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Prisca war noch ein kleines, dummes Ding, als sie schon von den »Rottmann unter den Arkaden des Hofgartens« reden hörte. Diese Leute, die Rottmann nämlich, nahmen in ihrer lebhaften Einbildung mit der Zeit etwas ganz Gewaltiges an, als stammten sie von einem Geschlecht von Riesen. Das phantastische Kind hätte sich vor ihnen gefürchtet, wenn ihr Vater, der hellhaarige Hüne, davon nicht stets mit einem sonnigen Glanz in seinen genzianenblauen, melancholischen Augen gesprochen.
Was in Priscas Blick in leidenschaftlicher Sehnsucht nach Schönheit und Sonne aufgeleuchtet hatte, als sie vorhin die öde Feldherrnhalle betrachtet, war Seele von ihres Vaters Seele gewesen.
Dieser heißgeliebte, frühverstorbene Vater hatte es in seinem kurzen Leben, das von Anfang bis Ende einem regnerischen deutschen Herbsttag geglichen, trotz aller ehrlichen Mühe niemals weit gebracht. Dabei sah der Mann wie ein junger Siegfried aus, voller Saft und Kraft. Aber in diesem gesunden Körper wohnte eine kranke Seele mit fiebernder Phantasie, die mit dem wirklichen Leben nichts anzufangen wußte, die sich eine eigne, wirre Welt gestaltete und sich darin in exotischen Fieberträumen verlor.
Wäre der gute Joseph Auzinger gewesen, was vor ihm so viele Auzinger waren: tüchtige Leute mit nüchternem Handwerk, so wäre es ihm schwerlich so schlecht ergangen. Aber dieser eine Auzinger sollte durchaus etwas Besonderes, etwas Besseres und Höheres werden.
Alte Freunde des elterlichen Hauses, wohlmeinende, ehrliche und getreue Menschen, hatten in dem nachdenklichen und absonderlichen Buben einen genialen Künstler entdecken wollen. So wurde denn der junge Künstler – Maler! Und nebenher wurde er ein verträumter, unglücklicher Mensch, der Großes vollbringen wollte und der nicht einmal Kleines vollbrachte. In der Tat gar nichts.
Niemals machte er ein Bild fertig. Er brachte keinen Entwurf über eine allererste mysteriöse Skizze hinaus, die nur dem Künstler selbst verständlich war. Übrigens bekam sie nie ein fremdes Auge zu sehen. Er versteckte sein bekritzeltes Papier und seine verschmierte Leinwand wie der ärgste Geizhals seine heimlichen Schätze.
Dabei lebte in seiner Seele ein Gewimmel von herrlichen Gestalten, lauter nacktes, lustiges Heidengesindel und olympisches Göttervolk. Alle diese schönen, unirdischen Geschöpfe bewegten sich in einer idealen Landschaft voll bacchischer Üppigkeit, unter einem strahlenden Himmel, in goldigen Lüften mit der unbändigen Lebenslust der alten Niederländer und zugleich in Tizianischer Farbenglut.
Aber sie wollten aus der Seele des Künstlers nicht heraus! Es war, als scheuten sie das nüchterne Tageslicht und eine unbarmherzige graue Wirklichkeit, die für solch glückselige Existenzen keinen Raum hatte.
So behielt er denn – in seiner Art auch ein Prometheus – seine selbstgeschaffene Welt im tiefsten Busen verschlossen. Leider war aber auch die andre Welt da, jene wirkliche, auf welcher der Mensch die Erfüllung allerlei Bedürfnisse nötig hat, um auf ihr weiterexistieren zu können, was freilich bisweilen ein etwas teuer erkauftes und zweifelhaftes Vergnügen sein mag. Der arme närrische Auzinger fristete sich dieses kostbare Dasein mühselig genug durch eifriges Zeichnen von Karikaturen für Witzblätter zweiten und dritten Ranges.
Sie waren herzlich schlecht, ohne jeden künstlerischen Wert; aber sie träuften von Gift und Galle. Darum wurden sie viel begehrt und – erbärmlich bezahlt. All sein beißender Spott und ätzender Hohn trugen ihm gerade nur so viel zum Beißen ein, als er notwendig brauchte, um die schöne Beschäftigung des Atemholens fortsetzen zu können.
Niemand entgeht seinem Schicksal; also entging auch der gute Auzinger dem seinen nicht. Und dieses Schicksal war es, das ihn schließlich noch in sehr jungen Jahren in sein Verderben führte.
Dieser Märtyrer seiner Phantasie in Gestalt eines alten Germanenhelden verliebte sich wahnsinnig. Die Betreffende war noch dazu ein italienisches Modell, ein halbwildes, blutjunges, prachtvolles Geschöpf aus einem Felsennest im Albanergebirge.
