Richard Voß
Römisches Fieber
Richard Voß

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18. Aus Priscas Tagebuch

Rom, Anfang Februar.

Mutter!

Wie oft ich, seitdem ich in Rom bin, an meine Mutter denken muß! Oft, oft träume ich von ihr, weine im Traum und erwache mit einem Aufschrei:

»Mutter!«

Ich weiß so wenig von ihr. Ich weiß nur, daß mein Vater sie fand »verlassen, verlassen, wie der Stein auf der Straßen«, daß sie blutjung war, ein halbes Kind, wunderbar schön; daß mein Vater sich leidenschaftlich in sie verliebte und sie sich in ihn; daß sie nach einem kurzen Jahre der Glückseligkeit starb, bald nach meiner Geburt. Am Heimweh nach ihrem herrlichen, strahlenden Süden, am Heimweh nach Rom.

Ihrer Tochter hinterließ sie diese Sehnsucht nach Sonne und Schönheit. Ohne dieses mütterliche Erbe hätte es mich niemals so gewaltig hierhergezogen. Das Glück, in Rom zu sein, danke ich daher meiner Mutter.

Seltsam, daß mir dieser so einfache und selbstverständliche seelische Vorgang erst hier klar wurde ...

Weshalb mein guter Vater mich wohl niemals an ihr Grab geführt, weshalb er wohl alle Bilder von ihr vernichtete?

Verzeih mir, du Guter, Bester, aber es war nicht recht von dir.

Wie darf ich mit dir rechten? Du warst ja krank, innerlich krank durch den frühen Tod meiner schönen, jungen Mutter, und du dachtest nicht daran, daß du deiner Tochter ihr Grab und Bild schuldig warst.

Daß meine arme Mutter Römerin war, ist das Sonnenmärchen meines sonst so nüchternen Lebens; ist die wunderbare Romanze, die dem Kinde gesungen ward. Meine römische Mutter war ja auch das Hohelied in dem Dasein meines Vaters. Sie war das hehre Weib aus der Fremde, das ihm erschien und in seine grauen Tage einen Lenz streute, einen ganzen römischen Frühling von Strahlen und Blüten. Dann ging sie wieder, entschwand sie seinen Blicken in jenes dunkle Land, daraus niemand wiederkehrt, und lieh ihn mit seinem mutterlosen Kinde in Sehnsucht zurück.

Daß ich ihr so gar nicht ähnlich sehe, in so gar nichts ihr gleiche! War das nicht grausam von der Natur, auf mein Gesicht nicht einen einzigen Strahl ihrer Schönheit fallen zu lassen, wo meine Seele doch so schönheitsdurstig ist, daß sie sich nie satt trinken wird?

Ich weiß, mein Vater starb am gebrochenen Herzen, meiner schönen Mutter nach, aus Heimweh nach ihrer flammenden Sonnenseele.

Auch das weiß ich längst, daß ich ihn nicht trösten konnte, ich, die ich in nichts meiner Mutter gleiche.

Darum spähte er oft so angstvoll in mein Gesicht, ob er darin nicht einen, auch nur einen ihr ähnlichen Zug entdecken könnte.

Nein, mein Vater, nicht einen!

Er konnte niemals von ihr sprechen, selbst in seinen letzten Lebensjahren nicht. Er konnte ihren Namen nicht über die Lippen bringen, so sehr liebte er sie bis zum letzten Atemzug, meine schöne, strahlende, unglückliche Mutter.

Jawohl, unglückliche Mutter. Denn unglücklich war sie.

Das war das große Geheimnis, das mein Vater mit sich ins Grab nahm, an dem er nicht einmal sein Kind wollte teilhaben lassen, damit dessen dunkle Jugend nicht noch trüber werde.

Wie ich sie liebe, diese nie gekannte, nie vergessene Mutter, wie ich mich nach ihr sehne, wie ich ihr Bild mir verklärt habe ...

Schon als ganz kleines Kind scheute ich mich, zu andern von ihr zu sprechen. Sie war für mich eine so geheimnisvolle Gestalt, es haftete etwas so Glanzvolles, so Unirdisches an ihr. Das blieb auch so, als ich größer ward. Nicht einmal zu meinem guten Glöcklein konnte ich von ihr reden.

