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Tung kwan ting ist die Schlüsselburg von Nordwestchina. Im Sterben, mit seiner letzten Kraft, gab der große Eroberer Dschinggis Khan seinen Mongolen den Rat, alles daranzusetzen, um diese Stadt und die dortige Enge in ihre Gewalt zu bekommen.
In Tung kwan ting treffen zwei große Karrenstraßen zusammen, von Osten eine, von der Provinz Ho nan her, und eine von Nordosten, nämlich die über die Provinz Schan si führende Peking-Straße. Diese beiden führen vereinigt von hier aus, dem Tale des Wei ho aufwärts folgend, nach Westen und zunächst zu der heute noch vornehmen, alten Reichshauptstadt Hsi ngan fu.
Die Bedeutung von Tung kwan ting liegt darin, daß von hier bis weit nach Norden, bis Kuei hoa tschʿeng in der Mongolei, keine größere Straße ostwestlich zieht. Es ist dies auf eine Strecke von sechs Breitegraden, also so weit wie von Kiel nach München.
Jeder Chinese, der von der Reichshauptstadt Peking nach Ili an der russischen Grenze, nach Kaschgar, im äußersten Turkistan, nach Se tschuan, nach Tibet, Lhasa oder Ladak an der indischen Grenze reist, kommt hier durch. Wohl geht von Peking eine nördliche Straße über Kuei hoa tschʿeng dem Hoang ho entlang nach Westen. Diese erfreut sich aber bisher keiner großen Beliebtheit. Sie bringt zwar den Reisenden auf kürzerem Wege nach den fernen nordwestlichen Teilen des Reichs, aber das Reisen auf ihr ist teuer, und da sie durch dünn bewohnte Gegenden führt, so gilt sie allgemein und mit Recht für viel beschwerlicher und ist für den gewöhnlichen Mann wegen der zahlreichen Räuber sehr gefährlich. Das riesige Gebiet aber zwischen dieser nördlichen Straße und der Stadt Tung kwan ting, d. h. Nord-Schen si und die Ordos-Mongolensteppe, umgeht der chinesische Großverkehr vorsichtig.
Seit uralten Zeiten zieht die Hauptstraße in einem großen Bogen parallel, aber weit innerhalb der langen chinesischen Mauer und wiederholt sogar in noch stärkerem Grade den weit nach Süden einspringenden Winkel, mit dem die Mauer dem Ordos-Land ausweicht. Von dem breiten Land zwischen Mauer und Straße wußten wir bis dahin wenig, und der lange meridionale Tallauf, den der Gelbe Fluß von der Mongolei an benutzt, ist bisher nur aus der chinesischen Reichskarte bekannt gewesen, der Karte, die auf Befehl des Kaisers Kang hi im Jahre 1718 von den Jesuiten fertiggestellt wurde. Aufnahmen des Flusses haben aber auch die Jesuiten nicht gemacht, sondern sie haben ihn nach den Berichten der Chinesen gezeichnet Die Blätter der sogenannten deutschen Generalstabskarte: Ost-China 1:1 000 000 sind – was die westlichen Teile betrifft – bisher nur eine Übersetzung dieser alten Jesuitenkarte. Diese Blätter bringen aber bis heute das Beste, was wir von jenen Gegenden besitzen. Der russische Geologe Obrutschew ist der einzige Europäer, der den Fluß auf dieser langen Strecke einmal gequert hat. Richthofen hatte sich von der Mongolei an vergeblich nach einer Straße hinüber zum Hoang ho und nach Nord-Schen si umgesehen; auch er kam deshalb 1871 durch Tung kwan ting.
Bei dieser Stadt verläßt der Hoang ho die nordsüdliche Richtung und zwängt sich dicht unterhalb der Umbiegungsstelle zwischen zwei hohen Lößterrassen durch nach Osten.
Wichtig sei hier nur, meinte ein Chinese, daß ein Ör fu ör fu = Präfekt zweiten Grades; sie tai = Oberst der Mandschuzeit. und ein Sie tai ihren Sitz in dieser Stadt haben, und vor allem, daß man hier an den Karren die Achse wechseln müsse. Diejenigen Wagen, die nach Ho nan hinabfahren, haben nämlich alle eine um etwa 25 cm schmälere Spurweite, breitere kommen durch die engen Lößhohlwege nicht durch. Auch für diese großen, sogenannten kaiserlichen Landstraßen besteht der Wegebau der Chinesen darin, daß man, wenn die Sommerregen die Mitte des Fahrweges ausgewaschen und vertieft haben, an den Seiten etwas abgräbt, und zwar natürlich gerade nur so weit und so breit, als für die Karren, die immer sklavisch in derselben Spur fahren, unbedingt erforderlich ist. Es gehört schon die chinesische Mißachtung jeglicher Zeitbegriffe dazu, wenn man mit einem Karren durch die langen und engen, im Laufe der Jahrhunderte manchmal 50 und noch mehr Meter tief eingegrabenen Lößhohlwege reisen will. Ausweichstellen sind nur spärlich vorhanden. So war kurz außerhalb der Stadt Tung kwan ting die kaiserliche Heerstraße nach Ho nan so eng, daß es mir unmöglich war, zu Pferde an einem Wagen vorbeizureiten. Ich mußte erst viele hundert Meter zurück, bis sich eine genügende Erbreiterung fand. Und es kann Stunden dauern, ehe zwei Wagen Gelegenheit haben, aneinander vorbeizukommen.
An jenem Wege nach Ho nan, 2 km etwa vor der Stadt, liegt ein altes Steintor. Um heute auf die uralte Pflasterung des Torwegs hinaufzugelangen, müssen die Karren einen Absatz von nahezu einem halben Meter nehmen. Und es sind viele Tausende, die jährlich diese Stelle überwinden müssen. Die Maultiere und Pferde sind schon vorher aufs äußerste angestrengt, sie keuchen, pfeifen und rohren, daß es auf 100 m weit zu hören ist, aber kein Mensch verliert ein Wort darüber. Niemand denkt daran, das Übel ernstlich zu verbessern. Die Straße gehört dem Kaiser, was geht sie die Wagenführer an! Die Maultiere gehören den Fuhrhaltern, was sollen sich die Insassen der Wagen darum kümmern! Es wird schon gehen, beruhigt sich jeder, andere sind ja auch über das Hindernis hinweggekommen.
Einen halben Tagesmarsch von Tung kwan ting westwärts liegt der große Tempel Hoa yin miao. Dicht um den Tempel stehen viele Butiken und Gasthäuser, und hiervon südlich erhebt sich mit glatten Felswänden und dräuenden Schründen der Hoa schan bis zu einer Höhe, die den Paß, den ich von Lung tschü tschai her überschritten hatte, noch um einige hundert Meter übertrifft. In bizarrsten Formen steigen im Hoa schan die Felsmauern des Tsin ling bis 2000 m über die davor liegende Ebene. Der Hoa schan ist der heilige Berg von Schen si.
Der Tempel Hoa yin miao bildet ein großes, von hohen, mit Zinnen versehenen Mauern geschütztes Viereck, vor dem zwei alte hölzerne Monumentaltore mit schweren gelben Ziegeldächern stehen. Durch ein starkes, enges Tor gelangt man in einen großen Vorhof. Dieser war zur Zeit meines Besuchs dicht gefüllt mit allerhand Gauklern, Krämern und Dioramakasten, in denen natürlich Europa nicht im schönsten Lichte erschien. Im zweiten Hof muß man auf drei zierlichen Steinbrücken über einen künstlichen Graben. Im Hintergrund steht ein großes Tempelgebäude, entsprechend der Holzarmut der Umgebung wenig hoch; auf seinen Seiten finden sich mehrere große alte Inschriftsteine. Die ganze Anlage ist für uns heute noch dadurch denkwürdig geworden, daß die verstorbene Kaiserinmutter zusammen mit dem Kaiser Kuangsü 1901 über einen Monat lang hier wohnte, als sie vor den europäischen Truppen aus Peking hatte flüchten müssen.
In Hoa yin miao Wörtlich: Tempel im Schatten (Schattenseite = Nordseite) des Hoa schan befand ich mich noch immer an einer Hauptverkehrsader des Reichs. Auf wackelig aussehenden Stangen konnte man den Reichstelegraphen Chinesisch zu telegraphieren ist sehr umständlich. Jedes einzelne Schriftzeichen kann nur als vierstellige Zahl telegraphiert werden. Nach Empfang eines jeden Telegramms haben die Beamten die langen Zahlenreihen zu dechiffrieren. nach Turkistan, ja nach Tibet bewundern.
Postkuriere sah ich hier durchkommen, festgebunden auf struppigem Postpferde, gefolgt von einem gleichfalls berittenen Pferdeknecht, der das vordere Pferd mit seiner Peitsche anzutreiben hatte. Einer der Kuriere schlief halb und schien kaum mehr fähig, sich zwischen seinen Kissen im Sattel zu halten. Bezeichnenderweise hatte der Telegraph hier eine uralte Art der Postbeförderung kaum eingeschränkt. Auf dieselbe Weise wie zu den Zeiten des ersten Mongolenkaisers Kublai (1280–1295) wurden die vielen geheimen Berichte von den entferntesten Gouverneuren nach der Hauptstadt befördert. Alle 20 km stehen an den Hauptstraßen Tag und Nacht zwanzig bis dreißig Pferde zum Wechseln bereit. Die Kuriere selbst sind Vertraute der betreffenden hohen Beamten, Subalternoffiziere, die in persönlichem Dienste stehen. Es sind keine Staatsangestellte, denn der Chinese traut nur dem, den er selbst bezahlt, der »sein Essen ißt«. Dies kann natürlich mit den vielen Telegraphenbeamten nicht der Fall sein, und so hat sich das System der Postkuriere noch wie vor der Einführung des Telegraphen erhalten. Der Kurier empfängt das versiegelte Schreiben aus den Händen seines Gouverneurs und haftet für die persönliche Ablieferung an den Adressaten. Er hat die gesamte Strecke so rasch wie möglich und ohne Aufenthalt zu durchreiten. Unterwegs geht es im Tempo eines raschen Zuckeltrabs, aber Tag und Nacht weiter. Nur während des Sattelns kann der Reiter einige Augenblicke schlafen. Die letzten Tage muß der Arme von einem Pferd auf das andere gehoben und oben festgebunden werden. So kann die Strecke von Lan tschou fu bis Peking – über 2100 km – in acht bis zehn Tagen zurückgelegt werden. Mancher Kurier soll schon tot vom Pferde gestürzt sein. In diesem Fall übernimmt der Pferdetreiber die Rolle des Kuriers und kann sicher sein, daß, wenn er den Brief richtig übergibt, der Absender damit sein Gönner wird und ihn zum Offizier macht.
Um dem Wunsche Richthofens zu folgen und den Nordsüdlauf des Hoang ho aufzunehmen, hatte ich bei Hoa yin miao wieder die Hauptstraße mit all ihren zahllosen mehr oder minder bequemen Herbergen und Wirtschaften zu verlassen und auf kleinen, krummen Vizinalstraßen nordwärts abzubiegen.
Ein Marschtag brachte mich von Hoa yin miao quer über die breite und fruchtbare Ebene nach Norden bis zur Stadt Tschau yi hsien.
Das elende Städtchen Tschau yi hsien liegt am Fuße einer Lößterrasse, die als nördliche Begrenzung des Wei ho-Tales weit von Westen herbeizieht und nicht weit nördlich von Tschau yi bis dicht an den Hoang ho herantritt.
