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Den jungen Siegfried, im gewöhnlichen Leben Artur Freiherr von Schönaich genannt, sah Prisca tagtäglich. Es geschah gar nicht zu ihrer besonderen Freude; denn so oft sie ihn erblickte, mußte sie sich über ihn ärgern.
Es war nicht zu beschreiben, mit welchem wohligen Behagen der »schönste der Männer« seinen scheußlichen Alten mitten im Sonnenlicht malte. Ein Schwelgen in Häßlichkeit war's.
Sie wollte den Menschen, der ihr das herrliche Rom in so schnöder Weise entweihte, gar nicht ihrer Beachtung würdigen; sie vermied seinen Anblick, wo sie nur konnte, und machte weite Umwege, um ihm im Garten nicht zu begegnen. Mußte sie jedoch einmal an seiner gewaltigen Leinwand, die so frech durch das Grün des Lorbeers und die Gluten der Rosen glänzte, und an ihm selber vorbei, so tat sie es ohne aufzusehen und womöglich ohne ihn zu grüßen.
Dafür grüßte der Schöne sie. Und er grüßte sie so strahlend heiter, mit solchem Sonnenglanz in seinen Blicken und seinem Lächeln, als hätte er nur auf sie gewartet und wäre nun glücklich, sie grüßen zu können. Ja, er ahnte so wenig die antipathischen Empfindungen, die er seiner Münchner Kollegin einflößte, daß er sie in fröhlichster Harmlosigkeit anredete, sie dadurch zwingend, ihn zu beachten, ihn wieder zu grüßen, wohl gar bei ihm stehenzubleiben und einige Worte zu erwidern, freilich in möglichster Kürze, mit Unfreundlichkeit.
Er schien dieses feindselige Wesen seiner Reisegefährtin gar nicht zu bemerken. Jedenfalls schreckte es ihn durchaus nicht ab, unbefangen von diesem und jenem zu plaudern, von Prisca höchst unbedeutend erscheinenden Dingen. Er tat, als befänden sie sich nicht auf einer zauberischen Höhe oberhalb Roms, sondern irgendwo in der gleichgültigsten Gegend der Erde, und schien im übrigen mit sich und seiner Kunst, mit Gott und der Welt unendlich zufrieden zu sein.
Die einzige Genugtuung, die sich Prisca diesem Gebaren gegenüber verschaffen konnte, war, daß sie sein Bild, jenen greulichen Alten, vollkommen ignorierte.
›Nein, diesem Menschen wird Rom nichts anhaben können, weder im Guten noch im Bösen,‹ dachte sie voll verächtlicher Entrüstung. Dann wieder mußte sie gestehen: ›Es ist wirklich schade um ihn. Übrigens, was geht's mich an? Ich kann mit gutem Gewissen den Pharisäer spielen und sprechen: Ich danke dir Gott, daß ich nicht bin wie dieser.‹
Wie erstaunte sie daher, als der schönste der Männer und verächtlichste der Künstler die Artigkeit – sie nannte es Keckheit – besaß, in aller Form ihr einen Besuch abzustatten, weil sie nun doch einmal Landsleute, Kollegen, überdies Reisegefährten wären.
Prisca bemühte sich, ungemein gehalten zu sein, ungemein hoheitsvoll, wie ihre kleine Hofdame diese Miene und Pose ihrer Prinzeß mit großer Genugtuung nannte. Aber Signor Arturo war wiederum dermaßen unbefangen, dermaßen sonnig und liebenswürdig, mit einem Wort: eigentlich geradezu bezaubernd, daß Priscas Herbigkeit zusehends schwand, nicht anders wie deutscher Schnee unter römischer Sonne, und sie sich schließlich dabei ertappen mußte, wie sie mit ihrem unerwünschten Besuch auf das vertraulichste plauderte. Sie machte kaum diese Entdeckung, als sie schon fühlte, wie sie vor Ärger über sich selbst bis über die Stirn errötete. Aber das Unglück war geschehen und ein scheinbar freundschaftlicher, ja herzlicher Verkehr zwischen den beiden angebahnt, von ihrer Seite allerdings unfreiwillig, wie sie mit dem Versuch, sich zu entschuldigen, immer von neuem sich sagte. Auch war es ja undenkbar, gegen einen Gast unhöflich zu sein. Aber sogar diese Entschuldigung ärgerte sie. Jedenfalls wollte sie dafür sorgen, ihren Fehler baldmöglichst wieder gut zu machen; sie würde ein nächstes Mal kühl ablehnend sein. Gleich darauf schalt sie sich: ›Wäre das wohl anständig und eines ehrlichen Menschen würdig? Pfui, schäme dich, Prisca!‹
So kam es, daß »der schönste der Männer« und ein häßliches Mädchen sehr schnell gute Freunde wurden. Doch versäumte Prisca nicht, den Signor Arturo immer wieder ihre Meinung über seine Malerei wissen zu lassen und ihm ihre volle Verachtung seiner fanatischen Liebe für das Häßliche ins Gesicht zu schleudern.
