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Drittes Kapitel

Es war keine stille Nacht gekommen, wie Dorothea gehofft hatte. Bald hatte der Kranke unruhig zu sprechen begonnen, er meinte, nun sei er mit den Seinen auf der Reise nach Norden. Dann wurde er immer ungeduldiger, daß sie immer noch nicht in der Heimat anlangten. Endlich gegen Morgen schlief er ein. Das erste Morgenlicht fiel eben in die stille Stube hinein, da stand Dorothea von ihrem Lehnstuhl auf, in dem sie die Nacht zugebracht hatte; es war ihr ein Gedanke gekommen. Sie holte das Bild aus der Heimat und legte es auf ihres Mannes Bett. Sein erster Blick mußte darauf fallen. Es ging nicht lange, so schlug er die Augen auf und schaute unverwandt auf die Meereswellen. »Mutter, bist du noch da?« sagte er jetzt halblaut. Dorothea trat zu ihm heran. Er schaute sie erst wirr und verwundert an, dann wurde sein Bewußtsein klar. »Ich habe so schön geträumt«, sagte er. »Die Mutter saß mit mir am Strand wie ehemals, und wir schauten hinaus auf die hohen Wellen. Sie redete so gut zu mir wie damals, als ich fort wollte, in die Welt hinaus – wie ist das Dorothea, wie kommst du zu dem Bild? Ich kenne ihn so gut, den einsamen Felsen, den die Möven umkreisen.«

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Im kleinen Zimmer nebenan, von dem die Tür offen stand, war Dori erwacht und hatte des Vaters Worte vernommen. Nun kam das Kind im leichten Morgenkittelchen herausgerannt, es mußte dem Vater erzählen, wo das Bild herkam, und wie es zu Ende war und der Vater mit so innigen Blicken an dem Bilde hing, sagte Dori: »Aber Vater, bei uns ist's doch schöner, nicht? Da ist der Sonnenschein so blaß auf dem Felsen, sieh dort hinaus.« Das Kind zeigte gegen Baveno hinüber, wo jetzt Tal und Höhen im Morgenlichte schimmerten. Der Vater, der einen Augenblick hinübergeschaut hatte, kehrte nach seinem Bilde zurück. »Das ist meine Heimat, Dori, es ist die Heimat«, sagte er mit warmem Ton. »Da geht es hinein, zum Dörfchen mit der kleinen Kirche und dem alten Pastorenhaus, so herum. Auf diesem Wege ging ich zuletzt mit der Mutter. Da war es, wie sie zu mir sagte: ›Vergiß das Beten nicht im fremden Lande. Das Beten ist wie die Hand ausstrecken nach unserm Herrn im Himmel, und wenn wir recht beten, dann können wir auch empfinden, daß er sie ergreift; das macht uns freudig und unseres Weges gewiß.‹ Ja, so war sie, so war die Mutter, freudig und ihres Weges gewiß. Die liebe Heimat! So sehe ich sie doch noch einmal! Ich werde ja wohl nicht mehr hinkommen, ich fühle mich so müde, Dorothea.«

Die Frau schaute tief erschrocken auf das müde Antlitz ihres Mannes. Sie meinte, er sollte sich wieder recht zur Ruhe hinlegen. Sie wollte auch das Bild der Heimat aus seinen Augen entfernen, die Erinnerungen, die es erweckte, könnten ihn aufregen, meinte sie. »O nein, laß mir den Blick auf meine Meeresflut und alle Erinnerungen an die Heimat, die mir daraus aufsteigen«, bat er. »Ich will nicht sprechen, Dori soll mir singen. Komm Kind, du sangest ja etwas, so wie die Mutter sagte, vom Handausstrecken, das will ich gern hören.« Dori wußte gleich, was der Vater meinte. Sie setzte sich an sein Bett und begann das Lied aus ihrem kleinen Buch zu singen bis zum Schluß der ersten Strophe:

»An deiner Hand
Geht's in ein selig Land.«

Der Vater hatte die Augen geschlossen und lag still und friedlich da. Er war eingeschlummert. Die Mutter winkte dem Kinde, nicht weiter zu fahren, um den Schlummer des Vaters nicht zu stören. So lag er leise fortschlummernd manche Stunde lang. Als im Laufe des Tages der ersehnte Arzt erschien, erwachte der Kranke nicht. Er lag so still, daß man ihn kaum atmen hörte. »Das Lichtlein wird bald erlöschen«, sagte der Arzt. »Ein Kampf ist nicht mehr zu befürchten, das ist ein Trost, Frau Maurizius!« Damit verließ er das Haus.