Und auch hier, in ihrer Heimat, bringe ich ihren Namen nicht über die Lippen. Es kostete mich sogar Überwindung, den beiden guten alten Leutchen, die mich ganz unverdienterweise in ihr Herz geschlossen, zu sagen, daß meine Mutter eine Römerin war. Ich machte sie durch diese Mitteilung förmlich glücklich. Sie sind stolz auf diese Tatsache. Plötzlich ist das Rätsel ihrer großen Vorliebe für mich erklärt: ich habe eine römische Mutter! Ja, nun darf ich in Rom sein, nun gehöre ich dahin, ich hätte durch meine römische Mutter sogar das Recht, in Rom zu sterben und begraben zu werden, allerdings nicht bei der Cestiuspyramide.

Aber beiden merke ich an, wie sie über mein unrömisches Gesicht im stillen ganz außer Fassung sind. Wie kann ich nur so aussehen? Ich wagte es noch gar nicht, ihnen von der Schönheit meiner Mutter zu sprechen, aus Furcht, sie durch meine Häßlichkeit noch mehr zu verletzen. Wie würden sie mich erst lieben, wie stolz würden sie auf mich sein, wenn ich ihre Schönheit geerbt hätte.

Daß eine Romana di Roma ein so urgermanisches Kind zur Welt bringen konnte, mit dem gelbblondesten Gretchenhaar, bleibt ein »Zwiespalt der Natur«, wie es in der lieben, alten, herrlichen Ahnfrau heißt, und meine großen, kohlschwarzen Augen sind ihnen doch nur ein schwacher Trost.

Meine Augen!

Gestern stellte mich Herr Karl Steffens darüber förmlich zur Rede.

»Ihre Mutter war Römerin? Das muß ich erst von andern Leuten erfahren? Sie haben natürlich ihre Augen. Und Ihre Mutter ist tot?«

»Sie starb bald nach meiner Geburt.«

»Wissen Sie das genau? Verzeihen Sie, aber ich habe meinen Verstand erst zur Hälfte verloren. Mit der Vernunft, die mir noch blieb, frage ich Sie, ob Ihre Mutter wirklich tot ist?«

Ich hielt ihn in diesem Augenblick allerdings für halb irrsinnig, während ich ihn versicherte, daß meine Mutter wirklich tot sei.

»Nun, Sie müssen es wissen,« sagte der seltsame Mensch und schaute mich an, als wäre ich mein eignes Gespenst.

Ich kehrte ihm den Rücken und ging meines Weges. (Wir hatten uns im Garten der Kolonie getroffen.)

Nach einer Weile kam er mir nach, er lief fast.

»Bitte, verzeihen Sie mir!«

Ich hatte ihm sogleich verziehen. Gerade den Abend vorher ward mir von Fräulein Friedrike die Geschichte der schönen Fürstin Romanowska erzählt. Sie hatte es nicht früher getan und auch gleich anfangs dem Knaben Checco befohlen, kein Geschwätz davon zu machen, weil sie in ihrem grundgütigen Herzen fürchtete, die Neuangekommene möchte sonst von ihrem und Peter Pauls Liebling eine schlechte Meinung fassen. Nun versteht die treffliche Signorina Rica von diesen Dingen genau so viel wie ich, vermag sich also, will sie ehrlich sein, absolut keine Vorstellung zu machen, wie ein ernsthafter Mann, der noch dazu ein genialer Künstler ist oder sein soll, in solchem Maße einer Leidenschaft sich unterwerfen und von ihr sich knechten lassen kann. Vielleicht vermag eine Frau sich dergleichen Dinge überhaupt nicht vorzustellen?

Es war gestern abend rührend für mich, zu beobachten, wie sie sich Mühe gab, Karl Steffens' Wesen zu erklären, ihn zu entschuldigen, ihn in meinen Augen nicht schwächlich erscheinen zu lassen. Dabei blieb der Refrain derselbe.