Aber Signor Arturo wurde nach solchen Szenen jedesmal, so deuchte es der empörten Prisca, nur um so strahlender. Es war unerträglich.
Wie sie sich über ihn ärgern mußte! Und dann wieder darüber, daß sie sich ärgerte.
Auch jenen andern deutschen Mitbewohner der Kolonie, den gewissen Signor Carlo, jenen wahren Michelangelo, für den der Knabe Checco eine so große Geringschätzung, Prisca jedoch eine förmliche Hochachtung fühlte, lernte sie kennen.
Eines Abends, es war kurz vor Weihnachten, ließ Fräulein Baumbach bei ihr anfragen, ob sie nicht nachbarlich zu einer Tasse Tee herüberkommen wolle.
Da nun Priscas Abende stets ganz einsam verliefen – sie wurden frierend bei einer kleinen Lampe mit Lektüre über Rom, mit Briefen an das Glöcklein oder am Tagebuch schreibend zugebracht, so nahm Prisca sehr gern die Einladung an.
Sie fand das Atelier bei Lampenlicht, es brannten zwei altrömische, dreiarmige Leuchter, und mit einem bescheidenen Kaminfeuer etwas weniger trostlos als bei ihrem ersten Morgenbesuch, obgleich es trotz der brennenden Holzscheite noch immer so bitter kalt war, daß man den Hauch sehen konnte. Aber die vielen bunten Fetzen und Lappen führten bei dem matten Lichtschein eine Art von Theaterleben, das ihnen einen trügerischen Glanz verlieh. All das verstaubte Wesen der vertrockneten Pflanzen, bemalten Tamburins und antiken Scherben spielte mit Komödie; und sogar die unverkäuflichen Kopien von Tizians beiden Lieben und Carlo Dolces heiliger Agnes, von Guido Renis Aurora und der Beatrice Cenci erhielten einen schwachen Hoffnungsschimmer, als riefen sie ihrer Schöpferin zu: ›Laß nur gut sein. Vielleicht kommt doch noch einmal ein sehr reicher und sehr verrückter Engländer, der an uns Gefallen findet. Wenn er dann uns alle die abkauft; dann, Friedrikchen ...‹
Einstweilen war Friedrike in ihrem erleuchteten Salon vom Kopf bis zu den Füßen die Tochter des Herrn Geheimrats, die Besuch bei sich empfing. Sie führte Prisca feierlich zu dem bewußten Sofa. Auf dem Tisch davor waren allerlei festliche Vorbereitungen getroffen: ein Tellerchen mit einigen Mandarinen, ein zweites Tellerlein mit einigen Biskuits, ein drittes mit einigen Semmelschnittchen, die dünn mit Butter bestrichen und zierlich mit gelochtem Schinken, mit Bologneser Mortadella und Sardellen belegt waren. Die Einladung zu einer Tasse Tee schien – wohl eine Reminiszenz ehemaliger Berliner Geheimratstage – nur sinnbildlich gemeint zu sein; wenigstens war nirgends eine Vorbereitung zur Herstellung dieses wärmenden und daher so überaus wohltätigen Getränkes zu entdecken. Dafür standen neben den drei Tellerchen eine strohumflochtene Flasche, darin ein goldiger Wein funkelte, und vier kleine, sehr kleine Gläser.