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Dorothea fiel am Lager ihres Mannes auf die Knie. Sie drückte ihr Gesicht tief in die Decke hinein und schluchzte zum Herzbrechen. Die schreckliche Ahnung, die sie bis jetzt immer noch hatte von sich weisen können, war ihr zur Gewißheit geworden. Sie sollte ihren Mann, ihr Kind seinen Vater verlieren. Als der lichte Abendschein durchs offene Fenster in die stille Stube herein glänzte, kniete regungslos die Frau über das Lager gebeugt, den Kopf hatte sie in stummem Schmerz auf die gefalteten Hände des stillen Mannes gelegt. Das Kind kniete neben ihr am Bette und weinte leise fort und fort, denn es verstand, daß der Vater seine guten Augen für immer geschlossen hatte.

Eine Woche war dahingegangen, seit im sonnenbeschienenen Felsenhäuschen die große Trauer eingekehrt war. Dorothea saß auf der Terrasse und nähte stumm an ihrem schwarzen Tuch. Von Zeit zu Zeit wischte sie eine Träne weg. Dori saß neben ihr und strickte emsig.

So waren alle die Tage dahingegangen, seit man den Vater fortgeholt hatte. Wenn das Kind mit der Mutter hatte sprechen wollen, so waren dieser die Tränen so reichlich gekommen, daß es wieder schwieg. An diesem Nachmittag, so neben ihr sitzend, hatte es immer wieder zu ihr aufgeblickt. Voller Sorge fragte es jetzt: »Mutter, kannst du nun gar nie mehr zu weinen aufhören?« »Ach, Kind«, entgegnete sie verzagt, »du weißt nicht, was wir verloren haben, wir sind ganz verlassen.« »Aber Mutter, wir sind nicht allein so arme Verlassene, es gibt so viele, die ganze Welt ist voll, die alte Maja hat mir's gesagt.« »Ach ja, es ist ja um so trauriger«, seufzte die Mutter. »Könnten denn nicht die Verlassenen einander helfen, Mutter, daß dann keiner mehr so ganz verlassen wäre?« fragte nach einer Weile das Kind wieder. »Du sagst etwas Rechtes, Dori, ich weiß nicht, wie dir das so in den Sinn kommt«, antwortete die Mutter. »Aber siehst du, alles Denken an andere und aller Mut zum Weiterleben ist mir entfallen, ich weiß nicht, was weiter getan und wie weiter gelebt werden soll.« »Ich muß gewiß nun nach Pallanza hinuntergehen und dem Fräulein das Bild zurückbringen und danken«, sagte Dori schnell, froh, daß die Mutter endlich wieder zuhörte und Antwort gab. »Denke, wie sich der Vater noch an dem Bild gefreut hat. Das muß ich doch dem Fräulein und dem guten Herrn berichten. Und Rosen habe ich auch zu bringen versprochen. Und zur alten Maja sollte ich auch gehen, sie ist vielleicht krank, daß sie nie kommt, und ich bin nun so lang nicht bei ihr gewesen!«

Die Mutter war damit einverstanden, daß Dori der freundlichen Dame ihr Blatt zurückbringe, und auch, daß das Kind nach der alten Maja sehe, es kam ihr nun auch befremdend vor, daß die Alte sich in all den Tagen nicht hatte sehen lassen. Nur daß Dori nicht zu lange von ihr fortbleibe, bat sie wiederholt. Dori holte ihr Körbchen hervor und ging hinaus, es mit Rosen zu füllen. Noch hingen ja an den Sträuchern und Hecken im Garten der duftenden Blumen eine Menge. Dann wurde das Bild zusammengerollt, und Dori zog aus.

Die entschlossene Weise des Kindes hatte bewirkt, daß die Mutter endlich auch sich aufraffen und ausführen konnte, was vor allem sein mußte, wozu ihr aber immer noch die Tatkraft gefehlt hatte. Sie setzte sich hin und schrieb an ihre Verwandten über den Bergen die Kunde von dem schweren Schlag, der sie getroffen hatte.