In einer grimmig kalten Winternacht begab sich Joseph Auzinger aus einer kleinen italienischen Bottega, wo er sich dann und wann ein festliches Glas gönnte, nach seiner entlegenen Vorstadtwohnung zurück. Nach gut Münchner Biedermannssitte war die junge Großstadt vom Glockenschlag neun an wie ausgestorben. Joseph Auzinger hätte die an seinem Wege kauernde Gestalt – sie drängte sich, wie Wärme und Schutz suchend, dicht an eine Hausmauer – wahrscheinlich gar nicht bemerkt, wenn er nicht neben sich ein leises Wimmern vernommen hätte.
Er blieb stehen, sah das weinende Wesen, von dem er nicht gleich wußte, ob es ein Kind oder ein Weib sei, redete es an, erhielt jedoch keine Antwort. Aber das winselnde Klagen hörte sofort auf.
Jetzt beugte sich der Künstler herab und erkannte, daß der Kopf des verlassenen Geschöpfes tief auf die Brust gesunken war und die Arme schlaff herabhingen. Wenn er nicht soeben das leise Wimmern gehört, so hätte er glauben können, daß die Gestalt tot wäre – erfroren.
Er faßte das stille Frauenwesen bei der Schulter und schüttelte es. Da hob es den Kopf. Joseph Auzinger erkannte undeutlich ein kindlich junges, totbleiches, wunderschönes Antlitz, aus dem große, finstere Augen ihn anstarrten, als wäre er eine Erscheinung.
»Was tust du hier?«
Es erfolgte keine Antwort.
Jetzt sah er auch, daß das Mädchen, es war wirklich ein halbes Kind, eine Italienerin sein mußte. Sie trug das typische Kostüm, darin die Modelle nach München zu kommen pflegen.
Eine Italienerin! So jung! Ganz verlassen! Und erfrierend auf der Straße. Dabei so schön! So ganz seltsam fremdartig, geheimnisvoll schön!
Mit vieler Mühe gelang es ihm, durch seine wenigen Worte Italienisch, das er als Knabe kurze Zeit getrieben, um dadurch dem Lande seiner Sehnsucht näher zu kommen, das arme Kind zum Reden zu bringen und es einigermaßen zu verstehen.
»Du bist Modell?«
»Ja.«
»Aus Rom?«
»Aus Rocca di Papa.«
»Bist du schon lange in München?«
»Gestern angekommen.«
»Ganz allein?«
»O Madonna!«
»Deine Eltern ließen dich ganz allein fort?«
»O Madonna!«
»So sprich doch. Leben deine Eltern nicht mehr?«
»Mit wem kamst du nach Deutschland?«
»Mit wem soll ich gekommen sein?«
»Das eben frage ich dich.«
»Mit meinem Vater.«
»Ich denke, dein Vater ist auch tot?«
»Seit drei Tagen. O Madonna!«
»Wo starb dein Vater?«
»Irgendwo.«
»Nicht in dieser Stadt?«
»Irgendwo.«
»Ja, und du?«
»Ich lief fort.«
»Von deinem toten Vater? Du bekümmertest dich gar nicht, wie er begraben wurde?«
»Wenn ich doch kein Geld hatte!«
»Dann hast du wohl großen Hunger?«
»Ja, ja! Hunger!«
»Armes Kind! Armes, verlassenes Kind ... Wie heißest du denn?«
»Maria.«
»Arme, kleine Marietta! Du hast Hunger! In der kalten Nacht mutterseelenallein ... Wie alt bist du?«
»Sechzehn Jahr.«
»Arme, kleine Maria ... Und was willst du hier anfangen, so mutterseelenallein?«
»Weiß nicht.«
Er hatte sie aufgerichtet und war mit ihr weitergegangen. Aber sie war zu Tode erschöpft und konnte nicht mehr. Sie fiel einfach hin.
Da nicht daran zu denken war, zu dieser Stunde in München einen Wagen zu finden, nahm er sie wie ein kleines Kind auf die Arme und trug sie fort. Sie lag ganz still und war nach wenigen Augenblicken bereits fest eingeschlafen.
Joseph Auzinger war zumute, als hielte er die Erfüllung seines Lebens an seinem pochenden Herzen.