»Er ist doch ein genialer Künstler! Er überwindet noch einmal diese Sache! Er dringt doch durch! Sie sollten nur seine Arbeiten sehen. Und erst seine ›Tochter der Semiramis‹. Ein unerhört großartiges Werk, sage ich Ihnen.«

Ach! Ich trage immer noch schwer an dem unvergeßlichen Eindruck, den Peter Pauls großes Bild auf mich machte; bin innerlich zu sehr überzeugt, daß es mir mit den Arbeiten des Herrn Steffens ähnlich ergehen wird, besonders mit seinem Meisterwerk. Ich finde daher nicht den Mut, Fräulein Friedrike zu bitten, mich in das Atelier des neuen Michelangelo zu führen, so dringend sie zu wünschen scheint, ich möchte einmal ein solches Verlangen äußern, ja entschieden diese Bitte von mir erwartet. Sowenig ich die Leidenschaft und das ganze Leben dieses Herrn begreife, so unsympathisch mir dasselbe ist, so – ich muß es aussprechen – verächtlich ich dasselbe finde, kann ich doch nicht verhindern, daß er selbst mich interessiert. Wenn ich an die Stunde denke, wo er meine Studie kritisierte, wo er mir meine Fehler zu Gemüt fühlte, ja, ja! Ich interessiere mich für ihn; aber – seine Arbeiten möchte ich nicht sehen.

Übrigens zweifle ich stark, ob er sie mich sehen lassen, ob er mich für würdig finden würde, sie zu sehen.

Entschieden nein!

Meine »Römischen Rosen mit Lorbeer« sind verkauft!

Das gute Glöcklein meldet es mir. Ich glaube, sie hat beim Schreiben vor Freude geheult; wenigstens waren ihre mächtigen Buchstaben halb verwischt. Also coraggio, liebe Lange! Sempre avanti!

Es wird schon gehen.

Natürlich wird es gehen, du dumme Prisca.

Es muß ja gehen.

Ich feierte den Verkauf meines ersten römischen Bildes durch ein glänzendes Fest, zu dem ich meine beiden alten Römer einlud. Ja! Und ich lud noch einen dritten ein: Herrn Karl Steffens.

Eigentlich wollte ich auch meinen jungen Siegfried (diesen Namen führt er nun einmal bei mir) zu meinem kleinen Symposion bitten. Ich mußte mich jedoch gerade wieder zu sehr über ihn ärgern. Er hat glücklich noch etwas entdeckt, das noch häßlicher ist als sein gräßlicher Greis; es ist das eine Straße im neuen Rom. Sie liegt vor der Porta Salara, könnte jedoch ebensogut in dem scheußlichsten Quartier von London sein ... Nein, nur im modernen Rom kann etwas so Unmögliches möglich sein; und dieses wirre Traumbild malt der Mensch – riesengroß, natürlich!

Strahlend teilte er mir die glückliche Neuigkeit mit und bat mich, am Nachmittag mit ihm zu gehen und sein neues Motiv zu betrachten. Ich sagte ihm im voraus, ich würde es jedenfalls abscheulich finden, welche Grobheit mir nur ein glänzendes Lächeln eintrug. Also begleitete ich ihn und – wie ich mich wieder über den Menschen ärgern mußte!

Häuser, die in Trümmer gefallen, die Ruinen sind, noch ehe sie überhaupt fertig wurden. Eine Straße von Palästen sollte es werden, mit prunkenden Fassaden, säulengetragenen Einfahrten, prachtvollen Loggien und Altanen, und – himmelhoch aufgemauerte Höhlen sind's geworden!

Was nicht eingestürzt ist, oder nicht gerade morgen einzustürzen droht, wird bewohnt, von Proletariern! Manches dieser Gebäude ist von oben bis unten (ich übertreibe nicht) in die graue feuchte Wäsche armer Leute eingewickelt, die zum Trocknen ausgehängt wird. Viele Fenster der bewohnten Räume haben nicht einmal Scheiben; sie sind mit Lumpen verhängt, mit Papier verklebt. Von manchen Häusern wurden die Gerüste noch gar nicht fortgenommen. Man baute fieberhaft, der große Krach kam, und die Arbeiter wurden nicht mehr bezahlt. Die Maurer nahmen ihre Kelle, die Zimmerleute ihre Axt auf und gingen davon. So blieben die unfertigen Bauten stehen.

Dieses neue Rom glich einer ausgeplünderten und ausgebrannten verlassenen Stadt, von der die Herde der Heimatlosen aus der Hefe des Volkes Besitz ergriff.