Es war das erstemal, daß Dori das Haus verließ, seit das große Leid über sie gekommen war. Sie lief ohne Aufenthalt dem Tale zu. Nicht wie sonst stand sie an jeder schönen Stelle still und schaute sich um; all das Schöne hatte sie so oft mit dem Vater angeschaut, nun war er nicht mehr da. Bei der Kapelle warf sie schnell einen Blick nach den bemoosten Steinen hinüber, dort hatte sie zuletzt mit ihm gesessen, sie lief weiter. Am alten Turm stand sie einen Augenblick still, der Vater hatte ihn so geliebt. »Dort ist unser lieber alter Turm«, hatte er immer so erfreut ausgerufen, wenn er ihn von irgendwoher wieder erblickte. »Du warst dem Vater so lieb«, sagte Dori zu dem alten Turme; dann lief sie weiter. Unten bei dem großen Hotel angelangt, fragte sie gleich den Angestellten, der ihr die Tür aufmachte, nach Herrn von Aschen und dem kranken Fräulein.

»Die junge Dame ist gestorben und der Herr hat sie fortgeführt«, war die kurze Antwort.

Dori stand vor Überraschung und Schrecken wie versteinert da. Der Angestellte wollte die Tür zumachen. »Kommt der Herr wieder zurück?« fragte das bestürzte Kind schnell, völlig tonlos.

»Nein, übers Jahr vielleicht«, gab der Bediente zurück und schlug die Tür zu.

Da stand das Kind und schaute auf seine Rosen, und nun fiel eine Träne nach der andern aus seinen Augen auf die leuchtenden Blumen nieder und kläglich schluchzend jammerte es: »Nun kann ich ihnen nie die Rosen geben und nie danken, und nun ist das Fräulein auch tot!«

Mit einem ganz traurigen Herzen wanderte Dori die Straße zurück und den Berg hinan, dem Häuschen der Maja zu. Bei der Alten mußte heute etwas Besonderes vorgehen. Sonst war es immer so still um das kleine Haus herum und auch drinnen. Jetzt hörte Dori schon von weitem ein sonderbares Geräusch von Tönen aller Art, die laut und wirr durcheinander gingen. Sie kam schnell heran und machte die Tür auf. In dem engen Raume stand am Herd die alte Maja und rührte ihren Maisbrei in der Pfanne herum. Auf einer Seite stand ein blasser Junge neben ihr mit pechschwarzen Haaren und Augen, die Dori erst entgegenblitzten, als sie eintrat, dann scheu sich wegwandten. Auf der andern Seite blies ein kleiner, stämmiger Kerl so gewaltig in das Feuer, daß die Funken hoch ausflogen und als schwarze Asche in den gelben Brei herunterfielen. Ein noch kleineres Mädchen schoß von einer Ecke in die andere und riß eben jetzt den vollen Wassereimer auf sich herunter und stand nun von dem Eimer zugedeckt triefend und schreiend mitten in dem Wassertümpel.

»Hör auf zu blasen, hör auf«, wiederholte keuchend die alte Maja, »und du mach mir ein wenig Platz, ich kann ja die Kelle nicht drehen, und was lärmt das Kleine dort so zum Erbarmen!«

Jetzt wandte sie sich zu dem schreienden Kinde um, von dem nur noch die Füße zu sehen waren. Nun erblickte sie auch Dori unter der Tür. »Daß sich Gott erbarm! Was hast du wieder angestellt!« rief die Alte mit Schrecken aus, indem sie das Kind von dem schweren Hut befreite, die nassen Hüllen von ihm zog, es mit ihrer Schürze umwickelte und vor die Tür, auf den trockenen Boden, in den Sonnenschein legte.

»Es dampft! es raucht!« schrieen die Buben drinnen, und als die Alte wieder eintrat, loderte das Feuer hoch auf. Der Brei dampfte dunkel empor und roch nach Brand. Der kleine Bube hatte alle Holzstücke miteinander ins Feuer geworfen, die dagelegen hatten. Die alte Maja rettete eilends den Brei von dem völligen Untergang. Dann wollte sie sich auf ihren Küchenstuhl setzen und mit Dori sprechen, aber in dem Augenblick sah sie, daß das kleine Geschöpf draußen sich aufgerafft hatte und eilends entfliehen wollte, aber die sonderbare Umhüllung verhinderte das Fortkommen. Die Kleine fiel nach wenigen Schritten um und rollte ein Stück weit die Halde hinunter. Die Alte lief nach, so eilig, als sie es vermochte. Jetzt konnte sie einen Zipfel der Schürze erwischen und festhalten. Keuchend hob sie das Kind vom Boden auf.