*
In der nämlichen Stunde brachte er seinen römischen Fund bei seiner Wirtin unter, einer Münchnerin von altem Schlag, der alles Absonderliche und Fremdartige gegen die Natur war, die dabei aber Kopf und Herz auf dem rechten Fleck hatte. Ihr gescheiter Kopf hieß ihrem Herzen, sich wider den welschen Findling nachdrücklich aufzulehnen; ihr gutes Herz herrschte ihrem Kopf zu, sich zu schämen – einstweilen wenigstens. Fürs erste mußte der Bewußtlosen schleunigst ein Lebenselixier eingeflößt werden. Dieses bestand für Frau Babette Huber in einem braunen, schäumenden Saft, welchen sie jeden Abend in einer dickbauchigen Kanne »frisch angezapft« holen ließ und der Augustinerbräu genannt wurde. Das Augustinerbräu besaß für Frau Babette die wunderbare Wirkung, sich gegen jedes Erdenleid heilsam zu erweisen.
Auch bei dem Findling zeigte der Trank seine Zauberkraft; denn gleich nach dem ersten, mühsam eingeflößten Schluck folgte eine leidenschaftliche Lebensregung der jungen Fremden, die sich vorerst freilich nur darin äußerte, daß sie sich heftig sträubte, die bittere »Medicina« noch weiter einzunehmen. Übrigens verfiel sie sofort wieder in Schlaf.
Am andern Tag erklärte die weise Frau Babette Huber ihrem Mieter mit düsterem Pathos, daß er sich sein Unglück auf den Hals geladen hätte. Welsch wäre welsch! Und dieses Stück Welschland überdies viel zu bildsauber, als daß solch ein Halbnarr, wie der Herr Joseph Auzinger nun einmal einer sei, sich nicht mir nichts dir nichts in das gelbe Gesicht und die kohlschwarzen Augen vergaffen sollte. Das vortreffliche Herz entschied jedoch in einem Atem mit dem Haupt: sie, Babette Huber, würde nie und nimmer dulden, daß der braune Fratz von irgendeinem Mannsbild der Welt auch nur angerührt werde.
Für das letztere hätte übrigens Marietta schon selbst Sorge getragen. Sie war scheu wie eine wilde Katze und dabei von so herber und trotziger Art, daß es sogar einem erfahrenen Frauenjäger schwer gefallen wäre, an dieses seltene Wild nur heranzukommen, geschweige denn es zu erbeuten. Vollends für Joseph Auzinger, der mit seinen gelben Haaren und blauen Augen zum Don Juan ebenso kläglich wenig Talent besaß wie zum Bankdirektor, war die sechzehnjährige Römerin ein Sanktuarium, nach dem nur ein Frevler und Heiligenschänder eine ruchlose Hand ausstrecken konnte. Da er jedoch mit jedem Tage mehr vor brennender Verliebtheit aus einem Halbnarren zu einem ganzen Narren wurde, blieb ihm nichts andres übrig, als die sechzehnjährige Marietta von Rocca di Papa zu Frau Joseph Auzinger zu machen und zwar so rasch als möglich. Das heißt, so bald als alle nötigen Papiere herbeigeschafft waren, die Staat und Kirche bösartigerweise von jungen verliebten Leuten verlangen.
Was der gute Joseph Auzinger an Onkeln und Tanten, Vettern und Basen nur irgend besah, erhob ein lautes Zetergeschrei gegen die Zumutung, das braune welsche Gewächs als jungen grünen Ast ihrem soliden deutschen Stammbaum aufzupfropfen; sie nannten die Heirat eine himmelschreiende Undankbarkeit gegen sämtliche Auzinger, die jemals gelebt hatten, und bedrohten den Übeltäter mit Ausstoßung und Fluch, wenn er das römische Subjekt nicht sogleich wieder laufen ließe.
Joseph Auzinger besaß die Stirn, sich an niemand von seiner ganzen lieben Sippe auch nur im mindesten zu kehren. Die Verstoßung in aller Form erfolgte, zugleich aber auch die Heirat, gleichfalls in aller Form, in der staatlich gebotenen sowohl wie in der kirchlich üblichen.
Während alle diese interessanten Dinge vor sich gingen, befand sich das würdige Haupt der Frau Babette Huber in beständigem heftigem Streit mit ihrem nicht minder respektabeln Herzen. Je mehr das Haupt der verständigen Sippe der Auzinger recht gab, um so kläglicher und sentimentaler gebürdete sich das Herz. Schließlich gelangten die beiden großen Mächte zu folgendem Kompromiß: das gefühlvolle Herz sorgte für einen christlichen Hochzeitskranz, zugleich aber auch für einen saftigen Hochzeitsbraten – es war gerade die Zeit der ersten zarten jungen Hühner – und das praktische Haupt kündigte dem jungen Paare drei Tage nach gemeinsamer Verspeisung der Backhähndeln die Wohnung; denn das Elend, welches aus der Geschichte noch einmal entstehen würde, wollte Babette Huber nicht mitansehen; und von der Herde kleiner brauner Mariettas und Seppels, die gewiß in welscher Sprache schreiend auf die Welt kamen, wollte sie auch nichts wissen.
