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5. Kapitel.

Wie Prinzessin Angelika eine kleine Zofe nahm.

 

Als Prinzessin Angelika noch ein ganz kleines Mädchen war, ging sie eines Tages im Schloßgarten spazieren, und Frau von Schnauzibautz, die Gouvernante, hielt einen Sonnenschirm über ihren Kopf, um ihre liebliche Hautfarbe vor den Sommersprossen zu bewahren, und Angelika trug ein Rosinenbrötchen in der Hand, um die Schwäne und Enten im königlichen Teiche damit zu füttern.

Sie hatten den Ententeich noch nicht erreicht, da kam ein kleines Mädchen auf sie zugetrippelt, o solch ein possierliches kleines Mädchen! Ein wahrer Wald von Haaren wehte um seine Pausbäckchen, und es sah aus, als ob es schon wer weiß wie lange nicht mehr gewaschen und gekämmt worden wäre. Es trug ein zerfetztes Mäntelchen und hatte nur einen Schuh an.

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»Du lumpiger kleiner Schmierfink, wer hat dich hier hereingelassen?« fragte die Schnauzibautz.

»Dib mir die Semmel!« sagte das kleine Mädchen, »doßen Hunner haben!«.

»Hunger! Was ist das?« fragte Prinzessin Angelika und gab dem Kinde das Brötchen.

»O, Prinzessin,« sagte die Schnauzibautz, »wie seid Ihr doch so gut, so freundlich, so ganz und gar engelhaft! Sehen Ihro Majestäten nur,« sagte sie zum König und zu der Königin, die nun herzukamen, begleitet von ihrem Neffen, dem Prinzen Giglio, »wie gütig die Prinzessin ist! Sie ist dieser schmutzigen kleinen Kröte im Garten begegnet – ich weiß nicht, wie sie hier hereingekommen ist, oder warum die Wachen am Tore sie nicht totgeschossen haben – und der süße Liebling von einer Prinzessin hat ihr ihr ganzes Brötchen gegeben.«

»Ich mochte es nicht,« sagte Angelika.

»Aber Ihr seid trotzdem ein herziger kleiner Engel,« sagte die Gouvernante.

»Ja, das weiß ich,« sagte Angelika. »Schmutziges kleines Mädchen, sag, bin ich nicht sehr niedlich?« Sie hatte auch wirklich ein Kleidchen und Hütchen an, wie es nichts Schöneres geben konnte; und da ihr Haar sorgfältig gelockt war, so sah sie in der Tat sehr hübsch aus.

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»O niedlis, niedlis!« sagte das kleine Mädchen und machte allerlei Kapriolen, lachte und tanzte umher und biß eifrig in ihr Brötchen. Dabei fing sie an zu singen: »O wie fein, ein Losinensemmelein! Ich wollt', es sollte nie ßu Ende sein!«

Darüber und über ihre komische Aussprache begannen Angelika, Giglio und der König und die Königin herzlich zu lachen.

»Ich tann ebensodut tanßen wie sinnen,« sagte das kleine Mädchen. »Ich tann tanßen, ich tann sinnen, bin desickt ßu allen Dinnen!« Und sie lief zu einem Blumenbeet, rupfte ein paar Primeln, Violen und andere Blumen ab, machte sich ein Kränzlein und tanzte damit vor dem König und der Königin so nett und drollig, daß alle davon entzückt waren.

»Wer war deine Mutter, wer waren deine Anverwandten, kleines Mädchen?« fragte die Königin.

Das kleine Mädchen sagte: »Löwichen tlein, mein Blüderlein; dloße Löwenmutter dab uns Milch und Futter; weiß von keinen andern mehr, kam im Dlachenwaden her.« Und sie machte ihre lustigen Sprünge in ihrem einen Schuh, und alle ergötzten sich höchlich daran.

Da sagte Angelika zur Königin: »Mama, mein Papagei ist gestern aus seinem Käfig fortgeflogen, und ich mache mir gar nichts mehr aus allen meinen Spielsachen, und ich glaube, dieses komische, schmutzige kleine Kind wird mir viel Spaß machen. Ich will es mit heim nehmen und ihm ein paar von meinen alten Röckchen geben.«

»O der freigebige Liebling!« sagte die Schnauzibautz.