Prisca hatte schon vorher, natürlich durch den Knaben Checco, erfahren, daß die würdige Dame ihr Leben durch eine sehr kleine Pension fristete, die sie als Tochter ihres Vaters aus Berlin erhielt, und von der sie überdies an eine gleichfalls in Rom lebende und gleichfalls nichts verkaufende Kollegin – so war des Knaben Checco mit ungeheurer Verachtung vorgebrachte Mitteilung – einen Teil abgab. Und Prisca sah nicht ohne Rührung auf die drei Tellerlein, dabei voller Grauen ihres großen Appetits gedenkend, mit dem sie ihr liebes, gutes Glöcklein fast ruiniert, und der sich in Rom zu ihrem Leidwesen womöglich noch gesteigert hatte. Sie nahm sich sogleich vor, heute abend nicht den mindesten Hunger zu verspüren.
Um ihrer Wirtin etwas Freundliches zu sagen, rühmte sie die Behaglichkeit des Raumes bei Lampenlicht und Kaminfeuer und erhielt die Antwort:
»Sehen Sie, meine liebe Freundin, so kann der Mensch eben nur in Rom wohnen. Und ich behaupte, daß er nur in Rom menschlich wohnen kann. Gar nicht davon zu reden, daß man zu dieser Jahreszeit eigentlich schon bei offenem Fenster sitzen könnte. Aber Sie haben sich in unser Klima noch nicht eingewöhnt; ich habe darum ein Kaminfeuer gemacht, was ich diese ganzen dreißig Winter nur höchst selten tat. Neulich froren Sie sogar bei mir!«
Prisca überfiel wieder das alte Schuldbewußtsein. Eigentlich war sie eine ganz erbärmliche Person, daß sie in Rom gegen Ende Dezember bei acht Grad Reaumur im Zimmer frieren konnte! So wagte sie denn auch nicht die geringste Entschuldigung.
Bald darauf kam Peter Paul, in Erscheinung und Wesen wiederum ganz und gar eine Gestalt aus der goldenen Zeit, da noch die Künstler im Herbst vor der Porta del Popolo mit Musik und Reigen die Weinlese feierten und die Feste in den Cerveragrotten einen Weltruf hatten. Er begrüßte Prisca – welcher Fräulein Baumbach bei seinem Eintritt noch rasch zugeflüstert hatte: Dieses Mal um Himmels willen nicht über Menschen und Dinge von »da drüben« zu reden – als wäre sie eine gute Hausfreundin und hätte ihren Einzug in Rom ganz regelrecht per Betturin über den Ponte Molle gehalten.
Die Damen hatten sich erhoben. Fräulein Friedrike, um mittels eines zierlichen Messingzängleins den Docht der Lampen höher zu ziehen; Prisca, um mit Peter Paul ein Sternbild zu betrachten, das wie ein Symbol groß und glänzend gerade über der Peterskuppel stand. Aber bald setzte man sich um den Tisch. Mit dem bescheidenen Symposion jedoch wurde auf den Gast gewartet, für den das vierte Gläslein bestimmt und der kein andrer war als Herr Karl Steffens.
Fräulein Friedrike – Peter Paul nannte sie galanterweise stets »Signorina Rica«, was sich nicht allein sehr poetisch, sondern auch echt römisch anhörte –, Signorina Rica fragte Prisca, ob sie bereits von dem Bildhauer Karl Steffens gehört hätte.
Prisca bejahte.
»Also kennt man ihn dort drüben doch auch schon?«
Unter dem »drüben«, das stets eine nachlässige Handbewegung begleitete, als wäre damit irgendein gleichgültiges Etwas gemeint, war nicht allein das ganze Deutsche Reich verstanden, sondern alles, was nicht Italien, vielmehr was nicht Rom war. Prisca mußte zu ihrem Bedauern gestehen, daß ihre Kenntnis der Existenz des Herrn Karl Steffens sich auf die kurze Mitteilung beschränkte, die ihr von dem Knaben Checco gemacht worden war. Sie beeilte sich, hinzuzufügen, daß sie nach jenen Schilderungen einen außerordentlichen Respekt vor dem Herrn empfände und sich auf seine Bekanntschaft freute: er schiene ein starkes Talent zu sein, das sich gewiß Bahn brechen würde.
