, als wäre sie zehn Jahre jünger geworden.«
Heute ging Dori so fröhlich in ihre Kammer wie lange nicht, denn sie hatte zum erstenmal deutlich gehört, daß auch die Mutter sich noch an etwas freuen konnte; nun erst konnte auch sie sich einmal wieder recht freuen, ohne daß ihr der Schatten im Herzen gleich wieder den Sonnenschein überzog, wie es sonst war, sobald ihre Blicke auf das Gesicht der Mutter fielen, auf dem bis jetzt immer noch ein tief trauriger Ausdruck gelegen hatte.