Steht man dann oben auf den Lößstufen im Norden von Tschau yi, so glaubt man in einer schwach welligen Ebene zu sein. Ringsumher sind Felder, auch Bäume und viele Dörfer zu sehen. Meist braucht man aber nur wenige Schritte weiterzugehen, und eine tiefe und unübersteigbare Schlucht, ein Riß mit vertikalen Wänden öffnet sich plötzlich vor unseren Füßen, an Wildheit in Alpenländern seinesgleichen suchend. Ich fand in dieser Gegend erstaunlich viele große Dörfer mit stattlichen Häusern aus grauen Ziegeln (Tafel III). Über sorgfältig behauene, schwere blauschwarze Kalksteinschwellen gelangte man von den baumbepflanzten Dorfstraßen in die hintereinander folgenden Innenhöfe der hellgrauen Ziegelhäuser, die geradezu städtische Wohlhabenheit verrieten. Steinaffen und andere mythologische Figuren saßen auf schlanken Kalkpfeilern vor den Eingängen und dienten als Anbindepfähle für Rind und Pferd. Viele Eisenrosetten, viele eiserne klassische Embleme waren an allen Wänden befestigt, und von den leicht geschwungenen grauen Ziegeldächern sahen üppig und gut erhalten tausend Tiere und Teufelchen, Hähne und Drachenköpfe herab, Zeugen einer seltsamen theologisch-philosophischen Gedankenwelt.
Trotzdem diese Distrikte von Tschau yi, Ho yang bis gegen Han tschʿeng auf Lößterrassen hoch über dem Hoang ho liegen und die Felder also nur auf Regenwirtschaft angewiesen sind, muß man sie reich nennen. Es fällt hier noch regelmäßig etwas Regen. Aber nirgends sieht man in den Lößschluchten laufendes Wasser. Mit großer Mühe legen sich die Chinesen aus gestampftem Lößlehm Sammelweiher für Regenwasser an, und ihre Dorfbrunnen reichen manchmal 50 m tief durch den Löß. Es gehört chinesische Geduld dazu, um daraus mit den einfachen Winden einen Kübel Wasser zutage zu fördern.
Die Leute benahmen sich gegen mich gefällig und nicht sehr neugierig. Es ist aber ein leicht sich empörendes Volk, das zäh an seinen alten Rechten hängt. Als hier zwei Jahre nach meiner Durchreise die Pekinger Zentralregierung von den Grundbesitzern 100 Cash = 30 Pfennig mehr an Steuer für jeden Morgen Ackerland erheben lassen wollte, um sich dadurch die Mittel zu verschaffen, Volksschulen und auch die Eisenbahn von Ho nan fu nach Hsi ngan fu bauen zu können, da sammelten sich sogleich die Bauern und zogen in hellen Haufen und bewaffnet nach den Städten. Und sie setzten ihren Willen durch; die kaiserliche Regierung mußte nachgeben. Wohl fielen in der Präfektur Pu tschou fu und auch höher oben im Wei ho-Tale bei Föng tsiang fu einige Dutzend Köpfe unter den Richtschwertern von Soldaten. Man wagte aber doch nicht, auf der Erhöhung der Grundtaxe zu bestehen.
Viel mehr als die Bauern hat der chinesische Kaufmannstand durch neue indirekte Steuern erdulden müssen. Durch Neueinrichtung von Straßengeldstellen und Erhöhung der Inlandzölle hat man dem Handel, zumal in den westlichen Provinzen, im Laufe des letzten Jahrhunderts vielfach sehr großen Abbruch getan. Die Kaufleute beklagten sich überall bitter über diese Steuerlasten. Es kam aber deshalb nie eine Empörung zustande. Die große Masse des Volks wurde eben nicht direkt getroffen. Aber Grundsteuerverhältnisse anzutasten, die Bauern direkt zu besteuern, bleibt das gefährlichste Wagnis für die chinesischen Regierungsbeamten. Die egoistischen Interessen einer zu großen Masse werden dadurch direkt angegriffen und egoistischer Materialismus ist der leitende Charakterzug der chinesischen Volksmassen.
Der Grundbesitz ist in China ganz außerordentlich zersplittert. Jeder Chinese geht darauf aus, etwas Grund und Boden sein eigen zu nennen. Der Besitz eines Ackers gilt hier allerdings auch mit ganz besonderem Recht für die einzig sichere Kapitalsanlage. Der größte Teil der Güter ist aber nur zwischen 1 ha und 3 ha groß; Bauern mit einem »tsing« 1 tsing = 100 mou – Morgen; 1 mou = 500 qm. gelten für sehr vermögend.
Am 12. Mai erreichte ich Han tschʿeng hsien, ein hübsches betriebsames Städtchen an einem kleinen Fluß und inmitten einer Talerweiterung mit berieselbaren Feldern, auf denen namentlich Indigo und Tabak angebaut wurde.
Der Mandarin hier war ein auffallend freundlich gesinnter Herr, natürlich steinalt schon, wie der größte Teil der Beamten im alten kaiserlichen China. Er war früher ein kleiner Arzt gewesen und zu seinem Rang und Amt gekommen, weil er 1901 die Kaiserinmutter in Hsi ngan fu mit Erfolg während einer leichten Krankheit behandelt hatte. Aber trotzdem schien er nicht viel Vertrauen in seine medizinischen Kenntnisse zu setzen. Er konsultierte auch mich und erbat sich verschiedene Arzneien. Er hatte noch seine alte Einfachheit bewahrt und trat sehr wenig anspruchsvoll auf. Ohne Eskorte, allein, sah ich ihn zu Pferde Besuche machen. Seine Frau war schon anders geworden. Wie sonst Frauen höherer Beamten liebte auch sie jetzt den Pomp der äußeren Erscheinung; wenn sie sich öffentlich zeigte, mußte sie von möglichst vielen Soldaten und Dienern umgeben sein. Von ihr – erzählten sich die Kaufleute – werde in Wirklichkeit Stadt und Amt verwaltet. Mancher tuschelte mir zu, sie führe auch die Kasse und bestimme die Ein- und Ausgaben der Familie wie des Landbezirks. Der alte Herr aber widmete sich noch mit dem gleichen Eifer wie früher seinen literarischen Studien.
Der Jesuitenpater Le Comte berichtete noch 1696, daß in dieser Stadt seit langer Zeit eine der stärksten Christengemeinden im Reiche war, die der französische Pater Faber zu Anfang des 17. Jahrhunderts auf ganz wunderbare Weise während einer Heuschreckenplage gewonnen hatte. Pater Faber ist mittlerweile in das chinesische Pantheon aufgenommen worden; heute noch wird er in den taoistischen chinesischen Tempeln von Schen si und Kan su mit einem Panther an seiner Seite dargestellt, und allerlei Wunder werden ihm, dem Gott, nachgesagt. In Han tschʿeng aber gibt es heute längst keinen einzigen katholischen Christen mehr.
Dicht nördlich hinter Han tschʿeng sah sich das Lößland traurig an. Ganze Dörfer lagen in Trümmern, überall die Spuren entsetzlicher Verarmung. Hier fängt der Bereich der schrecklichen Hungersnot an, die 1876–1878, Kuang sü 2. bis 4. Jahr, die Bewohner von Nordwestchina mehrfach heimgesucht hat. In früheren Jahrhunderten und bis in die Zeiten des Kaisers Dao kuang (1821 bis 1851) blühte hier Handel und Wandel. Viele große Steinbrücken und Straßen mit einer alten, riesigen Quaderpflasterung zeugen von guten Zeiten, die jetzt dahin sind. Im Norden von der Stadt Han tschʿeng kam ich durch Ortschaften, die heute kaum die Hälfte der einstigen Familienzahl aufweisen; unsäglich elend und zerfallen sahen Dörfer und Felder aus. Aber bei meiner Durchreise ging es auf der Straße doch lebhaft zu. Aus dem ganzen Bezirk, Tagereisen weit, eilte das Landvolk mit Frauen und Kindern nach der Stadt. Acht Tage lang sollten dort große Theateraufführungen stattfinden, die jeder mit ansehen wollte. Wenige nur fanden noch Zeit, bei dem ungewohnten Anblick eines Fremden einen Augenblick stehen zu bleiben. Auch das wüste Kreischen und das anscheinend verzweiflungsvolle Sichanklammern einer Chinesenfrau, die vor aller Augen auf der Straße von ihrem Manne um 10 Tael (30 Mark) an einen anderen verhandelt wurde, die augenscheinlich aber den neuen Gemahl nicht ausstehen konnte, vermochte keine müßigen Gaffer anzulocken. Keiner von den Bauern wollte sich eben den Beginn der Theaterfestlichkeiten entgehen lassen.
Zur Linken hatte ich jetzt nahe meinem Wege einen häßlichen, nackten Bergrand, mit dem das lößbedeckte Sandsteinplateau von Nord-Schen si gegen Südosten endet. Trostlos kahl zogen sich dort tiefe Schluchten in die fahlfarbenen Berge hinein. Zur Rechten hatte ich den breiten Gelben Fluß, der noch weit dem NO–SW ziehenden Gebirgsrand entlang zu laufen schien. Es war ein unschöner und öder Weg, und noch nach langen Marschstunden wollte sich mir kein Ende dieser gleichförmigen Öde zeigen.
Da plötzlich, völlig überraschend für mich, sah ich den Gelben Fluß in einer tief eingeschnittenen Klamm aus dem Gebirge in die Ebene herausbrechen. Gerade an den äußersten Felsen des Bergwalls liegt die allerengste Stelle. Dort, zwischen zwei tempelgekrönten Felsvorsprüngen, mißt die Breite des Flusses kaum mehr als 50 m und dicht oberhalb, an einem Punkt, wo nur bei sehr hohem Wasserstand noch ein winziger Seitenarm sich hinter einer vorspringenden Felsklippe abzweigen kann, führt das Fährboot zum anderen Ufer. Die Chinesen machen sich zur Überfahrt eine oberflächliche Rückströmung sehr geschickt zunutze.
Es war vielleicht höflich gedacht, klang aber doch wenig beruhigend, als während des Verladens ein freundlicher Zollbeamter auf die Schiffsleute einsprach: »Gebt ja gut acht, ihr wißt ja, daß erst vor kurzem wieder ein Boot an den Felsen zerschellt ist.«
Keine zwei Minuten dauert die Fahrt durch die Enge zum anderen Ufer des Hoang ho. Aber wie toll geworden schwankte unser rohgezimmertes, flaches Boot in den wirbelnden, sich überstürzenden Strudeln. Meine Ponys und Maultiere, die zum erstenmal auf unsicheren Schiffsbrettern standen, gerieten in eine furchtbare Unruhe. Erst drängten sie sich zusammen, dann, mitten auf dem Fluß, bäumten sie sich ganz verzweifelt empor, zerrten an den Strängen, und es kostete die größte Mühe, sie zu halten, daß sie nicht über Bord sprangen. Das überfüllte Boot war dem Kentern nahe. Entsetzt schrien die Chinesen auf. Passagiere und Bootsmannschaft, das Volk an den Ufern, alles hetzte und brüllte aus Leibeskräften, es war, als ob die allgemeine Aufregung sich in einen tollen Aufwand an Stimmitteln umsetzte. Wie rasend zerrte das braune nackte Schiffsvolk an den zwei plumpen Ruderbalken. Gellend hallte das höllische Geschrei von den kahlen Felswänden zurück. Aber all das Durcheinander übertönte doch das elementare Rauschen und Gurgeln der häßlichen, dickflüssigen Flut.
Ein wunderbares, großartiges Schauspiel! Das ist Lung men, das Drachentor! Hier hat der Kaiser Yü Yü gehört der mythologischen chinesischen Geschichte an. Er soll als Begründer der ersten Dynastie, der Hsia, von 2208 bis 2197 v. Chr. regiert haben. Er ist jetzt einer der populärsten Götter der Nordchinesen und in Nordchina unter dem Namen Yü wang bekannt. Von ihm erzählt sich heute der chinesische Volksmund, er habe alle Flußläufe im Lande gereinigt; namentlich werden ihm viele übermenschliche Taten im Gebiet des Hoang ho nachgesagt. (Vgl. Abb. 2, S. 91.), der chinesische Herkules, als er einst den Gelben Fluß in Ordnung brachte, mit seinem Schwert den Fels 9 3/10 Li tief gespalten und so dem Wasser einen Weg ins Freie geschaffen. Aber er schlug allzu kräftig und zu tief in den Grund, und darum die großen Strudel.
Die Chinesen wissen weiter, daß erst ganz wenige Fische lebendig durch das Drachentor geschlüpft seien; aus den wenigen seien aber sofort Drachen geworden, die den Regen regulieren. Da nun die höchsten chinesischen Staatsexamina ähnlich schwer zu passieren sind, so werden diese von den chinesischen Literaten ebenfalls noch heute »Drachentor« genannt.