Die beiden alten Römer antworteten nicht. Sie blickten sich schweigend und tief aufseufzend an. Nach einer Weile bemerkte Signorina Rica mit dumpfer Stimme:
»Sie kennen dort drüben den Karl Steffens nicht? Sie haben dort drüben ihre Götzen, zu denen sie beten, und den Gott kennen sie nicht, den Gott verleugnen sie. Aber – sie werden ihn kennen lernen!«
Bei den letzten Worten sah sie Peter Paul an, als hätte sie ihre Rede an diesen gerichtet. Dabei leuchtete es in dem alten, welken Frauengesicht wundersam auf wie eine heilige Zuversicht, wie ein Glaube, der auf Felsen gegründet war. Dann wiederholte sie mit strahlendem Blick und leiser Stimme:
»Jawohl! Ja, ja! Sie werden ihn kennen lernen.«
Auch Peter Paul schaute wahrhaft feierlich drein, so daß sich Prisca von den beiden wunderlichen alten Leutchen ganz ergriffen fühlte. Mit aufrichtigem Interesse erkundigte sie sich nach dem erwarteten Gast, auf dessen Bekanntschaft sie immer gespannter
Voll Pathos erklärte die vortreffliche Signora Rica:
»Karl Steffens ist das größte Genie des Jahrhunderts. Nur in Rom konnte er sich so gewaltig entwickeln, dort drüben wäre er einfach verkommen. Ein Titan, sage ich Ihnen! Nun stellen Sie sich vor, daß dieser Prometheus seit zehn Jahren Not leidet: Not! Sie dürfen sich natürlich nicht anmerken lassen, daß Sie das wissen; ich sage es Ihnen im strengsten Vertrauen und nur darum, damit Sie verstehen, was für ein Mensch er ist. Er hat gewiß oft gehungert. Aber der Hunger hat ihm sicher nicht weh getan. Nicht im geringsten. Er hat es wahrscheinlich nicht einmal gespürt. Was will es heißen, hungern zu müssen, wenn man den Glauben an sich selbst hat? An seine Kraft, an seine Berufung. Ja, und wenn man obein begnadigt ist, diese Mission in Rom erfüllen zu können. In Rom! Nicht wahr, Peter Paul?«
Und die beiden Alten tauschten wiederum einen ihrer heimlichen, glänzenden Blicke. Es war nicht anders, als ob sie aus eigner Erfahrung wüßten, was es heißt, hungern zu müssen, daß aber auch ihnen Hunger nicht weh getan hatte, nicht im geringsten!
Also glaubten auch diese beiden an sich selbst und an ihre Berufung auf Erden ...
Priscas Augen fielen auf alle die vielen Kopien an den Wänden, und ihr war's, als würde sie von des Lebens ganzem Jammer gepackt, der ihr in diesen zwei rührenden Gestalten verkörpert zu sein schien.
Dann erschien Herr Karl Steffens.
Er war wirklich sehr häßlich.
Er war so häßlich, daß Prisca meinte, niemals an den Anblick solcher Häßlichkeit sich gewöhnen zu können. Auf das heftigste fühlte sie sich abgestoßen und begriff nicht, wie ein Mensch, der so aussah, etwas so Außergewöhnliches sein konnte.
Als er eintrat, sah er Prisca steif an, blieb stehen und – ja, und benahm sich höchst wunderlich, höchst unmanierlich. Nachdem er sie eine Weile schweigend angestarrt, trat er rasch auf sie zu, so nahe, daß sie unwillkürlich zurückwich, und glotzte sie durch seine Brillengläser an, als hätte sie, Prisca Auzinger aus München, die Tochter Joseph Auzingers, etwas ganz Besonderes an sich. Als er dann mit ihr bekannt gemacht wurde und ihren Namen hörte, fiel es ihm nicht ein, die fremde Dame zu grüßen; er machte nur eine mürrische Gebärde und murmelte:
»Fräulein Auzinger aus München? Aus München! Wie kann man aus München sein und dabei solche Augen haben? Überhaupt – sind Sie sicher, Fräulein, Auzinger zu heißen und aus München zu sein?«
Er fragte so scharf und grob, daß Priscas guter Humor die Überhand über ihren Ärger gewann und sie Herrn Karl Steffens – er mußte wirklich ein Genie sein, denn nur ein Genie konnte sich so benehmen! – lachend die Versicherung gab, daß sie wirklich Auzinger heiße und aus der bayrischen Hauptstadt sei. Der häßliche Herr murmelte darauf etwas, das wie »unbegreiflich« und »widersinnig« klang, nahm seine Brille ab, putzte sie, um Prisca von neuem wie ein Naturwunder anzustarren. Als er endlich am Tische Platz nahm, sprach er kein Wort mehr.