»Es ist nicht durchzukommen«, sagte sie atemlos, »nein, es ist nicht möglich! Du hast es gesehen, Dori, wie es zugeht; man muß umkommen, ich habe die Kraft nicht mehr.«

Die Alte seufzte und stöhnte jämmerlich. »Dazu noch der Kummer, der bringt mich allein bald um.«

»Warum hast du auch alle die Kinder bei dir, Maja?« fragte Dori jetzt, die bisher mit großer Verwunderung dagestanden und den Lauf der Dinge betrachtet hatte. »Was hast du denn noch für einen Kummer?«

»Ach, ihr wißt ja noch nichts, ihr habt selbst genug gehabt«, fuhr die Alte fort. »Die Maria ist ja gestorben und schon begraben und der Beppo ist wie ein Unsinniger. Die Kinder hat er mir gebracht und ist fortgelaufen, wohin, weiß ich nur gar nicht. Er sagte, er halte es nicht aus, da, wo er mit der Maria gelebt hat und sie hat sterben sehen müssen. So bin ich da seit drei Tagen mit den Kindern, und wie es geht, siehst du: Es ist alles aus, es ist nicht möglich, weiter zu kommen!«

»Kann man denn nichts machen, daß nicht alles aus ist, Maja?« fragte Dori ernsthaft nachdenkend, denn daß bei der guten, alten Maja alles aus sein sollte, kam ihr gar zu traurig vor.

»Was willst du, Dori, ich komme nicht durch«, sagte Maja erschöpft. »Da ist der Giacomo, der steht mir im Wege, wo ich nur stehe, und sieht nichts und hört nichts und gibt keinen Bescheid und ist ganz verstockt und er wäre doch der Älteste und könnte mir etwas helfen; und der Benedetto richtet lauter Schaden an, er denkt nur daran den ganzen Tag, und das Kleine hat gar keine Vernunft. Die ist so schnell wie ein Wiesel auf ihren kleinen Füßen und so unvernünftig dazu! Du hast's gesehen; mit der weiß ich nun gar nicht, was machen. Wie soll ich das Essen bereiten für sie? Auch wenn der Vater noch etwas schickt zu ihrem Unterhalt, wie er versprochen hat. Ach, Dori, sag's deiner Mutter, sie ist sicher zu bedauern, aber mit mir ist's ganz aus, ich komme nicht durch!«

Dori brachte alle ihre traurigen Berichte der Mutter nach Haus.

»Ach, daß sich Gott erbarme! Jammer überall!« seufzte diese; »mich wundert nur, wie noch ein Mensch auf der Welt fröhlich sein kann.«

»Aber Mutter, du hast ja früher auch mit mir gesungen:

»Und ich freu' mich, ja ich freu' mich
    Am sonnigen Tag'«,

sagte Dori.

»Ja, das ist vorbei für immer«, entgegnete sie völlig mutlos. »Wie es nachher heißt, so könnte ich jetzt singen:

›Und die Freude, ja die Freude
    Verweht wie ein Traum!‹

Woran könnten wir uns denn noch freuen! Aber ich singe auch das nicht mehr, ich kann nicht mehr singen, nie mehr!«

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Dori schaute traurig zu ihrer Mutter auf, dann schlich sie mit betrübtem Herzen nach ihrer Kammer. Sie schlief nicht ein, wie es sonst ihre Art war. Alle die Eindrücke, des heutigen Tages, die ihr tief gegangen waren, stiegen wieder vor ihr auf und wollten ihr keine Ruhe lassen. Als sie mehrere Stunden später die Mutter in ihre Kammer eintreten hörte, rief sie mit frischer Stimme hinüber: »Mutter, vielleicht können wir uns doch noch über etwas freuen, ich weiß etwas.«

Aber die Mutter rief zurück, nun sei Schlafenszeit, und wenn Dori sich etwas vorstelle, daran sie sich erfreuen wollte, so solle sie es morgen bei Tag ansehn, vielleicht sehe es dann nicht mehr so aus.


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