Zu den Anlegeplätzen am Ufer führt nur ein schmaler Saumpfad, und darum können hier Karren höchstens in zerlegtem Zustand über den Fluß gebracht werden. Trotzdem ist der Verkehr beim Lung men ziemlich lebhaft, und die beiden Zollhäuser am Schen si- und Schan si-Ufer sind gute Pfründen.
Auf der Schan si-Seite, unterhalb und außerhalb des Felsvorsprungs, der mit weit ausladenden Pavillons, mit Tempeln und Galerien dicht besetzt ist, liegt ein ärmliches Lehmdorf. Wie die Tempelbauten selbst trägt es den Namen Yü men kou, Tor des Kaisers Yü (Tafel IV). Davor an dem schlammigen, flachen Strand lagen Hunderte von Booten und wurden eben mit Kohlen beladen. Um die Hütten von Yü men kou herrschte von früh bis spät ein reges Leben, da sprühten die Essen, und Hunderte hämmerten an Brettern und Spanten. Nicht genug Boote kann der Kohlenhandel hier finden. Einzelne Boote werden noch in wochenlanger Arbeit von Tung kwan und Hsi ngan bis hierher den Hoang ho heraufgebracht, die meisten aber machen wegen der starken Strömung nur einmal die Fahrt flußabwärts.
Flußaufwärts haben die Boote nur wenig geladen, und doch sitzen sie einen größeren Teil ihrer Reisezeit auf irgend einer Sandbank fest. Das Abschleppen hiervon, die flachen verschlammten Ufer, die vielen Seitenarme, kurz, die ganze Ungunst des Fahrwassers zwingen die Mannschaft, beinahe ständig im Wasser zu arbeiten. Hoang ho-Schiffer zu sein, ist ein schwerer Beruf. Er paßt eher für Amphibien als für Menschen.
Hinter Yü men Rou ging es nun wochenlang gen Norden dem gelben Fluß entlang aufwärts, der rasch und eilig in einem Felscañon zwischen graugrünen Sandsteinmassen dahinfließt.
In dem Städtchen Tsʿai gu kou, wohin ich nach zwei Tagen kam, herrschte lebhaftes Treiben am Ufer. Ich stand mit einem Male inmitten ganzer Haufen von Chinesen. Mit viel Geschrei wurden Kohlen auf die breiten Boote verladen, deren etwa vierzig bis fünfzig am Ufer bereit lagen. Sechzehn bis achtzehn Boote sollen täglich von hier aus abgelassen werden, jedes Boot mit 170–180 Dan Dan = eine Traglast von 240 Cättie = etwa 130 kg. einer sehr schönen Kohle. Nur vom Strome getrieben, fahren sie mit solcher Eile flußabwärts, daß sie – wie die Chinesen sich ausdrücken – »zwischen zwei Eßzeiten«, also einen halben Tag später schon durch das Drachentor kommen. Um diese offenen Schachteln durch die Felsklippen zu steuern, ist jede mit drei langen Rudern versehen und hat eine Bemannung von zwölf bis fünfzehn Kuli. Der verhältnismäßig hohe Lohn von 300 Cash pro Kopf und Fahrt läßt auf deren Gefährlichkeit schließen.
Nahe am Ufer waren hier ärmliche Schuppen mit vielen Lößhöhlen. Wie Bienen aus ihren Waben, so rannten bei meiner Ankunft die kohlengeschwärzten Zopfträger auf mich zu. Viele von ihnen hatten noch nie einen Fremden gesehen. »Yang gui tse, yang gui tse lai leao« hallte es aus allen Ecken. Jeder wollte mich möglichst genau betrachten, womöglich befühlen, meine Kleider betasten.
In einer kleinen Viertelstunde ist vom Ufer des Flusses aus die Kohlengrube zu erreichen. Sie liegt in einer kahlen Schlucht und hat zwei Schächte von 36 Klaftern (= 125 m) Tiefe bei 1½ m Weite. An jedem Schacht stehen zwei Haspeln. Ohne irgend eine Übersetzung, ohne jede Sicherung durch einen Sperrhaken wird damit alle drei Minuten je ein Korb mit 160 Cättie Kohlen gefördert. Zehn halbbekleidete Kuli drehen unter taktmäßigem Singen ohne die geringste Unterbrechung an der Kurbel. Es wird mit doppelter Schicht Tag und Nacht fortgearbeitet. Für jeden Arbeiter, der heraufkommt, fährt sofort ein anderer ein.
Ich stand wenige Augenblicke am Schachteingang, der unter einem weit vorspringenden offenen Dache mündet, als freundlich grinsend einer der Unternehmer sich zu mir gesellte und eine Unterhaltung anfing. Aus jedem seiner Worte klang die Frage, wie er den Betrieb wohl noch verbilligen könne. »Es fehlt uns an Kapital und, ach, das Wasser!« jammerte der Mann wieder und wieder. Heute wird das Grubenwasser in großen Ledersäcken heraufgeschafft; Pumpen verstanden hier die Chinesen noch nicht anzufertigen. Von Europäern Maschinen und Pumpen zu kaufen, paßte den Leuten aber auch nicht. Man erwiderte mir stets: »Daran können wir nicht denken. Wir haben viel zu wenig Kapital.«
Um die Kosten der Beförderung der Kohlen vom Grubeneingang zu dem Bootsplatz zu ersparen, waren die Unternehmer eben daran, einen neuen Schacht ganz dicht am Hoang ho anzulegen. Nur mit Hammer und Meißel, ohne irgend ein anderes Hilfsmittel, wurde dieser durch den Sandstein getrieben. Für jeden Fuß bei 5 Fuß im Quadrat bekamen die Arbeiter 3200 Cash (= etwa 3 Tael Silber, etwa 9 Mark). Da nun die Unternehmer gerne gewußt hätten, wie weit ihr neuer Schacht von der alten Grube entfernt sei, und da den Chinesen unter Tag jegliche Orientierung fehlte, so wurde ich gebeten, ihnen für einen Teil der Grube einen Plan zu machen.
Mit unheimlicher Geschwindigkeit fuhr der Förderkorb mit mir in die Tiefe. Eine dumpfe, fast betäubende Hitze empfing mich. Mit offenen Öllämpchen in der Hand krochen da schwarze, splitternackte Knaben und Männer aus engen, wirr und planlos zusammenlaufenden Löchern heraus. Wie Molche und Bergteufel, nicht mehr wie menschliche Wesen nahmen sich die Zopfträger aus in dem kümmerlichen Licht ihrer Rizinusöllämpchen. Triefend von Schweiß zogen sie ihre wie Spielzeug aussehenden Wägelchen mit den winzigen Rollen daran über den unebenen Grund. In Stücken bis zur Größe von mehreren Kubikfuß wurde ein wunderschöner Anthrazit gewonnen. Grus wurde gar nicht gefördert. Nie in gerader Richtung, nur wie es der Zufall eingegeben hatte, liefen die Gänge und Stollen durcheinander. Selten war eine kleine Holzverkleidung zu sehen. Bald ging es so niedrig weiter, daß ich nur kniend und kriechend durchkam, bald war ein Stollen bis zu 3 oder 4 m Höhe und Breite ausgeweitet. Zwischen Wägelchen mit Kohlen kamen solche mit einem gefüllten Wassersack. Aber nur an einer Stelle fand ich das Wasser etwa knietief, sonst war die Grube auffallend trocken. Neben der Hitze wirkte ein unausstehlicher Gestank auf mich beinahe erstickend. Die Chinesen schien allerdings beides nicht zu stören; so ist's nun einmal in einem Bergwerk, und so hat es der Großvater schon gehabt. Wenige Neugierige folgten mir noch unter Tag durch das Labyrinth von Stollen, als ich das Kroki aufnahm. Unter zehn Oberarbeitern graben je etwa fünfzehn Mann in den verschiedenen Richtungen. Die Unternehmer selbst steigen so gut wie nie in die Grube. Wie es da unten gemacht wird, geht sie gar wenig mehr an.
Endlich hockte ich wieder in dem rohen, zerschundenen Korbgeflecht, und ruckweise zog mich das dünne Hanfseil in die Höhe. Der Korb drehte sich, baumelte, schlug an den Seiten an; ich mußte achtgeben, nicht die Hände zu verletzen. Bange Augenblicke! Wenn der liederliche alte Chinesenstrick jetzt risse! Da packten mich gottlob schon kräftige Arme, und die frische Sonnenwärme mit ihren nur 26° empfängt mich noch einmal.
Die Arbeiter unter Tag verdienen in zwölfstündiger Schicht 340 Cash = etwa 1 Mark, und jeder darf sich, wenn er wieder heraufkommt, ein großes Stück Kohle mitnehmen, womit er seinem Hauswirt die Wohnung bezahlt. Da das Essen in der Nähe der Grube sehr teuer ist – es muß Tagereisen weit über die Berge gebracht werden –, so können die Leute trotz aller Genügsamkeit nur kleine Ersparnisse machen. Verunglückt ein Mann in der Grube, und wird der Leichnam gefunden, so bezahlt der Unternehmer den Sarg und die Priesterkosten. Stammt der Mann aus der Umgebung, und hat er Frau und Kind, so erhält die Witwe 2000–3000 Cash, das sind noch nicht ganz 10 Mark.
Große Grubenkatastrophen scheinen häufig vorzukommen. Zu Kaiser Dao kuangs Zeiten (1821–1851) seien einmal – so wurde mir erzählt – über 150 Arbeiter verschüttet worden. 1859 lief eine Grube mit Wasser voll. In einer benachbarten, in Tschuan wu, in der über 300 Arbeiter unter Tag Beschäftigung fanden, brach 1876 das Wasser vom Hoang ho so rasch herein, daß kein einziger Mann sich retten konnte. Der frühere Schacht dient heute als Zisterne! Einzelne Unglücksfälle, Verschüttungen u.dgl., gehören zur Tagesordnung.
An jenem Abend blieb ich in Sche kia (spr.: dia) tan. In dem kleinen Dorfe wohnen die sechs Unternehmer und der Besitzer der Mine. Zur Erleichterung der Verrechnung hatten diese sieben Parteien zwölf Teile gemacht. Vom Gewinn bekam der Grundbesitzer zwei Teile, während sich die sechs Unternehmer je nach ihrem Anlagekapital in die übrigen zehn teilten. Mit der unübersichtlichen chinesischen Buchführung waren mehrere Dutzend Schreiber beschäftigt. Im ganzen sollten über zweitausend Arbeiter an der Grube von Tsʿai gu kou beschäftigt sein. Der Mandarin von Ki tschou ließ pro Dan 6 Kupfercash erheben, wozu dann noch 6 weitere Cash kamen, der Gehalt und »Squeeze« für die Schreiber und Angestellten des Mandarins.