Dafür waren die beiden alten Römer ganz Gesprächigkeit und Freude, den Mann der Zukunft bei sich zu sehen und bewirten zu können.
Nachdem Prisca sämtliche drei Tellerlein angeboten erhalten und sich davon bescheidentlich bedient hatte, wurden die gesamten Tafelgenüsse von Signorina Rica dem Genie überantwortet, und Peter Paul holte eigenhändig ein großes Glas herbei, das er bis zum Rand voll schenkte.
Ach, das gefüllte große Glas und die drei Tellerlein waren alles, was die beiden Alten für das hungernde Genie zu tun vermochten. Sie selbst rührten keinen Bissen an, tranken keinen Tropfen.
Herr Karl Steffens aß und trank, bis es nichts mehr zu essen und zu trinken gab, was sehr bald der Fall war, starrte Prisca durch seine funkelnden Brillengläser an und – sprach kein Wort.
Signorina Rica schwatzte von allem, was in den letzten Tagen in der Welt, das heißt in Rom, geschehen war: daß der Papst in der Sixtinischen Kapelle eine Messe gelesen, das Apartamento Borgia renoviert und die Galerie Borghese verkauft werden sollte; daß dieses Jahr in der Villa Doria-Pamfili die Anemonen gewiß sehr frühzeitig blühen und im Karneval wieder die Barberi laufen würden.
Auch der gute Padre Angelico plauderte von allerlei Römischem: von jenen Zeiten, da er nach Rom gekommen war; vom römischen Leben, wie es damals gewesen, von römischen Frauen und Männern und tausend römischen Dingen, die es längst nicht mehr gab.
Aber nur Prisca hörte zu und zwar zerstreut, denn ihre Aufmerksamkeit war zu sehr durch Herrn Karl Steffens in Anspruch genommen: wie groß sein Hunger sein mußte, da er doch nicht annähernd satt geworden zu sein schien; weshalb er wohl diese sonderbaren Fragen an sie gerichtet hatte und sie auch jetzt noch so rücksichtslos anstarrte.
Etwas Schönes sah er an ihr sicher nicht.
Plötzlich – die Tellerlein waren längst geleert, der Wein längst ausgetrunken, wandte sich Herr Karl Steffens mit solcher leidenschaftlichen Heftigkeit, solchem Groll in Stimme und Gebärde an Prisca, daß diese erschrocken zusammenfuhr:
»Sie, Fräulein Auzinger! Was wollen Sie hier in Rom? Die große römische Komödie: ›anch' io son' pittore‹ mitspielen? Noch dazu mit solchen Augen! Sollten Sie noch hundert Lire im Beutel haben, so packen Sie schleunigst Ihre Siebensachen und fahren Sie morgen mit dem ersten Zug nach Ihrem München zurück, wo Sie sich gewiß der Menschheit auf eine andre Weise nützlich machen können. Besitzen Sie aber keine hundert Lire mehr – und Sie sehen nicht sehr nach Schätzen aus –, so nehmen Sie morgen Ihr Päcklein auf den Rücken und wandern Sie mit dem frühesten zum Tor hinaus: wohl' verstanden zu demjenigen Tore, durch welches es nach dem grauen Germanien geht. Betteln Sie sich meinetwegen bis zum Isarstrand zurück, kommen Sie mit zerrissenen Schuhen und blutenden Füßen daheim an. Aber gehen Sie von hier fort! Meinetwegen fallen Sie um auf der Landstraße. Aber gehen Sie fort von hier! Einen besseren Rat gab Ihnen in Ihrem ganzen Leben noch kein Mensch. Natürlich fällt Ihnen nicht ein, sich raten zu lassen; natürlich bleiben Sie; natürlich ergeht es Ihnen hier, wie es bereits Tausenden in dieser verfluchten Stadt ergangen ist, wie es nach Ihnen Tausenden ergehen wird. Sie sind nur eine von vielen!«
Er sprang auf, fuhr mit beiden Händen durch sein rotgelbes, struppiges Haar, rannte wütend im Zimmer auf und ab, wobei er bald vor der einen, bald vor der andern Kopie der Beatrice Cenci stehen blieb, und tobte seinen Grimm wacker aus.