Alte und junge Weiber in Lumpen, Kinder in Lumpen; arbeitslose junge Leute, arbeitslose Männer – das ist die Bevölkerung dieses neuen Rom.

Sie liegen schwatzend in den offenen Fenstern, sie stehen schwatzend unter den Haustüren, treiben sich schwatzend auf der Straße herum, die teils Kehrichthaufen, teils Gosse ist ...

Aber die Bevölkerung ist bereits apathisch geworden durch lange, lange Entbehrung; ermattet durch Fieber, elend durch den Jammer eines solchen Lebens.

Dazu blauer Himmel, der über dieser Häßlichkeit leuchtet; die strahlende Luft, die wie eine Gloriole so viel Elend verklärt.

Und das malen zu wollen!

»Aber, begreifen Sie denn nicht?«

Ich konnte ihm und mir nicht helfen: ich begriff es ganz und gar nicht. Und ich war so böse auf ihn, so böse, daß ich ihn zu meiner Fête champêtre nicht einlud.

Wenn er wenigstens nicht so talentvoll wäre! Aber das ist's ja eben.

*

Wenn mein gutes Glöcklein wüßte, wo Prisca Auzinger aus München die erste Festivität ihres Lebens gibt, wenn es mit seinem hellen, zarten Gebimmel dabei sein könnte!

Recht viele gute Bilder malen, alle Bilder sofort zu teuern Preisen verkaufen und dann meinem guten Glöcklein ins Idyllenhäuschen ein Billett schicken, zweiter Klasse, München-Rom, hin und zurück, gültig volle acht Wochen!

Ich hatte auf der Piazza del Popolo zwei Einspänner genommen, sogleich für die Fahrt bezahlt (ohne zu handeln), dann meine Gäste erwartet, sie und mich aufgeladen: in dem einen wir beiden Damen, in dem andern die beiden Herren. Für meinen jungen Siegfried wäre beim Kutscher noch prächtig Platz gewesen! Ich mußte immerfort hinsehen, mich immerfort ärgern.

Unsre braven Vetturini brachten uns in prachtvollem Trabe hinaus zum Aventin, wo sich bei der Kirche Santa Prisca – Santa Prisca, man denke! – die wunderbarste, wonnigste Trattorie befindet, mit einem Hof und einer Loggia, von welcher aus man über sämtliche sieben Hügel blickt, weithin über die Campagna bis zu den Albanerbergen und der Sabina.

Es ist die glanzvolle Zeit der Pfirsichblüte. In den blattlosen Weinfeldern, die gelb von dem Schilfrohr sind, daran die Reben aufgebunden werden, schimmern allüberall die großen rosigen Blumenhügel. Rosige Ströme ergießen sich von den Höhen, fluten hinaus weit ins Land, wo sie zwischen den Silbersäulen der Ölbäume sich durchwinden, die goldbraunen Ruinen umwogen, zu kleinen Blütenstreifen zusammenrieseln. Und zu diesem Frühlingslied hoch in den Lüften endloser Lerchenjubel ...

Wir thronten königlich über all der Schönheit und speisten einen lukullischen Eierkuchen mit jungen, zarten Artischocken darin, speisten rubinroten Sabinerschinken mit goldigem Salat, der vor unsern Augen im Garten abgeschnitten wurde, speisten die letzten zuckersüßen Orangen und die ersten, nach nichts schmeckenden grünen Mandeln des Jahres, getrocknete Feigen und Gorgonzolakäse. Zu diesen Genüssen süßer Orvietowein, und das Beste und Schönste von allem: ich war die Wirtin, und das Geld für das Gelage erworben durch meine Kunst, erworben in Rom!

Wie liebenswürdig wir alle waren! Peter Paul erzählte seine hübschesten altrömischen Geschichten, wobei ihm Signorina Rica auf das anmutigste sekundierte; Karl Steffens vergaß sogar seine Fürstin Romanowska, sprach von Kunst und allem Schönen, allem Großen und Edeln auf Erden. Er sprach begeisternd, und es versetzte mich von neuem in dumpfes Erstaunen, daß ein Mann, der so fühlen kann, imstande ist, eine derartige Untreue gegen sich selbst zu begehen um eines schönen Weibes willen ... Still, Prisca, das verstehst du nicht.