In Sche kia tan konnte ich bis lange nach Mitternacht zu keiner Ruhe kommen. Der Transport der Kohlen den Hoang ho hinab spielt ja – wie wir gesehen haben – eine sehr wichtige Rolle. Auf Lasttieren wird von hier wenig abgeführt, das ist schon zu teuer; dabei kann selbst die schöne Kohle von Tsʿai gu kou nicht mit dem Koks und dem Grus von den kleinen Gruben beim Drachentor konkurrieren. Die zum Transport notwendigen Boote aber, die ja so gut wie nie wieder zurückkommen, werden viel höher oben am Fluß gebaut und fahren leer bis hierher zum Ladeplatz, wo sie 50–60 Tael wert sind. Durch Schiffsverkäufe wird also hier ständig viel Geld umgesetzt. Eine so verlockende Gelegenheit, Leute mit Geld im Beutel abzufangen, lassen sich chinesische Schnapphähne nicht entgehen. Und so hatte sich unweit nördlich von Sche kia tan der »Hu da han«, zu deutsch: der »lange Hu«, eingenistet. Vom »langen Hu« hatte ich schon in Han tschʿeng hsien gehört, ja bis Tung kwan ting war, wenn auch nur gerüchtweise, sein Ruf gedrungen. Hu da han galt als ein Räuberhauptmann, der vor nichts zurückschreckte. Unbegrenzter Mut, größte Verschlagenheit und natürlich Unverwundbarkeit wurden ihm nachgesagt. Und dieses Jahr hatte er es schon ganz besonders schlimm getrieben. Erst einen Tag vor meiner Ankunft hatte er noch acht Viehhändler aus Ho nan beraubt und einen davon totgeschossen. Überall hatte er seine Fühler und Spione. Die Zahl seiner Anhänger war nie sicher zu erfahren. Der Mandarin des Bezirks, d. h. der von Ki tschou, der auch von den Schiffern und Kohlenhändlern seinen Obolus bezieht, wagte nichts gegen ihn zu unternehmen. Was wollte er auch machen? Kaum hatte er einst 200 Tael auf »Hu da hanʿs« Kopf ausgesetzt, als schon in einer der nächsten Nächte ein dicht neben seinem Amtsgebäude wohnender reicher Literat von dem Räuberhauptmann ermordet wurde. Wer mochte sich da noch an den Verwegenen herantrauen? Auf 4000 Unzen (Tael) war jetzt die Summe angewachsen, die in Sche kia tan für gelieferte Boote an die Schiffbauergilde ausbezahlt worden war und der Räuber wegen nicht heimgeschafft werden konnte. Einige von den Leuten, die mit ihrem Geld bei Nacht über die Berge zu entwischen gedachten, waren trotz aller Vorsicht dem »langen Hu« und seinen Helfershelfern in die Hände gefallen. Was will man auch im Lößland auf Schleichwegen machen? Über die Lößschluchten gibt es nicht allzu viele Übergänge, und sowie der Morgen graut, kann in den vegetationsarmen Tälern keiner mehr unbemerkt durchschlüpfen.
Sche kia tan selbst und die gutbewaffneten Brotherren von so vielen Arbeitern zu überfallen, wagte der »lange Hu« noch nicht. Auch die Bauern in ihren Lößhöhlen blieben von ihm unbelästigt, denn was besitzt ein chinesischer Lößbauer an Sachen, die des Stehlens und Raubens wert wären! Der ist froh, wenn sein Getreidevorrat in seinen Körben und Steinzeugkrügen groß genug ist, daß er ihn und seine vielen hungrigen Mäuler über ein schlechtes Jahr hinüberbringt.
In Sche kia tan, in meinem Gasthaus, hielt die Schiffergilde bis zum frühen Morgen ihre Beratungen. Die Ansichten gingen sehr auseinander, ob man es wagen könne, das Silber mit dem Fremden zu schicken. Wird der »lange Hu« den passieren lassen, oder wird er auch vor ihm nicht zurückschrecken? Kalender und Zauberbücher wurden hervorgeholt, um diese schwierige Frage zu entscheiden, ob es ein glückbringender Tag sei, an dem ich reise. Als aber meine Diener in der Morgendämmerung zu satteln begannen, hatten sich doch sechzig Mann entschlossen, mit mir heimzureisen. Einige Esel trugen ihr Silber und Kupfer. Die meisten der Leute hatten ein kurzes Handschwert oder einen Spieß bei sich. Diejenigen, die Geld zu verteidigen hatten, hielten sich immer möglichst dicht an meine Person.
Erst folgten wir dem Flusse, den alten Befestigungen entlang, dann, als an einer Ecke die Sandsteinwände direkt aus dem Wasser aufstiegen, führte der Weg in steilen, kunstvollen Serpentinen an einem nahezu senkrecht abfallenden Felsabsturz in die Höhe. Unter überhängenden Felsen gab es dort einige schmale und gefährliche Holzstege. An einer solchen Stelle krachte plötzlich aus einer Höhle über uns ein Schuß, doch zum Glück ohne Schaden anzurichten. War das ein Signal gewesen oder nur eine Probe auf unseren Mut? Ich vermute fast das letztere. Ein Teil der Schiffsleute wollte in der Tat umdrehen, ließ sich aber doch größtenteils beruhigen.
Die erste Nacht blieb ich in einem hochgelegenen Lößhöhlendorf unweit eines Tempels, von dem aus »Hu da han« seine meisten Untaten verübt haben soll. Die Schiffer stellten dort all ihre Habe ungefragt, wie wenn sich dies von selbst verstünde, in meinen Schlafraum – Ma hat sich die Sache wahrscheinlich bezahlen lassen –, und die ganze Nacht über gingen ihre Wachen singend und schreiend vor meiner Lößhöhle auf und ab. Von Zeit zu Zeit krachte ein Schuß durch die funkelnde Sternennacht, – um dem »langen Hu« zu melden, daß aufgepaßt werde. Auch ein großes Gong kam wenig zur Ruhe, und darum gab es auch für mich nur einen unruhigen Schlaf. Am Tage darauf ritt ich bis in den Hof des Räuberlagers. Dort saß ganz hinten in einer niedrigen Lößhöhle eine alte runzlige Chinesin, die sich zwischen ein paar Steinen einen Topf Hirse kochte und uns mürrisch den Rücken zudrehte. Von den Räubern selbst war nirgends eine Spur zu sehen.
Wie eine dicke Haut überzieht hier der Löß das zerrissene Sandsteingebirge. Bei dem heutigen Klima der Abtragung preisgegeben, läßt der Löß im Grunde von Schluchten das unter ihm anstehende Gestein erkennen. Blendend weißgelb schimmerten in jenen heißen Sommertagen alle die Hänge mit den zahllosen künstlichen Terrassen. Jedes Fleckchen Land ist zwar angebaut, aber Weizen und Hirse steht darauf so dünn, daß sich schon auf kurze Entfernung kaum noch ein schwacher grüner Hauch erkennen läßt. In mageren Büschen sieben, acht Halme beieinander und diese dann fast ein halbes Meter von den nächsten entfernt – wie bei uns Kartoffeln etwa –, so sind die Getreidefelder im Löß hier bestellt. Es ist ein armes Hungerland. Wie oft fällt der Regen nur in unzureichender Menge! 1905 hatte es hier im Mai zum erstenmal nach sieben Monate langer Dürre geregnet, und doch war es kein schlechtes Jahr.
Bewunderungswürdig einfach leben die Lößleute. Außer ihrer eisernen Pflugschar in Speerspitzenform, eisernen Messern, Äxten, Nadeln, Krügen und Pfannen, den Steinen zu ihrer Eselmühle, ein paar irdenen Schüsseln, dem Indigo, der ihnen die selbstgepflanzten und selbstgewobenen Baumwollstoffe färbt, brauchen sie kaum etwas zu kaufen. Ich glaube, den meisten Bauern hier gehen im Jahr keine 3000 Cash durch die Finger, die Grundsteuer beträgt oft nur 8–9 Li Silber 10 Li = 1 Fen, 1 Li also ein Tausendstel eines Taels. pro mou – Morgen.
Nur in Lößhöhlen wohnen die Bauern der dortigen Gegend.
An den Abhängen haben sie das mürbe, gleichmäßig weiche Erdreich senkrecht und glatt abgegraben, davor einen Platz als Tenne geebnet und dann, einem Kellergewölbe ähnlich, 4–5 m hoch und 3 m breit eine Grotte ein paar Meter tief ausgegraben. Zum Schluß kommt eine dünne Lehmwand vor die Höhlung, der Eingang wird mit einer Holztür und Oberlicht versehen und das Zimmer ist fertig. Stellt es eine Küche vor, so fehlt nur noch der Rauchfang. Als senkrechter Schacht ist dieser rasch durch die Decke gegraben. Und wenn oben drüber eine Straße führt, so findet sicherlich kein Chinese etwas darin, daß der Rauchfang mitten in der Straße ausmündet.
Es war solch eine alte Wohnstube im Löß gewesen, über die ich eines Tags geritten kam. Sie gehörte zwei Witwen, wie ich später erfuhr. Mit einem Male scheut mein großer Brauner vor einer plötzlich mitten aus der Straße aufsteigenden Dampfwolke, ein jäher Sprung auf die Seite, daß ich schon fürchte, samt dem Pferde über den Straßenrand und in den Hof zu stürzen – da, ein dumpfer Ton, ein unterirdisches Rauschen, ein haltloses Rutschen – ein Zetern und Kreischen von Frauenstimmen – und ein ganzes Chinesenhaus bricht unter mir zusammen. Halb begraben, hilflos unter meinem zappelnden Pferde, suche ich mich vergebens aus den weichen Massen herauszuarbeiten, als auch schon, Furien gleich trotz ihrer kleinen Füßchen, drei Weiber mit Besen und Stecken auf mich losstürzen, rasend um Hilfe schreien und mich am Boden festhalten: »Du hast unser Haus eingeworfen!« – »Du mußt das Haus bezahlen!«
Aus allen Löchern rings sehe ich Ameisen gleich die Nachbarn zu Hilfe eilen. Oben an der Einbruchstelle stehen ratlos meine Diener. 7 m tief war mein Sturz gegangen. Erst finden sie nirgends einen Weg zu mir herab. Die Bauern selbst aber helfen mir erst recht nicht heraus. »Zahlen! Zahlen!« schreit nur die wütende Menge. Es gab erst eine tüchtige Keilerei, bis meine Diener, nachdem sie endlich heruntergefunden hatten, mich ausgraben durften. Gut, daß die Schiffer dabei waren. Sie halfen den Preis für das Haus herunterhandeln, und so kam ich mit dem Schrecken und 4000 Cash weg, d. h. also mit 10 Mark für ein ganzes Haus samt zerschlagenem Geschirr. Beruhigt, ja vergnügt zogen damit die beiden Witwen einstweilen zu ihren Nachbarsleuten.
Am 23. Mai war ich wieder im Hoang ho-Tal. In einem ganz engen und schmalen Felskanal, einem Tal im Tale, fand ich die braunen Fluten dahinrauschen, und auf den breiten, um 10 m höheren Felsleisten an beiden Talrändern lag trotz 30° Wärme eine dicke Eismasse. Von vielen Felsabsätzen unterbrochen, starrten von links und rechts kahl und tot die Talwände herab. Ganz oben im Talgrund zeigten sich beim Weiterreiten große, schmutzige, weißliche Wolken. Schnell fertig, erklärte mein Ma, das sei Rauch von Feuern der Schiffergilde; denn meine tapferen Schiffsleute hatten sich schon seit einer Weile von mir getrennt, unter dem Vorgeben, sie hätten jetzt nicht mehr weit zu einem Ort, wo viele Geschäftsfreunde von ihnen wohnten. Bald kam auch in der Tat ein größerer Ort in Sicht, malerisch an der linken Talseite hinaufgebaut: Lung wang tschen ist sein Name. Davor sah ich – immer in der Ferne noch – Dutzende von Männern flache Boote über die wellige Eisfläche ziehen und schieben. Die »Rauchwolke« aber sah sich jetzt immer sonderbarer an. Sie ging von der Mitte des 400 m breiten Talgrundes aus, aber nicht von einem Punkte, sondern wie von einem längeren Streifen. Und was ist denn dort weiter oben noch? Da fließt ja der Fluß breit über die ganze Talfläche hin! Bricht denn Hochwasser herein? Dann aber rasch auf die Talseiten hinaus, ehe es zu spät ist! Ein Rauschen wird hörbar, ein andauerndes gewaltiges Brausen – kein Zweifel, dort poltern mächtige Wassermassen ... Und nun enthüllt sich das Geheimnis: der ganze Hoang ho stürzt in freiem Fall über die Felsen in den schmalen Längsspalt, in dem ich den Fluß schon weiter unten im Tale getroffen.
Man hat hier ein ganz eigenartiges Naturschauspiel vor sich. Auf einer härteren, widerstandsfähigeren Platte im horizontal gelagerten Sandsteingebirge breitet sich der Gelbe Fluß erst weit aus, bespült links und rechts die Felswände, um hierauf von drei Seiten zugleich in einem Fall von etwa 9 m Höhe in eine kleine 15 m breite Kluft zu stürzen (Tafel V).