»Wissen Sie, was dieses wahnsinnig gepriesene, glorreiche, herrliche, ewige Rom ist? Eine teuflische Totschlägerin, eine Mörderin! Sie würgt uns, saugt uns das Blut aus, bricht uns das Herz, bringt uns um unser Stücklein Menschenwürde, um unser bißchen Verstand, geradeso wie ein schönes dämonisches Weib. Freilich, wenn Sie Hinz und Kunz sind, so können Sie in Rom abends ruhig zu Bett gehen und werden am Morgen vergnügt aufwachen. Wenn Sie aber etwas in Ihrem Blute haben, so etwas Gewisses, wenn Sie stark für Fieber inklinieren, so können Sie sich darauf verlassen, daß Sie den Bazillus auch schlucken und das römische Fieber bekommen werden; daß Sie, fünf gegen eins gewettet, an der römischen Todkrankheit elend zugrunde gehen müssen – wenn Sie sich nicht schleunigst auf und davon machen.
»Und Sie, Fräulein Auzinger aus München, haben so etwas in den Augen ...
»Gehen Sie fort, gleich morgen!
»Da kommen die Leute, die nicht Hinz und Kunz sind, her: Wirklichkeit gewordener Traum, erfüllter höchster Wunsch, Wonnen ohnegleichen, Glück ohne Ende und wie die Duselei und der Blödsinn heißt. Neapel sehen und sterben ... Unsinn! Man sollte sagen: nach Rom kommen, ein berühmter Künstler werden, ein sogenannter großer Künstler, und – an Rom krepieren.
»Die Gräber der an Rom krepierten Künstler füllen einen gewaltigen Kirchhof. Die Peterskuppel ist darauf die Cestiuspyramide.
»Ja, ja! Da kommen die Leute her, welche die große Sehnsucht haben: die Sehnsucht nach Sonne, nach Farbe, nach Schönheit, nach Grazie. Sie kommen und trinken aus dem heiligen römischen Gesundbrunnen, der alle Künstlerschmerzen heilen soll. Sie schlürfen und schlürfen und finden kein Ende. Und wenn sie dann eines schönen Tages erwachen aus dem Rausch, und wenn sie dann hinaus sollen ins feindliche Leben, etwas Großes zu leisten, so können sie nicht mehr. Einfach, sie können nicht! Sie können nicht mehr leben ohne dieses herrliche, dieses furchtbare Rom. Nicht mehr durch den Korso und über den Spanischen Platz schlendern zu sollen; nicht mehr auf dem Kapitol und dem Palatin zu stehen; nicht mehr von Tivoli und Frascati aus auf die Campagna hinabzublicken – sie können es einfach nicht! Die goldene römische Sonne und die göttliche römische Grazie, oder wie sie sonst den Teufelsspuk nennen, wird für ihre kranken Seelen zu Morphium. Denn nur die Kranken sind es, die sich von Rom zugrunde lichten lassen, die nicht die Kraft besitzen, sich loszureißen. Und man kennt ja diese Morphiumsüchtigen: solange sie das süße Gift nehmen, so lange können sie das Leben ertragen: nur so lange! Ohne die tägliche Ration Giftstoff im Leibe sind sie verloren. Es ist vorbei mit ihnen, aus und vorbei.