So nahm denn der gute Joseph Auzinger sein schönes Schicksal bei der Hand, verließ traurig das vortreffliche Herz der Frau Babette und zog in eine andre Vorstadtwohnung, die noch entlegener, dafür aber noch billiger war.
Frau Babette Hubers gutes Herz weinte dem allerliebsten Pärlein eine Träne nach, deren Wehmut durch ein triumphierendes Schütteln des weisen Hauptes bedeutend gemildert wurde. Dann wanderte das dickbäuchige Krüglein zum Augustinerbräu, und dieses Allheilmittel half das weiche Herz völlig beschwichtigen.
In ihrem ganzen langen, christlichen Leben hat sich Frau Babette Huber nie wieder um die beiden gekümmert.
*
In den Kreisen, in denen Joseph Auzinger oberflächlich bekannt war, wunderte man sich nicht sonderlich über diese bizarre Tat des Karikaturenzeichners. Einige lachten ihn einfach aus, andre beneideten ihn heimlich – nicht um die angetraute Frau, sondern um das schöne Weib, und wiederum andre sagten ihm ins Gesicht hinein: er wolle sich fortan selbst zu einer Karikatur machen.
Joseph Auzinger ließ sich auslachen und verspotten, zog sich nunmehr gänzlich von jedem Verkehr zurück und lebte ausschließlich für seine junge Albanerin, die ihm alle die Pracht und Schönheit verkörperte, nach der er sich Zeit seines Lebens verzehrend gesehnt und mit deren leuchtenden Bildern er die Seele angefüllt hatte. Jetzt besaß er leibhaftig ein solches Urbild und zwar für Zeit seines Lebens.
In der kahlen Dachkammer eines entlegenen Hinterhauses, weit draußen in jener entlegenen Vorstadt, gab es eine wunderliche Häuslichkeit. Die junge Frau sprach keine deutsche Silbe, der junge Gatte ein paar Dutzend italienische Worte. Sie verständigten sich am leichtesten durch Gebärden, Zeichen, Blicke. In der Wirtschaft konnte die Fremde nur wenig tun. Auch hatte sie dazu nicht die mindeste Lust. Sie hatte zu ganz anderm Lust. Zum Beispiel: möglichst lange im Bett liegen zu bleiben, möglichst lange halb angekleidet herumzulungern, sich dann möglichst bunt herauszuputzen, am liebsten als »Signora«. Da sie das nicht konnte, trug sie ihr heimisches Kostüm wenigstens mit allerlei fremden Zutaten von bunter Seide, grellfarbigem Bandwerk und anderm schimmernden Tand. Später am Tage wollte sie ihre »Minestra« verspeisen, und nach diesem Genuß verlangte sie von ihrem »Giusé« spazieren geführt zu werden.
Der gute Auzinger führte sie also spazieren. Er wollte die einsamsten Wege weit draußen hinter der Vorstadt gehen, sie die belebtesten Straßen im Innern der Stadt.
Er ging also mit ihr in die Kaufingerstraße und weiter, bis in die vornehme Maximilianstraße.
Wie die beiden angegafft wurden!
Bei seiner Menschenscheu wagte er gar nicht aufzublicken, während sie ihre finsteren, mächtigen Augen leuchten und lodern ließ.
Einmal wurde sie von einem Fremden angesprochen, im reinsten Italienisch.
Sie antwortete sogleich in ihrem Albanerdialekt, wollte ganz vergnüglich einen kleinen Diskurs beginnen; aber ihr Mann riß sie hinweg.
Nun sollte sie nicht mehr spazierengehen, sollte sie überhaupt nicht mehr aus dem Hause! Was für die Wirtschaft notwendig war, hatte bis dahin fast alles der Mann besorgt. Fortan besorgte er es ausschließlich.
Um sich nicht zu Tode zu langweilen, wollte sie wieder Modell stehen. Aber da kam sie bei ihrem Giusé schön an.
Es gab Zank, Streit und immer wieder Zank und Streit, mit leidenschaftlichen Gebärden, wütenden Blicken, kreischenden Worten ihrerseits geführt; von seiner Seite gewöhnlich nur unterstützt mit einem Zucken seiner mächtigen und doch so kraftlosen Hände.
Also gut! Sie sollte wieder Modell stehen! Aber nur ihrem Manne!
Er stellte auch wirklich eine längst verstaubte Staffelei in Bereitschaft, spannte eine mächtige Leinwand auf, die erst vom Schmutze gereinigt werden mußte, kramte aus Winkeln und Ecken Farben und Palette hervor.