Um dicke starre Eismassen herum drängen sich die Fluten, oftmals geteilt stürzen sie in den schmalen Spalt. Da und dort sieht man Gletschermühlen sich drehen, tiefe Strudellöcher, Riesentöpfen gleich, daneben. Der Fall zieht sich eine lange Strecke an dem sonderbaren Felsgraben entlang, und es ist schwer, ja fast unmöglich, ein gutes Bild von seiner ganzen Größe und Wucht auf die Platte zu bekommen. 600 m mögen kaum genügen für die ganze Ausdehnung des Falles. In freiem Bogen, so daß man darunter durchkriechen kann, schießen öfters die Wassergarben in die Luft hinaus; ein Hexenkessel kocht und brodelt vor dem Beschauer, aber schmierig gelbbraun bleibt trotzdem der ewig schmutzige Geselle, gelb färbt noch der Gischt, der mir ins Gesicht weht.
»Wie heißt ihr den Fall?« fragte ich einen der umstehenden Chinesen, die mir nachgelaufen waren.
»Wasserfall«, lautete die rasche Antwort.
»Sonst hat er keinen Namen?«
»Lung wang sau Lung = Drache; wang ye = König. Lung wang ye werden meist die Flußgötter genannt; sau oder chia = Wasserfall. oder Lung wang chia«, wußte endlich ein etwas Klügerer zu melden, »früher – jetzt weniger – sagte man auch Hu kou dafür.«
Auch Hu kou wird schon im Yü kung, jener Beschreibung Chinas aus der Zeit vor 41 Jahrhunderten, genannt. Einer der alten chinesischen Kommentatoren des Werkes wußte ja auch, daß in Hu kou der Hoang ho wie siedendes Wasser zische. Ja freilich brodelt und zischt hier der Ho! Es ist wirklich ein Hu kou, eine Kochtopfklamm Siehe auch Richthofen, China I, S. 305, Anmerkung Hʿu = Topf, Kochtopf; kou = Mündung, Kluse. Von einem Hoang ho-Fall war aber vor meinem Besuch noch nichts bekannt geworden..
Die Leute im Ort Lung wang tschen leben von diesem Hindernis. Hunderte von Booten kommen jährlich hier durch und werden etwa ein Kilometer weit auf Walzen um das Hindernis herumgeschleppt. Anfang März jedes Jahres, sowie die Treibeismassen verschwunden sind, die den Fluß zwischen dem Fall und dem Drachentor so fest verstopfen, daß sogar Ochsenkarren zwei Monate lang in jedem Winter darüber fahren können, beginnt die Schiffahrt. Am lebhaftesten aber geht es in Lung wang tschen im September und Oktober zu, wenn die Gan tsʿao-(Lakritzenholz-)Schiffe (200 Stück) von Bau tu herabkommen; dann finden viele hundert Arbeiter Beschäftigung. Ende November 1907 sah ich noch 30 mit Gan tsʿao beladene Bau tu-Boote in Tung kwan ting liegen. Sie waren eben auf der Durchreise nach Ho nan.
Langsam ging mein Marsch weiter, bald dicht am Flusse hin, bald einer besonders schlechten Stelle hoch über die Berge ausweichend. Oft mußte der Weg erst von eigens hierzu geheuerten Leuten hergerichtet werden. Mit Spaten, Hacken und Säbeln waren oben auf den Höhen die Lößwege zu erbreitern, damit die Maultiere nicht mit meinen Kisten und Eisenkoffern in den Abgrund fielen.
Gasthäuser fand ich in jener Gegend gar wenige, wieder war ich auf die Beherbergung angewiesen, die mir die chinesischen Bauern anboten. Gegen Geld und gute Worte war trotz meiner vielen Tiere immer leicht ein Unterschlupf zu bekommen. Dann erzählten sie mir am Abend des langen und breiten von der großen Hungerzeit. Die leeren Höhlen in den alten Lößdörfern hatten freilich selbst nur allzu deutlich gesprochen. Tausende der unzählbar vielen Örtchen und Dörfchen haben heute nicht die Hälfte, ja nicht ein Drittel der einstigen Bewohner mehr. Wo aber sind diese Familien? Kein Mensch kann es mehr sagen. Manche sind wohl nur verzogen, geflohen und nicht wiedergekommen. Viele, viele aber sind langsam an Hunger zugrunde gegangen, zuletzt in den Fluß gesprungen oder im Kampf erlegen, erschlagen von den Bauern einer anderen Gemeinde, von Bekannten, die bei ihnen noch Vorräte witterten. Alle Bande des Staates, der Gemeinde und der Familie waren gelöst. Es herrschte die vollkommenste Anarchie, und auch innerhalb der Familien galt das Faustrecht. Wer noch etwas Mehl besaß, konnte sich sein Essen nur heimlich bei Nacht bereiten. Im Hohlweg, zwischen den Häusern hat damals ein Nachbar dem anderen, der Bruder dem Bruder aufgelauert, hat aus dem Lebenden Fleischstücke herausgeschnitten, hat ihn totgeschlagen, hat ihn zerhackt wie ein Stück Vieh, hat ihn gegessen – roh. Zweibeiniges Schaffleisch essen nannte man dies beschönigend. Tausende verfielen dem Kannibalismus.
Und als es immer weiter nicht regnete, als auch keine Saat mehr da war, zogen die Übriggebliebenen fort. Mancher Hauswirt hat mir so berichtet. »Damals schlossen wir die Häuser nicht ab. Alles blieb liegen. Und als wir wiederkamen nach anderthalb bis zwei Jahren, war es in den Häusern noch wie zuvor. In vielen Distrikten gab es jahrelang gar keine Einwohner mehr.«
Die Lößberge Schen si's und Schan si's sind von den Chinesen seit Jahrtausenden mit Hacke und Schaufel in Terrassen umgewandelt worden. Viele sehen wie die Berge süddeutscher Weinbaugegenden aus, wo die Steilheit der Hänge durch Weinbergmäuerchen gemildert wird. Vermöge der Eigenschaft des Lößes aber, sich vertikal abzuspalten und selbst in dünnsten Bogenformen jahrzehntelang Wind und Regen trotzen zu können, hatte es der chinesische Bauer nicht nötig, Steine herbeizuschaffen, um die Absätze durch Mauern zu stützen. Er gräbt bloß in seiner weichen Lößerde eine vertikale Wand ab und richtet sich den Berghang darunter als weniger steiles Feld zurecht. Da er in der Nähe seiner Felder wohnen will, so ist auch nichts näherliegend, als kurzerhand in die vertikale Lößwand zwischen den Terrassen, also gleichsam in die »Weinbergmauer« hinein, das Bauernhaus zu gründen. Tausende und aber Tausende der Siedlungen von Schen si und Schan si und in dem Lößland Kan su's sind auf diese Weise entstanden und befinden sich noch heute in demselben Urzustand.
Das einzelne Lößhöhlenhaus (im Nordwesten Chinas »dun« = Höhle genannt) ist ein nicht tiefer und gerade gestreckter Gang in ziemlich spitzer Tonnengewölbeform, der nach außen stets durch eine dünne Wand mit Tür, Fenster, Rauchabzug und unten einigen Heizlöchern für den Kang verschlossen ist. Handelt es sich um eine ältere und reichere Ansiedlung, so sind dicht neben dem ersten Höhlengang noch mehrere ganz gleiche Gewölbegänge gegraben, die als Viehställe, als Herdhaus, als Frauenhaus, Witwensitz u. dgl. Verwendung finden. Sehr viele Lößhöhlen haben einen Balkeneinbau, ein Stützgerüst im Innern, da ein Nachstürzen der hängenden Lößdecke, zumal wenn das Haus einige Jahrzehnte alt ist, nicht allzu selten stattfindet. Weil gerade die vertikalen Frontseiten der Lößhöhlenhäuser am leichtesten einbrechen, so ist, wo einmal die Siedlungen größer, die Bauern reicher geworden sind, zumal auf der Schan si-Seite des Hoang ho, der Höhleneingang durch ein Steingewölbe geschützt und geschmückt, an das sich erst nach einigen Metern die alte echte Lößhöhle von der gleichen gerade gestreckten Gangform anschließt (Tafel VI).
Neben den bloßen Höhlen und Höhlenhäusern mit Gewölbeeingängen aus Steinen und Ziegeln finden sich auf der ganzen Länge meines Wegs von dem Marktflecken Lung wang tschen bis über die Grenze der Unterpräfektur Lin hsien hinaus noch freistehende »Gewölbehäuser«. Sie sind eine Eigentümlichkeit gewisser Gegenden Schan si's, Wohnhäuser, die wie Nachahmungen der Lößhöhlen aussehen.
Am 5. Juni erreichte ich endlich die kleine Bezirksstadt Wu bau hsien, die auf einem über 100 m hohen Felsen an einer scharfen Ecke des Flusses auf dem rechten Ufer gelegen ist, und am 6. Juni fand ich mich vollkommen unerwartet in einem größeren Ort am Hoang ho in dem Marktstädtchen Ki kou.
Eine alte chinesische Kunststraße zieht sich von Ki kou einige 20 km weit am Ho-Ufer hin. Plötzlich hörte diese auf; ich wurde vom Ufer weg und auf eine Höhe gedrängt, und einmal oben, brachten mich die Lößschluchten und Lößwege immer weiter ab von meinem eigentlichen Ziele. Endlos an vertikalen, bald künstlichen, bald natürlichen Lößabstürzen hin führten mich die Pfade schmal und krumm, auf und ab den Bergkämmen entlang. Ein breites und zum Reisen viel bequemeres Tal lockte zuletzt noch weiter im Osten, kurz – am dritten Tage hinter Ki kou war ich gegen meinen Willen wieder einmal auf einer richtigen chinesischen Landstraße, wo im Nahverkehr sogar Karren verwendet werden können, wo die ansässigen Bauern alle Kilometer weit öffentliche, mit allen Schikanen eingerichtete Aborthäuschen errichtet haben, wo besondere Mistbeete in der Mitte der Landstraße zum selben Zwecke für die Pferde und Maultiere angelegt sind; also wieder in einem Zentrum der chinesischen kleinlich utilitaristischen Zivilisation. Und da fand ich die Stadt Lin hsien mit ihren hübsch gepflegten Stadtmauern, ihren großen Gebäuden mit sauberen hohen Steingewölben, mit Tempeln, die nicht zerfallen waren.
Lin hsien ist eine sehr gesuchte Pfründe der chinesischen Beamtenwelt, die jedem »Ti fang kwan« Ortsmandarin. noch immer viele tausend Tael eingebracht hat. »Seit Jahrhunderten ist hier Friede und hat keine Empörung unsere Stadt erreicht«, sagten mir die Einwohner. Aber als ich dort angekommen war, hatte Lin hsien einen kritischen Tag. Mitten in der Nacht – mein Gasthaus lag unfern vom Ya men – gab's wüsten Lärm. Erst verlangte man polternd und rasch nach den Stadttorschlüsseln, dann erschien in staubbedeckter Sänfte der Unterpräfekt (hsien) von der Nachbarstadt Hsing (hsien). Mit sechzig Soldaten war er in einem Tag die 75 km herübergekommen und hatte die ahnungslosen Leutchen aufgeschreckt. Ängstlich und neugierig rennt die ganze Stadt zusammen, jeder Bürger mit seiner Papierlaterne. Der Hsien betritt den Ya men, und hinter ihm drein drängt sich das Volk trotz der klatschenden Hiebe der Soldaten, die die Neugierigen zurückhalten sollen. Der Hsien von Hsing überreicht dem Hsien von Lin ein Schreiben des Nië tai in Tʿai yüan fu, und einige Augenblicke später weiß schon die ganze Stadt, daß und wie der Hsing hsien seinen Amtsbruder von Lin hsien verhaftet hat.
Daß der Lin hsien nicht Goldblättchen oder Quecksilber oder Opium schluckte, um sich dem Schimpf zu entziehen, dafür hatte der Hsing hsien gesorgt. Der Frau Hsien aber war es gelungen, insgeheim eine tödliche Dosis Opium zu verschlingen. Sie hatten ihr dann Jauche eingeflößt, um in ihrem Magen Brechreiz hervorzurufen. Die wirkte aber nicht mehr – die haßerfüllten Worte werde ich jedoch nicht so leicht vergessen, die mir diese Chinesin zurief, als ich sie auf die Bitte des Hsing hsien doch wieder ihrer Opiumdosis entledigt und lebendig gemacht hatte.