»Die habe ich schon so viele, viele Male getragen und mag sie gar nicht mehr leiden!« fuhr Angelika fort; »und sie soll meine kleine Zofe sein. Willst du mit mir heimkommen, du schmutziges kleines Mädchen?«

Das Kind klatschte in die Hände und sagte: »Mit dir heimdehen – ja! Du hübse Pinsessin! Ein dutes Mittadessen tlieden (kriegen), und ein neues Tleid ansiehen!«

Und sie lachten wieder alle und nahmen das Kind mit heim in den königlichen Palast; und als es gewaschen und gekämmt war und ein Kleidchen der Prinzessin anhatte, da sah es beinahe so hübsch aus wie Angelika. Nicht als ob Angelika das jemals geglaubt hätte; dieses kleine Fräulein konnte sich nicht denken, daß auf der Welt irgend jemand so schön, so gut oder so klug sein konnte wie sie selber. Damit das kleine Mädchen nicht zu stolz und eingebildet würde, nahm Frau von Schnauzibautz ihren alten zerlumpten Mantel und den einen Schuh und legte sie in eine Glasschachtel, und einen Zettel darauf, auf dem stand geschrieben: »Das sind die alten Kleider, in denen die kleine Betsinda aufgefunden wurde, als die große Güte und bewundernswerte Freundlichkeit Ihrer Königlichen Hoheit der Prinzessin Angelika die kleine Ausgestoßene aufnahm.« Und dann wurde das Datum hinzugefügt und die Schachtel verschlossen.

Eine Zeitlang war Betsinda der besondere Liebling der Prinzessin, und sie tanzte und sang und machte ihre Verschen, um ihre Herrin zu belustigen. Aber dann bekam die Prinzessin einen Affen und später ein Hündchen und hernach eine Puppe, und da kümmerte sie sich nicht mehr um Betsinda, die ganz traurig und still wurde und keine komischen Lieder mehr sang, weil niemand sie mehr anhören mochte. Und als sie dann älter wurde, machte man sie zur kleinen Kammerjungfer der Prinzessin, und obschon sie keinen Lohn bekam, so schaffte und flickte sie und wickelte Angelikas Haar auf Papilloten und wurde nie verdrießlich, wenn man sie auszankte, und war immer eifrig bestrebt, ihrer Herrin zu gefallen, und stand früh auf und ging spät zu Bett und war stets bei der Hand, wenn man sie brauchte, und wurde wirklich eine ganz vorzügliche kleine Zofe.

So wuchsen die beiden Mädchen heran, und als die Prinzessin anfing, in Gesellschaften zu gehen, ward Betsinda nie müde, ihr aufzuwarten, und nähte ihr Kleider, schöner als es die beste Schneiderin kann, und machte sich nützlich auf hunderterlei Weise. Wenn die Prinzessin ihre Lehrstunden hatte, so saß Betsinda dabei und paßte auf, und auf diese Weise erwarb sie sich große Gelehrsamkeit, denn sie war stets wach, ihre Herrin aber nicht, und sie lauschte den Worten der weisen Professoren, wenn Angelika gähnte oder an den nächsten Ball dachte. Und wenn der Tanzlehrer kam, lernte Betsinda mit Angelika zusammen; und wenn der Musiklehrer kam, hörte sie ihm zu und übte dann die Stücke der Prinzessin, wenn Angelika auf Bällen oder in Gesellschaften war; und wenn der Zeichenlehrer kam, merkte sie sich alles, was er tat und sagte; und ebenso machte sie's im Französischen, Italienischen und allen anderen Sprachen: sie lernte sie von den Lehrern, die zu Angelika kamen. Wenn die Prinzessin des Abends ausging, so sagte sie wohl: »Meine gute Betsinda, du könntest eigentlich fertigmachen. was ich angefangen habe.« – »Jawohl, Fräulein,« sagte dann Betsinda und setzte sich ganz vergnügt hin, nicht um zu vollenden, was Angelika begonnen hatte, nein, um es neu zu machen.

Wir wollen einmal annehmen, die Prinzessin hätte den Kopf eines Kriegers zu zeichnen begonnen; dann sah das Angefangene etwa so aus:

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Aber wenn es nun fertig war, dann sah der Krieger so aus:

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– nur noch schöner wenn möglich –; und die Prinzessin setzte ihren Namen unter die Zeichnung, und der Hof und der König und die Königin und vor allen der arme Giglio bewunderten das Bild über alle Maßen und sagten: »Hat es jemals so ein Genie gegeben wie Angelika?«

So stand es leider auch mit der Stickerei und den übrigen Talenten der Prinzessin; und Angelika bildete sich wirklich ein, daß sie diese Sachen selber machte, und ließ sich alle die Schmeicheleien des Hofes gefallen, als ob jedes Wort daran wahr wäre. Auf diese Weise fing sie an zu glauben, daß es auf der ganzen Welt keine junge Dame mehr gäbe, die ihr gleichkäme, und daß kein Mann gut genug für sie sei. Betsinda aber horte nichts von diesen Lobeserhebungen, und so wurde sie auch nicht aufgeblasen davon; und da sie ein sehr dankbares, gutherziges Mädchen war, so bemühte sie sich nur allzu eifrig, ihrer Herrin alles zu Gefallen zu tun. Jetzt fangt ihr an zu merken, nicht wahr, daß Angelika auch ihre Fehler hatte und keineswegs das Weltwunder war, für welches die Leute Ihre Königliche Hoheit ausgaben.


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