An unserm Tisch war noch ein freier Platz. Wie gut hätte der andre, der Uneingeladene, dort sitzen können. Er wäre gewiß prachtvoll gewesen, genau so glänzend wie dieser köstliche Tag; und ich hätte mich einmal über ihn von ganzem Herzen freuen können, statt mich über ihn ärgern zu müssen.

Aber warum malt er so greuliche Bilder!

Wir kehrten zu Fuß zurück, Fräulein Friedrike hatte sich an Peter Pauls Arm gehängt, den sie jedoch jeden Augenblick losließ, um Blumen zu pflücken. Das alte Gemäuer, daran wir vorüberkamen, duftete von Goldlack; an den von Blüten leuchtenden Hecken wucherten purpurfarbenes Kaprifolium und wilde Reseda, und der starke Duft der japanischen Mispelblüte strömte uns aus den Gärten entgegen.

Ich ging neben Karl Steffens. Da sagte mir der seltsame Mensch, daß er großen Respekt vor mir habe, daß er sich in meiner Gegenwart sonderbar wohl fühle und mich um Erlaubnis bitte, um meine Freundschaft werben zu dürfen. Er forderte mich auf, sein Atelier zu besuchen; ihm liege daran, ihm liege sehr viel daran.

Was konnte ich anders erwidern, als daß ich kommen würde!

Ich hatte eine schlaflose Nacht, in der ich wachend träumte. Es war wie Alpdruck. Meine tote Mutter kam zu mir, warf sich mit ausgebreiteten Armen über mich und würgte mich. Da erschien Karl Steffens und flüsterte mir zu, ich sei auf der Welt der einzige Mensch, der ihm helfen könnte, von dem schönen Dämon Maria sich zu befreien. Ich wollte ihm etwas zurufen, doch meine tote Mutter preßte ihren Mund fest, fest auf den meinen und erstickte mich mit Küssen.

Das letzte, dessen ich mir bewußt blieb, war das leuchtende Haupt meines jungen Siegfried. Es strahlte auf meine Qualen herab, und ich hörte ihn sagen: Wir wären so glücklich gewesen!

Als ich mich endlich von dem schrecklichen Spukbild befreite, graute der Tag. Ich sprang aus dem Bett und kleidete mich an. Die Glieder waren mir so schwer, daß ich taumelte und es mich Mühe kostete, mich zu bewegen. Als ich zufällig mein Gesicht im Spiegel sah, erschrak ich, so bleich kam ich mir vor, mit solchen unnatürlich großen Augen, wie in Entsetzen weit aufgerissen.

Es regnete in Strömen. Wie war das nach dem gestrigen glanzvollen Tage nur möglich? Aber ich zog mich trotzdem zum Ausgehen an. Um mich ganz von dem Fiebertraum der Nacht zu befreien, mußte ich hinaus. Ich atmete auf, als ein kalter Wind mir entgegenfuhr und der Regen mein Gesicht peitschte.

Ich schlug den Weg ein, der zur Villa des Papstes Julius führt, ging an dieser verfallenden Schönheitsstätte vorüber und den Hohlweg, der mich zur Acqua acetosa brachte: Goethes Lieblingsspaziergang!

Der gelbe Tiber in seinem zerwühlten Bett, die grauen Regenwolken, die tief herabhingen, die braunen Ruinen und Tuffelsen – wie tief melancholisch war dieses römische Landschaftsbild!

Ich konnte den ganzen Vormittag nichts arbeiten, schrieb einen langen Brief an das Glöcklein, fror heftig, dachte ganz unverständigerweise an meinen Traum, daß ich und mein Siegfried, über den ich mich so oft ärgern muß, so glücklich sein könnten, daß einzig meine Wenigkeit Karl Steffens zu helfen vermochte. Worin helfen? Seine Leidenschaft zu der schönen Frau zu überwinden? In unsern Träumen herrscht doch eine zu unsinnige Logik!

Karl Steffens half dagegen mir. Seitdem er meine Malerei angesehen, darüber mit mir gesprochen, mir meine Fehler nachgewiesen, über vieles die Augen geöffnet hatte, mache ich entschieden Fortschritte. Er bestätigt mir das zwar nicht, aber ich fühle es, und schon heute würde ich keine »Römische Rosen mit Lorbeer« mehr malen, und wenn ich sie bereits auf der Staffelei verkaufen sollte.