»Was sollen wir am Leben?« so klagte sie. »Sie werden uns doch alles nehmen! Die anderen sind zu mächtig und zu reich!«
Es hatte nämlich in Lin einen großen Rechtsstreit gegeben, den der Gemahl entschieden hatte. Die verurteilte Partei hatte nun – ohne daß der Beamte darum erfuhr – ihn in der Hauptstadt der Provinz der Bestechlichkeit angeklagt. Die Beweise, vielleicht auch die klingende Münze der verurteilten Partei waren so schwerwiegend, daß die eben geschilderte Verhaftung vom Nië tai, dem Provinzrichter, verfügt worden war.
Von Lin hsien eine kleine Tagereise nach Nordwesten liegt der Tse kin schan und Dang du schan. Mit dichtem Buschwald bedeckt, erhebt sich diese Berggruppe in steilen Felsen, die teilweise aus Granit, meist aus jüngerem, teilweise sogar trachytischem Eruptivgestein bestehen. Auf den Gipfeln stehen Tempel, die auch im »Gewölbestil« gebaut sind, und jährlich im dritten Monat findet dort oben eine große Messe statt. Dann drängen sich Tausende um ein Plätzchen, von dem aus die Theateraufführungen in dem engen Hof vor dem Tempel zu sehen sind.
Bei meinem Besuch aber war es herrlich ruhig dort oben. Nur die vielen, vielen chinesischen Götterbilder, die Hauptgötter, die man überall trifft, glotzten mich von allen Seiten an: der Tsʿu se ye mit einer Schildkröte, um die sich eine Schlange windet; ein tausendarmiger Buddha; Mi to ye, Maitreya oder der Lachgott mi lo fo oder auch Dickbauchbuddha genannt.; aufrecht stehend mit gefalteten Händen, in einer Rüstung und mit langem Gewand wie eine Jeanne d'Arc der Gott Hu fa ye; Yü wang ye und der Ortsgeist; der Berggeist; auch der Strohsandalengott fehlte nicht. Dieser war einmal ein Kaiser, der unsichtbar durch sein Reich reisen konnte und darum alles wußte, was darin vorging. Er war der erste, der die Strohsandalen der Chinesen verfertigte. Noch viele andere stehen dort oben auf der Höhe. »Wer kennt denn alle unsere Götter?« meinte der Tempelhüter. Er war ganz ärgerlich ob solch einer Zumutung. Wie so oft in China waren taoistische und buddhistische Figuren kunterbunt durcheinandergemengt.
Es ist diese Berggruppe eine hohe isolierte Warte. Um Hunderte von Metern das übrige Bergland überragend, läßt sie – selbst lößfrei – ringsum tief unter sich das staubige Lößland. Die engen Schluchten mit den senkrechten Wänden, die Pfeiler und Orgeln und messerdünnen Mauern, die sich immer im Löß in den Talrissen finden, treten, von der Höhe gesehen, zurück. Gegenüber den gerundeten Kuppen erscheinen diese nur noch wie die Runzeln in der Haut eines Dickhäuters. Nirgends ist jedoch ein Fleckchen eben. Alles ist tief zernagt von den stets heftig auftretenden Gewitterregen der Sommermonate. Und dies Land aus Staub und gelber Erde scheint unabsehbar, grenzenlos nach Westen weiterzugehen und nach dorthin ganz schwach anzusteigen.
Im Osten allein fühlt sich das Auge etwas angezogen. Dort zieht in 40 km Entfernung in drei unter sich parallelen und scharf geschnittenen Ketten das Randgebirge, der Abschluß der Schen si- und Ordos-Sandsteinscholle vorbei, der Rand, den wir beim Drachentor kennengelernt haben. »Wie heißen die Berge dort?« fragte ich den sonst intelligenten Tempelhüter auf dem Dang du schan. »Weiß nicht,« lautete wie gewöhnlich seine Antwort, »bin noch nicht dort gewesen.« Gebirgskettennamen sind beim Chinesenvolk so gut wie unbekannt. Nur der einzelne Berg und Gipfel erhält einen Namen.
Weiter ging es Tag um Tag durch lößbedecktes Land, und bald hinter der Berggruppe des Dang du schan und Tse kin schan zumeist wieder nahe am Fluß.
Die Reise war sehr anstrengend. Täglich brannte die Sonne glühend heiß. Täglich zeigte das Schleuderthermometer über 30° C. Ich konnte der Tiere wegen nur noch frühmorgens und wieder abends reisen und war herzlich froh, als ich endlich durch die Tore von Bau de tschou einritt!
Auf einem nach drei Seiten felsig und steil abfallenden Bergvorsprung liegt es hoch über dem Hoang ho. Wie es schon im Jahre 1720 die Jesuiten beschrieben haben, die die ersten und letzten Europäer waren, die vor mir von dieser Stadt etwas berichteten, ist der hohe Stadtberg nur durch einen schmalen Grat mit dem darunterliegenden Bergland verbunden. Burgähnlich umschließt eine schwächlich aussehende Ringmauer die Amtswohnungen, die Tempel und einige heruntergekommene, alte Häuser. Das eigentliche Leben spielt sich unten am Flusse ab. Dort sind die Häuser und Höfe der Kaufleute. Ganz so ist es gegenüber am rechten Flußufer, in der Zwillingstadt Fu ku hsien, wo gleichfalls die Neustadt dicht am Flusse liegt, wogegen die staatlichen Gebäude in einer Art Burg höher oben vereinigt sind.
Als ich in den letzten Tagen des Juni in der Stadt Bau de ankam, war es dort sehr ruhig. Das hauptsächlichste Verkehrsmittel jener Gegend ist das Kamel. Da aber die Chinesen dieses Tier in der heißen Jahreszeit, solange es nur ein dünnes Sommerhaar hat, nicht benutzen, so ist es während dieser Monate tot in Bau de.
Das Stadtbild ist malerisch. Die verrotteten Mauern mit den flankierenden Türmen auf den roten und rotvioletten Tonen und Mergeln des Burgbergs, und dazwischen die bizarren Formen des Löß gaukeln eine mittelalterliche Feste Europas vor.
Kurz oberhalb der Stadt hat der Fluß Karbonkalk zu durchbrechen. 10 km von der Stadt ist ein Katarakt, Tien kiao, die Himmelsbrücke genannt. Eine Kalkschicht hat dort der erodierenden Kraft des Wassers etwas mehr Widerstand entgegengesetzt, und ganz wie bei Hu kou hat der Fluß diese bis jetzt erst in einzelnen schmalen spaltähnlichen Furchen anzugreifen vermocht.
Die Chinesen kommen durch die Tien kiao-Schnelle gerade noch mit ihren Booten durch. Wie durch eine Floßgasse reißt es ihre Schiffe hinab, und viele zerschellen alljährlich an den seitlichen Felsen. Die Schiffe können nur ganz rechts an hohen Felsen entlang hinabfahren. »Jährlich gehen 1–2 »fen« (10 bis 20 %) dort zugrunde,« sagte der Polizeioffizier von Bau de, »und etwa zehn Mann finden alle Jahre den Tod in den Wellen. Deshalb sind auch die Fische so schmackhaft, die man unterhalb der Strudel fängt, und die von hier aus jeden Winter, in Kisten verpackt, in ganzen Maultierladungen nach dem Kaiserpalast in Peking gesandt werden.« Und wirklich, es sind auffallend gut schmeckende, bis ein drittel Meter lange Karpfen, die dort mittels großer Hamen gefangen werden. Namentlich bei Hochwasser werden sie eine leichte Beute, wenn der Fluß so trüb und dick dahinfließt, daß die Tiere ängstlich am Rand und an der Oberfläche nach Atem ringen. Die Versorgung des kaiserlichen Palastes mit Fischen von Bau de war eine uralte Sitte. Auch in der alten Reichsbeschreibung der Jesuiten wird sie erwähnt.
Zwischen diesem Katarakt und der Stadt Bau de, beinahe inmitten des Flußtales, liegt ein kleiner Felsberg. Er ist heute durch Schlammbänke mit der rechten Talseite verbunden. Die Chinesen nennen ihn den Kia tschou schan, den Berg von Kia tschou, d. i. die nächste Stadt, die etwa 150 km weiter südlich am Flusse liegt. Als einst Yü wang ye, den wir bei Gelegenheit seiner Arbeit am Drachentor kennengelernt haben, die Verhältnisse hier oben am Gelben Flusse in Ordnung brachte, soll er – wie jeder Bauer, jeder Gebildete, Offizier und Beamte in Bau de tschou mir ernsthaft versichert hat – diesen Berg von Kia tschou hergeschafft haben. Man soll noch bei Niederwasser zwei Ringe, die dem Gott zum Ziehen dienten, vorn an den Felsen sehen können. Er wollte mit dem Berg das »Loch« an dem Tien kiao-Katarakt verstopfen, damit der Fluß glatt weiterfließe. Nach landläufiger Ansicht entsteht eine Schnelle nur durch ein Loch, in welches das Wasser stürzt. Yü wang ye selbst hat also den Berg den Fluß heraufgezogen. Er war schon ein alter Mann damals. Nun hatte er am Morgen, als er an die Arbeit ging, zu seiner Frau gesagt, sie solle ihm das Essen bringen, wenn sie seine Trommel höre. Die Unglücksfrau hörte aber die Trommel nicht, und so rief sie ihren Mann zum Essen, ehe er das Zeichen gab, – da ging plötzlich der Berg keinen Zoll mehr weiter. Die Frau hatte durch ihr Rufen ihrem Mann die Vollendung seines Werkes unmöglich gemacht. Und so steht heute noch der Berg von Kia tschou einige Kilometer von dem Katarakt entfernt, und jährlich geschieht darum dort so viel Unglück.
Es war jetzt, Anfang Juli, die Zeit der Opiumernte gekommen. Auf den Feldern sah man überall die braunen nackten Körper der Chinesen zwischen den hohen Mohnstauden stehen und mit einem kleinen sichelförmigen Messerchen horizontale Schnitte in die Mohnköpfe einritzen. Den herausquellenden Saft strichen kurz darauf andere mit dem Finger ab und schmierten ihn in einen kleinen Topf. Es gilt zwar auch hier für besser, erst am Morgen darauf den Saft einzusammeln, jedoch die Angst vor Regen und noch mehr die vor Dieben hält die meisten davon ab, so lange zu warten. Es war nun immer drückend heiß; trotz der sengenden Sonne trugen aber die wenigsten Leute Strohhüte. Die Einwohner litten deshalb allgemein an Kopfschmerzen, die aber als ein selbstverständliches Sommerübel hingenommen wurden. Wer etwas dagegen tun wollte, der klebte sich ein großes schwarzes Ziehpflaster mitten auf die Stirn oder an die beiden Schläfen. Die chinesischen Schönen mit ihren weißgeschminkten Vollmondgesichtern sahen damit recht komisch aus.
Hier wurde ich eines Abends von einem alten Manne aufgesucht, der mich bat, seiner Frau bei einer Geburt beizustehen. Ich fand ganz hinten in einem Seitengebäude einer weitläufigen Gewölbewohnung ein fast verzweifeltes junges Geschöpf. Seit drei Tagen hatten die Helferinnen in der Not sich vergeblich um sie bemüht, hatten die Frau an den Armen gepackt und wieder und wieder ihren Körper auf den Boden gestoßen und sie geschüttelt, wie man etwa einen Sack ausleert. Als dann bei meinem Besuch alles gut abgelaufen war, nahm eine der alten Chinesinnen das neugeborene Mädchen, zeigte es der Frau und fragte kurz und rauh: »Willst du's, willst du's nicht?« »Will es nicht (bu yau)«, klang sofort und bestimmt die Antwort. Und als ich kurz darauf das Haus verließ, sah ich eben die Alte mit dem armen Würmchen in der Richtung auf den großen Strom verschwinden. Hätte der alte Mann vorher gewußt, daß es ein Mädchen sein würde, er hätte mich gar nicht gerufen!