Nun putzte er sein Modell heraus; jetzt so, dann wiederum so. Bald löste er ihr wundervolles blauschwarzes Haar, hüllte sie ganz darin ein; bald mußte es wieder eingeflochten werden, und er knotete es eigenhändig in dem herrlichen Nacken zusammen.
Er gab ihr diese und jene Pose. Aber sie war in einer jeden so schön, daß er nicht wußte, welche er wählen sollte.
Endlich kam er so weit, daß die Arbeit angefangen werden konnte.
Jeden Morgen begann er mit dem Herausputzen seines wunderbaren Modells, stellte es, wollte malen, die Leinwand füllen; aber – es ging nicht!
Er quälte sich bis zur Verzweiflung, bis zur völligen Ermattung, bis zum halben Wahnsinn.
Aber – es ging nicht!
Dabei füllte sich seine Seele mit einem ganzen Maria-Zyklus: Bild auf Bild drängte herbei! Und jedes Bild, jede Gestalt war ein Kunstwerk, ein Meisterwerk – in der Phantasie.
Aber auf die Leinwand brachte er nichts, gar nichts!
Sank er erschöpft in sich zusammen, so sprang sie auf, ergriff das Tamburin, warf die Arme über das Haupt und tanzte wild und toll den Saltarello.
Oder sie stürzte wie ein Raubtier auf ihn zu und biß ihn in die weichen roten Lippen.
So lebten die beiden ...
Um jedoch überhaupt leben zu können, mußte schließlich etwas getan, etwas gearbeitet werden, wenn die Albanerin auch mit ihrer ewigen Minestra, ihrem bescheidenen Salat und dem trockenen Brot vollständig zufrieden war und er, der junge Riese, sich beinahe ausschließlich mit letzterem begnügte.
Also mußte er zeichnen und zeichnen, Karikatur auf Karikatur, eine ganze Galerie von Zerrbildern, die seine wunderschöne Frau viel zu häßlich fand, um darüber lachen zu können.
Denn sie wußte genau, was schön war, erkannte klar die Unfähigkeit ihres Mannes.
Sie fing an, ihn zu verachten ...
Jetzt ward es still in den öden Kammern. Die junge Frau ging fast keinen Schritt mehr aus dem Hause, lauerte den ganzen Tag in einem Winkel, gebärdete sich nicht mehr wie eine Rasende; aber sie putzte sich auch nicht mehr, wollte nicht mehr Modell stehen, spielte nicht mehr das Tamburin, tanzte nicht mehr den Saltarello, küßte ihren schönen Giusé nicht mehr.
Dieser verzehrte sich in Liebe, Leidenschaft, Eifersucht. Er bewachte sie Tag und Nacht; er wurde hohläugig, fiebernd, krank.
Dann wurde ein Kind geboren, ein Mädchen. Der junge Vater war selig, und die Mutter – die Mutter war eines schönen Tages, kaum vierzehn Tage nach der Geburt ihres Kindes, spurlos verschwunden.
Joseph Auzinger lief von dem Kinde fort. Er suchte die Mutter. Einen ganzen Tag, eine ganze Nacht suchte er sie. Er lief zu Bekannten, die ihn längst nicht mehr kannten; er lief in die Ateliers von Wildfremden, die ihm die Tür wiesen; er lief zu allen italienischen Modellen Münchens, denen er sich oft nicht einmal verständlich machen konnte.
Er fand nichts, gar nichts!
Er kam nach Hause .... Da erst fiel ihm das Kind ein – ihr Kind! Es war, während der Vater nach der unnatürlichen Mutter suchte, sicher gestorben. Es mußte umgekommen sein. Er hatte es getötet!
Er stürzte die steilen Treppen hinauf .... Da hörte er kräftiges Kindergeschrei, das ihm wie Engelsgesang erklang.
Ihr Kind lebte!
Eine wildfremde Frau hatte inzwischen an seinem verwaisten Kinde aus Barmherzigkeit Mutterstelle vertreten.
Nun suchte er nicht mehr nach der Verlorenen; keinen Schritt tat er mehr um ihretwillen aus dem Hause. Er mußte bei dem Kinde bleiben, mußte für das Verlassene sorgen.
Wunderbar, wie schnell und gut er das lernte. Es war die einzige Kunst, die der junge Mann mit dem hellen Haar und der düsteren Seele jemals ausüben konnte. Hier vollbrachte er das große Werk, welches ihm sonst nur glanzvoll vorschwebte, hier erwies sich der Dilettant als Meister.