So viel Gutes erweist er mir, so große Dankbarkeit schulde ich dem Manne, den ich im geheimen gering schätze, beinahe verachte und dem ich – meinem abscheulichen Traum zufolge – soll helfen können, auf der ganzen Welt einzig und allein nur ich.

Heute nachmittag will ich seine Arbeiten ansehen, da ich es einmal versprach. Ich fürchte mich unaussprechlich vor diesem Besuch und gäbe etwas darum, könnte ich ihn wenigstens als Künstler bewundern.

Er soll ja doch ein Genie sein – sagt selbst das Modell Checco.

Ob er mir wohl seine »Tochter der Semiramis« zeigt?

*

Ich war bei ihm.

Ja, ja, ja! Ich darf ihn bewundern, und zugleich bin ich traurig bis ins tiefste Herz hinein.

Sein starker Genius krankt förmlich an seinem schwachen Menschen, welcher an der Leidenschaft zu dieser Fürstin Romanowska, zu der »Tochter der Semiramis«, zugrunde geht. Auch sein Genius wird zugrunde gehen, wenn kein Wunder ihn rettet.

Ich mußte immer heimlich nach dem Vorhang aus Purpurseide sehen, dahinter, wie ich wußte, seine Gruppe stand. Er durchleuchtete den traurigen Raum wie ein Stück Abendröte. Nun ich davorstand, fürchtete ich, daß er das Marmorbild mir enthüllen konnte. Was hätte ich sagen sollen? Selbst dann, wenn ich es groß und schön finden durfte. Zuerst schien meine Angst umsonst zu sein. Als ich aber einmal von meinem Betrachten aufblickte, sah ich – leise, leise, hatte er den Vorhang für mich zurückgezogen.

Ich begreife jetzt, daß es eine Frauenschönheit gibt, die über eines Mannes Seele Gemalt gewinnen kann, wie das Böse über das Gute. Diese Erkenntnis kam mir in dem Augenblick, da ich das Marmorbild der Fürstin Romanowska sah. Noch gestern hätte ich's für unmöglich gehalten, daß eine solche Erkenntnis mir jemals kommen könnte – unfähig wie ich bin, gewisse Dinge zu verstehen.

Auch das begreife ich plötzlich: diese »Tochter der Semiramis« würde den Mann, den sie einmal geküßt hat, umgebracht haben, auch wenn ihn kein barbarisches Gesetz zum Tode verurteilt hätte.

Ich wünschte, daß ich dieses Meisterwerk, denn ein solches ist es, nicht gesehen, trotzdem ich seinen Schöpfer aus ganzer Seele bewundern muß. Seine »Tochter der Semiramis« quält mich wie ein Traum dieser Nacht.

Ist das aber ein reines Kunstwerk, das eine solche Wirkung hervorbringen kann?

Er selbst könnte sich helfen! Wenn er sein Bildwerk zerstören würde, so hätte er sich geholfen! Nicht das Werk zerstören, meine ich, sondern die Gestalt, die in seiner Seele lebt, denn sie ist der Fetisch, dem er sich selbst zum Opfer bringt.

Es geht wohl leichter, einen Hammer zu nehmen und ein Marmorbild zu zerschlagen, als Herr zu werden über eine große Leidenschaft ... Wie kommt es, daß ich das plötzlich begreife?

Was ich außer jenem einen, einzig vollendeten Werke bei ihm sah – es ist in Wahrheit ein einziges Werk –, bestand nur in wenigen flüchtigen Skizzen, sämtlich in Wachs modelliert. In so flüchtigen Umrissen sie auch wiedergegeben waren, konnte ich an ihnen doch voll erkennen: er ist ein Genie. Alle seine Entwürfe schrien mir förmlich zu: Sieh uns an! Die Phantasie eines wahren, eines großen Künstlers hat uns erdacht, aber wir müssen erst gestaltet werden, erst erschaffen.

Bei diesem Besuche kam ich auch dahinter, womit er hier sein Leben fristet – einen so trostlosen Namen muß ich der Sache wohl geben. Er fabriziert Kopien von Antiken! Ein hiesiger Antiquar kauft sie ihm ab, wahrscheinlich für ein Spottgeld, und vergräbt sie in lehmigen Boden. Nach Jahren wieder ausgegraben, werden sie dann zu enormen Preisen als römische Funde verkauft.