»Betrachten Sie hier den Padre Angelico und dessen Seraph, die engelgleiche Signorina Rica – Romsüchtige, sage ich Ihnen. Sie wissen es beide sehr genau. Und ganz genau wissen sie, daß es mit ihnen beiden aus und vorbei ist am selben Tage, da Rom ihnen entzogen würde.
»Sie! Fräulein Auzinger aus München – aber und abermals rate ich Ihnen, retten Sie sich vor der großen Teufelin, solange es noch Zeit ist. Ich sage es Ihnen ins Gesicht hinein: Sie haben so etwas in den Augen ...«
Prisca wollte eben in ein helles Lachen ausbrechen, als es plötzlich wie eine Vision vor ihr stand. Sie sah vor sich die arme Fanni, die ehemals die hübsche und lustige Fanni gewesen war; und der blasse Schatten des unglücklichen Mädchens sagte ganz laut und deutlich:
›O Prisca, warum kamst du hierher? Prisca, geh fort, geh fort!‹
Das gespenstische Antlitz, das sie in diesem einen Augenblicke vor sich sah, die Geisterstimme, die sie vernahm, erstickten ihr Lachen, mit dem sie dem dunkeln Rater und Warner sagen wollte:
›Aber so sieh mich doch nur an! Sehe ich denn trotz meiner Augen aus wie eine Kranke, wie eine, die Morphium notwendig hat? Ich will hier arbeiten – leben will ich hier! Sieh doch nur, wie gesund und stark ich bin; so recht brutal germanisch gesund. Ich inkliniere nicht im mindesten zu dem mörderischen römischen Fieber.‹
Die beiden alten Römer hatten bei dem leidenschaftlichen Ausbruch des Genies schweigend mit blassen, ängstlichen Gesichtern dagesessen. Sie wagten nicht aufzublicken und sich anzusehen, waren zu sehr außer Fassung geraten, um imstande zu sein, auf die donnernde Philippika gegen ihr geliebtes Rom auch nur mit einer Silbe zu entgegnen.
Prisca, ihre Augen fest auf die funkelnden Brillengläser des häßlichsten aller Männer gerichtet – wie sie Herrn Karl Steffens im Gegensatz zu dem schönsten aller Männer bereits bei sich selbst nannte, fragte mit einem ihrer glanzvollsten Blicke:
»Und Sie?«
»Und ich? Oh, Sie wollen hören, wie es um mich steht? Und warum ich nicht beizeiten gegangen bin, der ich doch andern so gut zu predigen weiß? Bah, ich! Betrachten Sie einmal gefälligst mein Gesicht. Doch das taten Sie ja bereits! Häßlich, einfach scheußlich, nicht wahr? ... Haben Sie schon etwas von römischen Frauen gehört?
»... Gewiß. Sie haben sie sogar schon gesehen. Herrlich, einfach göttlich, nicht wahr? ... Nun ja! Sehen Sie, so ist es! Und nun sehen Sie mich an. Basta!«
In Prisca wallte es heiß auf. Sie rief, und sie bemühte sich dabei nicht einmal, ihre Erregung zu dämpfen:
»Ich kenne Sie nicht, aber ich hörte, Sie wären ein starkes Talent. Man gibt Ihrer großen Begabung sogar einen noch höheren Namen, den höchsten, den man einem Künstler geben kann. Und dann sollten Sie so schwach und feige sein? Jawohl, Herr Steffens, so schwach und feige, daß Sie sich um einer solchen Sache willen von Rom, das Sie für verderblich, für geradezu mörderisch halten, nicht losreißen könnten?«
Steffens lachte laut und grell auf.
»Eine solche Sache nennen Sie das? ... Aber was können Sie davon wissen! Mögen Sie es also immerhin unbegreiflich finden.«
»Ich werde es stets unbegreiflich finden. Denn niemals, niemals werde ich verstehen, daß ein genialer Mann sich selbst und seiner Kunst treulos werden kann, weil er vielleicht von einem schönen Weibe nicht wiedergeliebt wird.«
Prisca war so erregt, daß sie kaum wußte, was sie sprach. Sie sah Steffens an. Sein häßliches Gesicht war entstellt durch eine Leidenschaft, von deren Dasein im Menschenherzen Prisca nichts wußte. Er war totenbleich geworden.