Ich setzte bei Bau de tschou über den Hoang ho. Der Fluß ging gerade sehr hoch und war mittlerweile an gar manchen Stellen bis 1 km breit geworden. Da es aber um Bau de tschou immer nur wenig geregnet hatte, mußte die Wassermasse große Regen in der Provinz Kan su und in Tibet bedeuten.
Ich reiste dann in westlicher Richtung weiter. Am ersten Abend war ich in Gu schan bu, einem viereckigen Kastell mit hohen Mauern.
15 km hinter Gu schan bu ritt ich durch die »große Mauer«. An der Straße, im Talgrund, war freilich nichts mehr von ihr übriggeblieben, bis auf die letzten Spuren hatte der Bach, der dort für gewöhnlich halb versiegt in einem flachen und steingeröllreichen Bett sich hinwindet, das stolze Menschenwerk weggewischt. Auf den Höhen aber, links wie rechts, haben sich die Befestigungen noch in guten Resten erhalten. Die »große Mauer« war einst ein 5 m hoher Wehrgang aus gestampftem Lößlehm. Aber gerade dieser fehlt heute auf weiten Strecken. Regen und Sandstürme von Jahrhunderten mögen ihn weggefegt haben. Vielleicht aber stand an vielen Stellen überhaupt nie eine eigentliche und geschlossene Mauer. Heute sieht man alle paar hundert Meter noch starke mehrstöckige Türme, die einen nur aus gestampftem Lehm, die anderen aus blaugrauen Ziegeln. Viele der letzteren konnten Wachmannschaften als Wohnung dienen. Der verschiedene Grad der Verwitterung der Bauten machte mir den Eindruck, als ob die Lehmmauer ältesten Datums sei, also ursprünglich aus der Zeit vor Beginn unserer Zeitrechnung herstamme, während die Ziegeltürme in späteren Jahrhunderten, ja wohl erst in der Ming-Zeit (1368–1644), wie eine Blockhauskette erstellt worden waren.
Die Mauer folgt den letzten größeren Erhebungen. Weiter draußen, im Mongolenland, wird die Landschaft immer noch flacher, immer mehr gleichen sich die Geländeunterschiede aus. Wenn man dann von einem der flachen Hügel dort außen diese lange, endlose, am fernen Horizont sich mählich verlierende Kette von viereckigen, klotzigen Türmen sieht, so ist es ein noch heute imponierendes Bollwerk. Wie manches Reitervölkchen, das beutelustig über die fleißigen chinesischen Bauern herfallen wollte, mag beim Anblick dieser dräuenden Turmkette stutzig geworden und kleinmütig umgekehrt sein! Wie manches ist hier sicherlich mit blutigen Köpfen wieder heimgeschickt oder aufgerieben worden!
Weitere 15 km über der großen Mauer draußen liegt heute der Ort Scha leang (zu deutsch: Sanddüne), ein Häufchen Lehmhäuser, erbärmliche halb eingestürzte Buden; das ist der heutige Grenzort. Ganz selten ist dortherum noch ein Strauch, eine Weide oder Tamariske zu sehen. Viel, viel Sand aber gibt es in langen Dünenzügen, die auf eine vorherrschend nordwestliche Windrichtung hinweisen. Auch sind ganze Täler davon ausgefüllt. Wo aber ein Plätzchen frei ist, wo sich nur ein Acker anlegen läßt, wohnen Chinesen. Bei meinem Besuch in Scha leang ließ sich dort kein einziger Mongole blicken. Kein Wunder! Man war hier eben daran, von Reichs wegen zu »kolonisieren«. Ein Beamter im Range eines Ör fu (Präfekt II. Klasse) saß damals in Scha leang schon seit vielen Monaten mit hundert Kavalleristen aus Kuei hoa tsch'eng. Im Auftrag des dortigen Tatarengenerals sollte er den Mongolen ihr Land »abkaufen«, damit dieses in chinesisches Reichsland umgewandelt würde. Zu dem Zweck wurde alles Land in der Umgebung je nach seiner Güte in vier Klassen geteilt und von Amts wegen bestimmt, daß pro »Tsching«, d. i. je 1OO Mou-Morgen, für die erste Klasse je 40 Tael (120 Mark), für die zweite 30 Tael, für die dritte 20 Tael und für die vierte 10 Tael bezahlt werden müßten, oder der bisherige Eigentümer habe kein Recht mehr auf seinen Besitz. Zweitens wurde bestimmt, daß von jetzt an jährlich eine Grundsteuer an die chinesischen Beamten zu entrichten sei, ganz entsprechend der Abgabe, die von den Ländereien innerhalb des eigentlichen China erhoben wird. Die Mongolen wehrten sich hiergegen, soviel sie nur konnten. Für ihren Grund und Boden, der ihnen bisher, soweit sie Adlige waren, als freies Eigentum gehört hatte, und für dessen Benutzung sie nur eine Taxe an ihre eigenen Fürsten bezahlt hatten, sollten sie nun plötzlich eine chinesische Besitzurkunde kaufen und dann an die Chinesen noch jährlich Steuer bezahlen! Mit Hilfe der hundert Kavalleristen und der dreißig Soldaten, die unter einem Leutnant ständig in Scha leang lagen, waren bis zu meinem Besuch etwa hundertachtzig Tsching erledigt worden. Es sollten aber mehrere tausend im ganzen sein. Wer von den Mongolen die Urkundensteuer nicht bezahlen konnte oder wollte, dem wurde kurzerhand sein Grundstück beschlagnahmt und meistbietend weiterverkauft.
Es ging wild zu in Scha leang bei dieser Soldatenwirtschaft. Der Ör fu mit seinen Schreibern saß still in einer der halbeingefallenen Lehmhütten. Er liebte das Opium und bot auch mir – höflich, wie die Chinesen sind – bei einer Einladung ein Pfeifchen davon an. Wie ein mächtiger Polyp, der von einem verborgenen Winkel aus seine Fangarme ausstreckt, so saß er in seiner Lehmstube, ließ dort den Sand und Staub der Wüste durch alle Ritzen pfeifen und sandte nur seine Soldaten hinaus. Diese bestimmten die Klassen und die Größe der Felder. Am Tage vor meiner Ankunft hatten unweit von Scha leang drei Soldaten einen Pächter kurzerhand totgeschlagen, weil er nicht gleich zugeben wollte, daß auf seinem Acker so viel Erbsen ständen, wie die Soldaten behaupteten. Am Tage darauf kam die Kunde, daß einige Mongolen ein Stück Land verteidigten, an dem sie kein Recht mehr haben sollten. Sofort sattelten zwanzig Reiter und verschwanden mit ihren Mausergewehren und Schwertern in der Richtung dorthin. Um überhaupt Stroh kaufen zu dürfen, mußte ich den Mandarin besuchen, und als ich den Soldaten Futter abkaufte, mußte ich ein Auge zudrücken und für je acht Scheffel zehn bezahlen!
Mit dem Vorgehen der Regierung waren die chinesischen Kolonisten ebensowenig einverstanden wie die Mongolen. Die letzteren zogen sich weiter in ihr Land zurück, ruhig abwartend, bis die Truppen wieder weggerufen würden. Nur vereinzelt wagten die Kolonisten von dem beschlagnahmten Grund zu kaufen. Vor allem fehlte ihnen dazu freilich das nötige Kapital. Im Kou wei, »außerhalb der Tore«, den Bauern zu spielen, paßt ja meist nur den ganz besitzlosen Chinesen. Und dann: Wie viele Leute im inneren China haben überhaupt etwas Bargeld? Viele fürchteten auch die Rache der später wiederkommenden Mongolen.
Ich fand infolge dieser augenblicklichen Unsicherheit keine Möglichkeit, weiter in die Ordos-Mongolei vorzudringen. Von dem Grab des Dschinggis khan (chinesisch Yüan Tai tsu in Yetschen khoro oder Ye tschen ho lo, wie die Chinesen diese mongolischen Worte aussprechen) hörte ich nur, es seien dort drei Särge, die alle mit gelber Seide beschlagen seien, in Filzyurten aufgestellt. Während fünf Tagen würden sie jedes Jahr im dritten chinesischen Monat öffentlich ausgestellt. Von allen Seiten kommen dann die Mongolen an dem Platz zusammengeströmt, um sich vor den Zelten zum Ko tou niederzuwerfen. Kein Chinese darf aber in der Nähe zusehen!
Von Scha leang in nordöstlicher Richtung wieder zum Hoang ho zurückreisend, kam ich am dritten Tag in die Stadt Ho tschü hsien. Dicht unterhalb Ho tschü hsien geht die »große Mauer« über den Fluß. Oberhalb Ho tschü hsien auf dem Schan si-Ufer beginnt sie – so verwahrlost und zerfallen sie auch heute ist – als »Mauer« eine wirklich achtunggebietende Größe anzunehmen. 5 m breit an der Basis und 6–7 m hoch, besteht sie nun hier aus einem nach außen von großen grauen Ziegeln geschützten Lößwall mit Zinnen darauf, die gleichfalls aus Ziegeln gemauert sind. Etwa alle 80 m treten knotenartige Vorsprünge hervor, kleine massive Bastionen, von denen aus Angreifer, die etwa durch Untergraben eine Bresche in die Mauer zu legen suchten, jederzeit selbst mit Pfeilen und Steinen flankiert werden konnten. Bei Ho tschü hsien brach ich meine Hoang ho-Reise ab. Ich kehrte dem Fluß entlang abwärts nach Bau de tschou zurück, wandte mich dann nach Osten und erreichte nach vier Tagen die Stadt Ko lan tschou. Ich war damit endlich vom Hoang ho weg und über die Randberge gekommen und stand nun schon inmitten der Berge und der »Horste« von Schan si.
Mag sein, daß ich nach den langen Wochen und Monaten, die ich in der Umgebung von dürrem, gelbem Löß und gelblichgrünem Sandstein zugebracht, bei dem nunmehrigen Wechsel mich ganz besonders glücklich fühlte. Ich glaube aber, auch objektiv betrachtet sind diese Ko lan tschou-Berge schön zu nennen.
Ich bog bald ab von der Hauptstraße, da diese als schlechter und steiniger Maultierpfad in südöstlicher Richtung zur Provinzialhauptstadt Tai yüan fu führt. Über saftig grüne und blumenreiche Alpenweiden erstieg ich einen Paß, von dem aus sich mir ein herrlicher Blick nach Osten öffnete. Ganz verschieden vom Tsin ling-Gebirge, wo ja die dichtgedrängten, langen und schmalen Parallelketten vorwiegen, deren Grate und Kämme oben alle wie mit einem Schaumlöffel gleich hoch gestrichen erscheinen, sind es hier mehr einzelne Gruppen, Bergmassive, die aus breiten, in der Erosion weit fortgeschrittenen Tälern emporsteigen. Dazwischen treten einzelne Felsmassen, wie der Ko lan-Berg selbst, mit breiten flachen Gipfelflächen horstartig heraus und geben mit ihrem Tannenschmuck ein erquickendes Bild.
Die Täler, selbst die allerabgelegensten und höchsten, sind hier herum noch bewohnt. Wo der Bauer sein Fortkommen nicht mehr findet, da sind es arme Köhler und Holzhauer, die ein Häuschen haben und leider mit den letzten Resten zusammenhängender Waldbestände schlimm umgehen. Auffallend wenig werden die üppig grünen Rasen auf diesen Bergen verwendet. Freilich, was soll auch der Chinese damit, was soll er hier weiden lassen? Milchwirtschaft kennt er nicht. Milch genießt er nicht. Der Chinese hat nicht gelernt, eine Kuh zu melken. Seine Rinder braucht er nur zum Ziehen, zum Pflügen. Seine winzigen schwarzen Ziegen hält er sich auch nur des Fleisches wegen; die werden von den Kindern gehütet, und für die genügen die Halden im Tal. Es ist darum recht einsam auf den Bergen, und so hat sich noch etwas jagdbares Wild erhalten können. Von den vielen Fasanen und Hasen abgesehen, gibt es hier Rehe und Wildkatzen, Füchse usw.