Die Kopien der Aurora und Beatrice Cenci der vortrefflichen Signonna Rica werden bei Karl Steffens durch den jugendlichen Augustuskopf vom Vatikan und die kapitolinische Antoniusbüste repräsentiert.

Wie unendlich traurig ist das alles; doppelt traurig und kläglich, weil es in Rom ist.

Natürlich wissen Peter Paul und Fräulein Friedrike um dieses trostlose Kopierwesen ihres Genies, verschweigen es aber ängstlich, hoffen jedenfalls, daß es mir verschwiegen bliebe, auch dann, wenn ich einmal in Steffens Atelier kommen sollte. Das hätte auch leicht geschehen können. Da er meinen Besuch erwartete, hätte er seinen Augustuskopf, das Modell sowohl wie die Kopien, leicht fortstellen können. Warum er das wohl nicht tat? Es ist fast, als hätte er es absichtlich unterlassen, als wünschte er, daß ich es sehen sollte. Ich bemerkte, daß er gespannt aufpaßte, welchen Eindruck diese Entdeckung auf mich machen würde. Ich sagte kein Wort; ich war viel zu traurig dazu. Auch vor seiner Gruppe vermochte ich kein Wort über meine Lippen zu bringen. Aber ich stand lange davor, und er ließ sie mich ungestört betrachten. Als ich mich endlich losriß und ihm wieder entgegentrat (ich fürchtete mich davor), vermied er, mich anzusehen, wofür ich ihm im stillen dankte.

Was hätte ich ihm auch sagen sollen?

Auf Fräulein Friedrike machte dieser mein Atelierbesuch starken Eindruck. In maßloses Erstaunen geriet sie über den Umstand, daß er mich aufgefordert, ja direkt gebeten hatte, zu kommen.

»Das ist noch niemals geschehen; ich versichere Sie, niemals! Er selbst forderte Sie auf, ihn zu besuchen? Was wird Peter Paul dazu sagen! Und er zeigte Ihnen seine Gruppe? Was für ein Gesicht machte er dabei? Was sagte er denn nur? Und Sie? Waren Sie nicht einfach sprachlos? Denn solch ein Werk ... Und auch das andre ließ er Sie sehen? Ich meine das, womit er sein Brot verdient. O liebes Fräulein Prisca! Aber nicht wahr, welch ein Mann, welch ein Genie! ... Nein, daß er selbst Sie aufforderte!«

Sie schaute mich an, als müßte sie an mir etwas ganz Neues und Seltsames entdecken, irgendeine sehr geheime Schönheit, deren Vorhandensein ihr bisher verborgen geblieben war, und die sie auch jetzt, gewiß zu ihrem größten Leidwesen, nicht finden konnte.

Aber sie machte mir zu meinem sprachlosen Erstaunen folgendes Geständnis:

»Stellen Sie sich nur vor, dieser seltsame Mensch; ich meine den Karl Steffens. Peter Paul hielt es für besser, Ihnen gar nichts davon zu sagen. Aber da er Sie jetzt selbst zum Besuch seines Ateliers aufgefordert hat, sehe ich nicht ein, warum Sie es nicht wissen sollen. Wenn er bei uns ist, spricht er immerfort von Ihnen – denken Sie nur! Und daß er jetzt in unsrer Trattorie mit den andern ganz menschlich zu Mittag ißt, geschieht auch erst, seitdem Sie dort sind. Wir wollten Sie wirklich gar nicht darauf aufmerksam machen. Was sagen Sie nur dazu? Peter Paul und ich, wir wissen gar nicht, was wir davon denken sollen, denn Karl Steffens und, nun ja, und ...«

Das gute Fräulein wurde über und über rot. Ich mußte hell auflachen.

»Es ist freilich undenkbar, daß Karl Steffens in eine andre verliebt sein sollte als in seine Principessa Maria. Und nun vollends in mich. Ich glaube, darüber können wir alle drei: Herr Peter Paul, Sie und ich vollständig ruhig sein.«

Sie beruhigte sich indessen gar nicht, sondern sprang von ihrem Stuhl auf, lief hin und her und schwatzte die sonderbarsten Sachen.