Wenn er die kleine Prisca nicht wartete, kauerte er vor dem Bette, darin das Püppchen eingebündelt lag, starrte dem winzigen Ding ins Gesichtchen und spähte angstvoll nach einer Ähnlichkeit mit der unnatürlichen Mutter.
Aber er fand keine Ähnlichkeit! Außer in den Augen nicht die geringste.
Fortan grübelte der Vater stundenlang darüber, ob es für seine Tochter nicht besser gewesen wäre, überhaupt nicht geboren zu werden.
Wie gerade die vollsaftigsten und massivsten Naturen oft durch eine Kinderkrankheit zugrunde gerichtet werden, so erging es schließlich auch Joseph Auzinger. Er erholte sich nicht mehr von dem Schlage, der sein Gemüt getroffen hatte.
Sein Leben wurde zu einem völligen Siechtum.
Er fuhr fort, sich die Seele mit leuchtenden Gestalten zu füllen und dabei seine Karikaturen zu zeichnen, sein Kind mit der Sorgfalt einer treuen Wärterin aufzupäppeln und dabei in die Augen der Kleinen zu schauen. Aber ein verlorener Mensch war und blieb er.
Allmählich nahm er die Gewohnheit an, häufig vor sich hinzusprechen: mit einer leisen, melancholischen Stimme, auf die das Kind lauschte wie auf Wiegengesang. Er redete zu sich selbst von den göttlichen Gestalten, die er in sich trug, von seiner leidenschaftlichen Sehnsucht nach einem fernen Lande voller Schönheit und Glanz, das er wie eine Vision erblickte und doch niemals in Wirklichkeit betreten hatte.
Diese Selbstgespräche des Gemütskranken waren die Märchen, die Priscas Phantasie erfüllten und von der Erde hinwegführten. Sie kam selten ins Freie, kannte keine Kinderspiele, kein Kinderglück; aber sie verkümmerte darum doch nicht. Es war, als hätte sie von ihres Vaters Voreltern die groben Fäuste und die unverwüstliche germanische Natur ererbt. Ihr helles Gesicht und helles Haar erglänzten wie Sonnenschein in der dunkeln Wohnung; ihre frische, fröhliche Stimme füllte die öden Räume mit Leben und Klang.
Von ihren Fenstern aus ließ sich nur ein kleines Stück Himmel erspähen. Diesen einmal »ganz« zu sehen, war Priscas sehnsüchtigster Wunsch.
Einmal hatte Joseph Auzinger einen guten Tag. Obgleich es weder Sonntag noch Feiertag war, durfte Prisca ihr bestes Kleidchen anziehen und ihren Vater hinausbegleiten. Sie gingen durch die Arkaden des Hofgartens, und dem Kinde wurden zum erstenmal die »Rottmann« gezeigt. Höchlich verwundert schaute die Kleine auf; die Rottmann waren gar keine schrecklichen Riesenmenschen, wie sie sich stets vorgestellt hatte, sondern hübsche, bunte Bilder auf leuchtenden Wänden. Am besten gefiel ihr das tiefdunkle Blau, womit Himmel und Erde von dem genialen Künstler reichlich bedacht worden waren.
Auzingers Seele verweilte indessen in den Ruinen des griechischen Theaters von Taormina, an den Zaubergestaden des Golfes von Neapel, auf dem Gipfel des Berges Cavo bei Rom. Von dort aus konnte man die schöne Heimat des jungen Weibes sehen, welches ihm das Herz gebrochen hatte.
»Dahin, dahin, laß uns, o Tochter, ziehn!«
»Dahin« zog der gute Auzinger nun freilich nicht. Zu solcher Fahrt reichte der Ertrag der Karikaturen nicht aus; obgleich sie ihm jetzt besser bezahlt wurden, weil sie, je mehr sein Gemüt sich verdüsterte, um so galliger und giftiger wurden. Aber sie trugen wenigstens genug ein, um Prisca eine gute Erziehung geben zu lassen.
Unter ihren Mitschülerinnen blieb sie ziemlich unbemerkt. Auch die Lehrer kümmerten sich wenig um das unscheinbare, hagere und eckige Geschöpf. Sie erwies sich als aufmerksam und fleißig, als frühzeitig selbständig und praktisch. Sie versprach recht »tüchtig« zu werden, vielleicht einmal eine gute Lehrerin.
So wurde sie vierzehn Jahre, als für sie und noch mehr für ihren Vater ein bedeutsames Ereignis eintrat.
Der große tannene Tisch stand dicht an das Fenster gerückt, damit das Tageslicht möglichst hell darauf fiel. Vater und Tochter saßen sich daran gegenüber. Joseph Auzinger kritzelte seine ewigen, trostlosen Fratzen; aber auch Prisca hatte heute, statt ihre Schulaufgaben zu machen, ein Blatt vor sich, darauf sie mit heißem Gesicht und heiligem Eifer allerlei zeichnete.