In den Tälern des oberen Fen ho und seiner Zuflüsse, die ich nun östlich der Wasserscheide erreichte, hatte es im Juli 1905 sehr wenig geregnet. Man war darum allgemein um die Hirseernte besorgt, und fast täglich begegnete ich Bauernaufzügen, die unter nicht endenwollendem Krachen und Knattern von Feuerwerkskörpern, mit Gongmusik und mit Fahnenbegleitung eine Sänfte mit einem Papier- oder Tongott herumtrugen. Auch eine vierzehntägige Fastenzeit war von den Dorfältesten des oberen Fen ho-Tales beschlossen worden, weder Schnaps noch Fleisch durfte während dieser Zeit genossen werden. Es war die dritte Fastengegend, durch die ich in diesem Jahre kam. Auch ich mußte mich streng diesen Regeln fügen. Nirgends wurde mehr geschlachtet, nirgends gab es Fleisch zu kaufen, und als ich unterwegs mir einmal ein paar Fasanen erlegt hatte, erklärte mir ein Gastwirt, in seinem Hause dürften diese während der Fasten weder zubereitet noch gegessen werden.
In der Frühe des 3. August stand ich an der offiziellen Quelle des Fen ho, des Hauptflusses von Schan si, der diese wichtige Provinz von Nord nach Süd durchfließt und kurz unterhalb vom Drachentor von links her in den Hoang ho mündet. Am Fuße eines Felsens sprudelt die starke, klare Quelle hervor, die +70° maß. Sie war früher einmal gefaßt worden und quoll einst, wie es scheint, aus einem großen steinernen Pantherkopf, den man heute noch sehen kann. Von schön behauenen Steinen eingefaßt, liegt davor ein kleiner klarer See. Ein Tempelchen mit der Göttin Niang niang erhebt sich dahinter auf einem kleinen Felsen unter hohen Fichten und überhängenden Weiden. Ein blaues wohlriechendes Rauchwölkchen stieg dort an jenem schönen, sonnigen Morgen aus einem Urnenscherben empor. Ich begegnete nahe bei der Quelle einer hübschen jungen Chinesin, die in ihrer hellroten Jacke mit den kleinen Füßchen gar parademarschmäßig daherstolzierte; sie hatte wohl einer der Quellnixen geopfert. Wer mochte ihr geheimes Anliegen wissen? Wem mochte es gelten?
Eine Tagereise von dort nach Nordosten liegt die Präfekturstadt Ning wu fu. Wie freute ich mich doch schon lange darauf, endlich die Annehmlichkeiten einer reicheren chinesischen Stadt zu genießen! Fleisch, Reis und andere Lebensmittel, die mir ausgegangen waren, ja vielleicht gar ein europäisches Gesicht mochte sich dort finden.
Es war auch wirklich ein großes Ereignis, als ich allein und etwa eine Stunde hinter meinem Packzuge durch die Tore der Stadt einritt. Die bekannten ältesten Leute haben mir später versichert, sie könnten sich nicht entsinnen, je beim Einzug eines neuen Präfekten oder beim Besuch eines Generals so viel Menschen auf der Straße gesehen zu haben wie bei meinem Empfang. Aus den hintersten Höfchen kam alt und jung herbeigelaufen, um den ersten Fremden, der in europäischer Kleidung ihre Stadt besuchte, zu sehen. Schüchtern erst, dann immer stärker und voller begann bald hinter dem Tor ein Ruf aus dieser Menge, der, hätte ich den Sinn der Worte nicht verstanden, würdig und ehrend hätte klingen können. Es war aber gerade Melonenzeit, und so wäre trotzdem bald kein Zweifel mehr übriggeblieben, wie hier die Stimmung war. »Großer Aff«, »Yang gui tse«, »Schildkrötensohn«, »Bastard«, und was alles chinesische Volksphantasie an Unflätigkeiten weiß, flog hageldicht mit Melonenschalen und Schmutz hinter mir drein, so daß ich gern dem Pferd die Sporen gab. Vergeblich hatten mittlerweile meine Diener in einem Gasthaus Quartier zu machen gesucht. Alle blieben fest verschlossen. »Wir brauchen keine anderen Götter, wir wollen keine Missionare in der Stadt!« »Europäer sind alle Christen und Missionare.« Ich mußte zum Schluß in das Amtsgebäude des Präfekten flüchten. Der alte Herr verschaffte mir dann rasch Zutritt in ein Haus, ich blieb auch fortan ganz ungestört, nur daß am anderen Tag in stundenlangen Besuchen von Seiten der Kaufleute und Offiziere des Orts mit läppischen Fragen und Antworten viel Zeit verloren ging. Doch dies gehört zum Reisen in China.
Halbwegs zwischen Ning wu fu und So tschou, das ich eine Tagereise später erreichte, kam ich durch den inneren Zweig der großen Mauer, die ja im Norden von Schan si sich in zwei Teile teilt und also doppelt angelegt ist. Die Mauer folgt auch hier einem höheren Bergzuge und zieht ungefähr westöstlich. Die Gegend außerhalb ist wieder flacher, so daß dort vielfach Karren verkehren können. Alle Höhen dort draußen sind wieder dicht mit Löß eingedeckt.
Die Gegend – ich zog jetzt nach Nordwesten weiter – ist kahl und öde. Es gibt nicht sehr viele Dörfer, aber viele alte Befestigungen. Ein riesiges Lager, mehr als fünfzehnmal so groß wie die Saalburg im Taunus und mit doppelt so hohen Mauern, ist der sonst ganz unbedeutende Ort Tsing ping, den ich 60 Li hinter So tschou erreichte. Er gehört einer Kastellreihe an, die sich innerhalb des äußeren Zweiges der großen Mauer hinzieht.
Ich mußte dort meinen Schlafraum mit einem reichen chinesischen Kaufmann teilen. Es gab eben wenig Auswahl in dem kleinen Ort, denn auch in Tsing ping sind heute die meisten Häuser zerfallen. Das Unangenehme bei diesem Zusammenwohnen war nun, daß der Herr in einem großen hölzernen Sarge lag. Er war nämlich draußen in der Mongolei schon ein halbes Jahr zuvor gestorben und befand sich jetzt auf der Rückreise heim nach Ho nan. Der Sarg hätte mich noch wenig geniert, wenn sein Inhalt in der heißen schwülen Sommernacht auch etwas auf die Geruchnerven fiel, aber alle Augenblicke glitt während der Nacht der große weiße Hahn von dem Sargdeckel herunter und zappelte dann so verzweifelt an dem Strick, mit dem er an den Sarg gefesselt war, daß ich immer wieder aufstehen mußte, um das arme Tier an seinen Platz zurückzubringen. Gerne hätte ich das Tier befreit, aber es wäre ein zu großer Skandal gewesen. Ein weißer Hahn fehlt ja in China auf keinem Sarge. Er hat die schlechten Einflüsse und bösen Geister abzuhalten, denn er ist das Sinnbild des Guten und Lichten (Yang siehe S. 17, Anm.). Auch in der Sonne ist ein Hahn, so erzählten mir viele Chinesen, wie im Mond ein Hase sitzt, den man ja in jeder klaren Mondnacht sehen kann. Mein gefiederter Zimmergenosse muß damals einen harten Kampf mit den Geistern gehabt haben oder, was auch leicht möglich ist, er war betrunken. Ich habe öfters gesehen, daß die Chinesen dem Hahn auf einem Sarg Alkohol eingossen; warum, konnte ich leider nie herausbringen. »Das macht man eben so«, bekam ich stets auf meine Frage zur Antwort. Kurz nach Mitternacht begann die gute Seele dann trotz des mißlichen Sitzplatzes die Stunden auszurufen. Ich wurde darum für meine Diener ein unangenehmer Frühaufsteher, so daß sie künftig doppelt eifrig nach einem ruhigen Zimmer für ihren Herrn ausschauten.
Obwohl ich nun auf größeren Straßen reiste, hielt es doch auch hier immer sehr schwer, das nötige Kleingeld einzuwechseln, mit dem die täglichen Ausgaben beglichen, Stroh- und andere Einkäufe besorgt wurden. Das chinesische Volk rechnet noch heute alles nach dem Kupfercash. Altchina besaß höchstens eine Kupferwährung. Nur Kupfer wurde bis vor kurzem in China gemünzt. Der Kurs des Silbers, d. h. wie viele einzelne Kupferstücke für eine Unze, Tael (chinesisch Leang) genannt, eingewechselt werden können, schwankt stets nach Ort und Zeit und richtet sich nach dem Bedarf der Kaufleute, nach den Terminen, wann diese ihre Zahlungen an ihre Gläubiger zu leisten haben. Es ist mir des öfteren passiert, daß, wenn ich bei einer kleinen chinesischen Bank wechselte, ich beim selben Manne von einem bestimmten und gar nicht hohen Betrage an plötzlich viel weniger bekam. Der augenblickliche Bedarf der Bank an Silber war mit der ersten Summe gedeckt, ich hatte durch mein Mehrgebot bereits den Kurs gedrückt.
Auch hier in Nord-Schan si, entlang meiner Straße, war viel zu wenig Kupfergeld vorhanden. Man suchte mir immer Papiergeld zu geben, das aber stets nur im Lokalverkehr seinen Wert hat und meist nur von größeren Kaufleuten und kleinen Banken ausgegeben wird, um dem Mangel an Kupfergeld abzuhelfen. Jedesmal, wenn ich den Versicherungen glaubte und einen solchen schmierigen, kaum mehr leserlichen Lappen 20 oder 30 km weiter im nächsten Nachbarort anbringen wollte, verlor ich daran bis zu 10 und 20 %.
Ich traf am 8. August in Tsing schui ho ting ein, nachdem ich wenige Stunden vorher durch den äußeren, den nördlichen Zweig der großen Mauer gekommen war, die hier gleichfalls eine geschlossene, doch weniger sorgfältig gebaute Mauer ist. Sie liegt auch hier in Ruinen. Die letzten Reste der einstigen militärischen Besatzung wurden aber erst 1900 abkommandiert, als man die Soldaten gegen die Europäer nötig hatte. Tsing schui ho ting ist als Ting Sitz eines Ör fu (Unterpräfekten) und hat als neue und außerhalb des eigentlichen China gelegene Stadt keine Umwallung. Das Gebiet wurde erst im letzten Jahrhundert den Mongolen »abgekauft«. Die Felder wechseln in jenen Gegenden mit Steppen ab, auf denen viel »Gan ts'ao« wächst und weiße chinesische Fettschwanzschafe, kleine schwarze chinesische und auch große graue mongolische Ziegen, Pferde, Esel und Maultiere weiden. Aber Milch wird hier nur ausnahmsweise von den Chinesen genossen. Von Getreide werden nur noch die verschiedenen Hirsearten und Buchweizen angebaut.
Es war das Jahr 1905 wieder ein schlechtes Jahr. Im Norden hatte es wenig und sehr spät geregnet, und die Regen bestanden fast nur aus heftigen, rasch vorüberziehenden Gewittern. Auch an dem Abend, an dem ich in Tsing schui ho ting war, brach ein starkes Gewitter herein, es schien, als sollten die letzten Ernteaussichten vom Hagel vernichtet werden. Sofort ließ man im Ya men von Amts wegen durch die Soldaten »Hagel schießen«, und in allen Höfen und Häusern wurden auch privatim noch Feuerwerkskörper angezündet. Die besorgten Hausväter steckten rasch ein paar brennende Weihrauchkerzen an ihre Türpfosten, um ihr Haus vor Blitzschlag zu schützen, und alles rief: »Herr Yü hwang ye, Herr Yü hwang ye, laß genug sein, laß genug sein, Yü hwang ye ye dsai bu chia leao!«
Durch ein schwach gewelltes Hügelland, über Steppen und Felder, an Dünen und dürrem Land vorbei erreichte ich weiter Ho ling ka ör, eine kleine, offene Stadt mit einem Ting-Mandarin, und am 12. August ritt ich endlich wieder in eine wirklich lebhafte und große Chinesenstadt ein, in Kuei hoa tsch'eng.