Als Auzinger auf die ungewöhnliche Beschäftigung seiner Kleinen aufmerksam wurde, durchfuhr ihn heißer Schreck: ›Herrgott, sie zeichnet gewiß Karikaturen! Was sollte sie als deine Tochter andres zeichnen?‹ Er mußte sich zuvor ein Herz fassen, ehe er sich getraute, genau hinzuschauen, aus Furcht, es könnten ihm seine eignen Grimassen entgegengrinsen.
Wie aber wurde ihm zumute, als er auf dem Blatt in naivster Weise, aber doch mit starkem Talent gezeichnet, die Umrisse einer Landschaft gewahrte, die entschieden Ähnlichkeit mit seinen idealen Phantasiegebilden besaß. Er riß seine Tochter an sich, küßte sie leidenschaftlich und empfand die erste reine Freude seines Lebens.
Nun raffte er sich auf, um selbst Prisca zu unterrichten. Zuerst sollte es nur im Zeichnen sein, später im Malen – im Komponieren!
Wenn dereinst seine, des armen Joseph Auzingers, Tochter in Linien und Gestalten, in glühenden Farben dasjenige würde aussprechen können, was seine ganze Seele erfüllte – wenn die Welt einstmals in dem Talent der Tochter den Genius des Vaters erkennen würde ...
Die schwere, verantwortungsvolle Arbeit begann. Joseph Auzinger lehrte und lehrte; und Prisca wollte für ihr Leben gern lernen und lernen. Aber – es ging nicht. Er konnte zu wenig, mißtraute auch dem Wenigen zu sehr. Sie entwickelte zwar ein erstaunliches Talent zu erraten, abzulauschen, zu ergänzen, ihren Weg mühselig durch die väterlichen Irrpfade hindurch zu suchen, aber – es ging eben doch nicht!
Schließlich wußte sie nicht mehr aus noch ein.
Auzinger mußte den Unterricht aufgeben.
Er sammelte seine letzten Kräfte und überwand scheinbar seine grenzenlose Enttäuschung, Scham und Selbstverachtung – scheinbar! Prisca tröstete, stützte, richtete auf. Sie, das Kind, verband die starke Liebe einer Mutter mit der zarten Sorge eines Weibes, ohne den gebrochenen Geist gewahr werden zu lassen, daß sie trösten, stützen und aufrichten mußte. Sie verstand es sogar, ihm die Einbildung zu geben, er wäre der Starke und Stützende. Je trüber Joseph Auzingers Seele sich umflorte, um so heller leuchtete ihr unhübsches Gesicht, um so frischer tönte ihre kindliche Stimme.
Jetzt suchte Prisca selbst nach einem Lehrer für sich. Sie gab nicht nach, bis sie einen solchen gefunden hatte, und machte dabei ihren Vater glauben, er selbst hätte seine Tochter so vortrefflich versorgt.
Es begannen für das Mädchen schwere Lernjahre, in denen sie ihr Talent und zugleich ihren Charakter erproben konnte. Sie arbeitete rastlos, mit eisernem Fleiß und niemals versagender innerlicher Kraft. Bereits konnte sie die Zeit voraussehen, wo sie durch ihre Kunst würde verdienen können. Es würde freilich noch Jahre dauern. Aber das machte nichts. Wenn nur ihr Vater so lange aushielt. Auch dafür hatte sie zu sorgen: Tag für Tag, jahrelang. Und auch das vollbrachte sie.
Jeden Feiertag führte sie ihren Vater spazieren: zu den Rottmann unter den Arkaden des Hofgartens! So wurden diese leuchtenden Bilder aus einer andern schönen Welt ihre treuen Gefährten, ihre guten Freunde.
Was alles der gute Joseph Auzinger seiner Tochter angesichts der Rottmann vorschwärmte, was die kleine Prisca dabei dachte und empfand ...
Dann kam ein glückseliger Tag: das erste kleine Bild wurde verkauft.
Als Prisca diese Nachricht erhielt, dachte sie nur an ihren Vater. Sie stürzte vor ihm nieder, umfing ihn, weinte und lachte; sie stammelte: »Vater, lieber Vater! Jetzt brauchst du nicht mehr Karikaturen zu zeichnen.«
Nein, keine Karikaturen mehr! Damit war es für Joseph Auzinger aus und vorbei. In Ewigkeit keine Karikaturen mehr! Denn die Karikatur dieses Künstlerlebens verlöschte die barmherzige Hand des Todes, leise und lind wie mit mütterlichem Erbarmen. Als Prisca in das stille Antlitz blickte, war es ein solch feierliches und herrliches Menschenbildnis, daß die Tochter erkannte: hier war ein wahrer Künstler dahingegangen, ein – großer Künstler!
Von der Gruft zurückkehrend, besuchte sie ihre lieben Rottmann. Und oft kam sie wieder.
Denn der Weg von diesen bis zu einem beachteten Platz in der Kunstausstellung unter den nämlichen Säulenhallen war auch für das rastlos arbeitende und in allen Lebensnöten ausdauernde Talent von Joseph Auzingers Tochter ein gar weiter und mühseliger. Prisca ging ihn Schritt für Schritt, ohne Pausen und Ruhepunkte, oft in tiefer Ermüdung, die jedoch niemals völlige Ermattung ward, und vorderhand noch ohne jede begründete Hoffnung auf das Erreichen eines heiß ersehnten fernen Zieles, oder auf den Ausblick nach einem lockenden, leuchtenden Horizont. Manche Wegstelle auf ihrer weiten, einsamen Straße war eine Station, deren heimliche Leiden nur derjenige kennt, der selber solchen Weg geschritten ist: dahin auf mühevollen Künstlerbahnen, durch eine Welt, so grau und dunkel, daß alles Licht auf Erden erloschen scheint; durch ein Leben, so rauh und häßlich, daß darin die Schönheit, die Güte und das Glück zu einer frommen Sage geworden. Denn nicht mit Rosen wird die Stirn des Künstlers bekränzt, sondern mit Dornen, die der Seele blutige Wunden reißen.
Das schönste Erbteil, welches Joseph Auzinger seinem verwaisten Kind hinterließ, sollte Prisca erst viele Jahre nach dem Tod des armen Künstlers mit dem verfehlten Leben verstehen und würdigen lernen. Es war dies eine fanatische Liebe, eine glühende Verehrung für ihre – tote Mutter.
Prisca wußte es nicht anders, als daß ihre Mutter in einem Alter von siebzehn Jahren gestorben sei, kurze Zeit, nachdem sie ihrer Tochter das Leben gegeben; und zwar gestorben an unüberwindlicher Sehnsucht nach ihrer fernen, schönen Heimat, gestorben an Heimweh nach dem blauen Himmel Italiens.
Welcher Schmerz mußte dazu gehören, um ein Herz vor Sehnsucht brechen zu machen, wie mußte ein solches Herz sein Heimatland lieben!
Als wäre sie eine Gestalt aus einer Sage, so hatte Joseph Auzinger dem Kind von seiner Mutter erzählt: von seiner jungen, wunderschönen Mutter, die wie eine exotische, farbenprächtige Blume kurze Zeit unter dem deutschen Himmel geblüht hatte und dann aus Mangel an Sonne verwelkt war.
Aus Rom war dieses fremdartige Menschenkind zu Joseph Auzinger gekommen, Maria ihr Name gewesen ... Alles dieses hatte Prisca über ihre Mutter aus dem Mund ihres Vaters erfahren. Nichts andres, kein einziges andres Wort.
Daß sie aus keinem fremden, keinem mitleidlosen Munde etwas über ihre Mutter erfahren könnte, war bis zu seinem letzten Atemzug Joseph Auzingers heimliche Sorge gewesen. Schon als Prisca noch ein ganz kleines Kind war, hatte er jene wenigen Personen aufgesucht, die von der schönen Maria von Rocca di Papa etwas wußten; das heißt, die wußten, daß sie den närrischen Joseph Auzinger geheiratet und ihn bereits nach einem kurzen Jahr verlassen hatte. Einem jeden hatte er einzeln mitgeteilt, daß für sein Kind die Mutter gestorben sein müsse; einen jeden hatte er inständig gebeten, ihm bei dieser frommen Lüge zu helfen, wenn das jemals notwendig sein sollte. Seine traurige Stimme hatte dabei einen Ton, seine melancholischen Augen hatten einen Blick gehabt, daß jeder es ihm gelobte, denn sie alle dauerte der arme Karikaturenzeichner.
So war es denn Joseph Auzinger gelungen, seiner Tochter die Gestalt ihrer Mutter rein von jedem Flecken zu erhalten, so daß Marias schönes Bildnis durch Priscas ganzes Leben als das einer Verklärten erglänzte.
Marias schönes Bildnis ...
Alles, was Joseph Auzinger nach diesem wunderbaren Antlitz in flüchtigen Umrissen gezeichnet oder gemalt hatte, war von ihm selbst nach der Flucht seines Weibes vernichtet worden.
Auch das hatte er für seine Tochter getan, und auch das sollte von dieser erst nach langen Jahren als höchste Liebestat erkannt werden.