»Es wäre ja doch, o Gott! für den armen Menschen ein Glück. Eine Rettung wär's! Und gerade durch Sie! Denn Ihnen traue ich so etwas zu, solche Heldentat. Peter Paul sagt es auch. ›Sie ist so gesund,‹ sagt Peter Paul, ›so frisch, so stark. Sie könnte es fertig bekommen; sie kann alles fertig bekommen, was Kraft erfordert, und was gut ist.‹ Wahrhaftig, so sagte er von Ihnen ... Liebes Fräulein, ach, liebes Fräulein Prisca ...«

Ich lachte nicht mehr. Ich war plötzlich sehr ernst geworden.

Nein, ach nein! Ich hätte nicht die Kraft. Alle überschätzen mich. Und dann – eine Rettungstat? Wenn das Leben einer Frau nur dafür da sein sollte ... Still, meine liebe Lange, ganz still! Du bist auf dem besten Wege, den schönsten Unsinn zu reden. Dich braucht niemand zu seinem Glück, geschweige denn ein genialer Mensch zu seiner Rettung. Und würdest du einmal in die Lage kommen, irgendeinem guten Menschen in Wahrheit ernstlich helfen zu können, so – so solltest du dafür dem Himmel auf deinen Knien danken.

Aber das sind ja alles nur Phantasien.

In meinem Studio ist es immer noch bitter kalt, so daß ich mir nicht vorzustellen vermag, wie es darin jemals warm werden soll, zu warm! Auch arbeite ich jetzt weniger. Karl Steffens nimmt sich meiner mit großer Energie an, und ich habe dabei manche Stunde des Kampfes und der Sorge. Aber ich lerne. Bisweilen ist mir, als müßte ich alles, was ich weiß, was ich mühselig genug erlernte, erst wieder vollständig verlernen, um in seinem Geiste schaffen zu können.

Ich gehe jetzt häufig des Nachmittags aus, von einer mir unerklärlichen Unruhe aus dem Hause getrieben; ein Zustand, der mich vielleicht darum so übertrieben erregt und quält, weil er so gar nicht in meiner Natur liegt.

Noch etwas andres beunruhigt mich.

So oft ich Rom durchschlendere und dabei jedesmal etwas Neues und Merkwürdiges oder Wunderbares und Großartiges sehe und erlebe, entdecke ich plötzlich, daß ich mich gegen sechs Uhr im Korso befinde, und zwar in der Nähe der Ecke von Via della Vite.

Dort steht Karl Steffens!

Ich will nicht bleiben und bleibe doch; ich will nicht auf ihn achten, und achte doch auf ihn. Ich brauche ihn nur anzusehen, um zu wissen: Jetzt kommt sie!

Sobald mir die Veränderung, die in seinen Zügen vorgeht, ihre Nähe anzeigt, achte ich allerdings nicht mehr auf ihn. Ich bin dann nichts als Erwartung. Ich stelle mich so auf, daß ich sie gut betrachten kann. Übrigens fahren des Gedränges wegen die Wagen gewöhnlich sehr langsam. Ich starre sie an, und – sie sieht mich. Das heißt: sie sieht über mich hinweg nach Steffens hinüber. Aber ich fühle, daß sie weiß, wo ich stehe und daß ich sie anstarre, wie auch sie nach mir ausschaut.

Meine Einbildung ist sehr töricht, ganz unsinnig, aber es ist nun einmal so.

Töricht und unsinnig ist ferner meine Einbildung, daß sie mich nicht ausstehen kann, daß ich ihr geradezu verhaßt bin. Was weiß sie von mir, was kümmert sie sich um mich? Sehr wahrscheinlich ist ihr mein Anstarren lästig. Sie sollte dergleichen zudringliche Blicke allerdings gewöhnt sein, denn was ich tue, tut alle Welt, wo sie erscheint.

Einige Male traf ich unmittelbar vor der Korsostunde auf Steffens. Die Begegnung schien ihn zu ärgern, und er hätte mich wohl am liebsten geschnitten. Aber er überwand sich, redete mich an, ging sogar ein Stück Weges mit mir. Ich verwickelte ihn nicht ohne Absicht in ein lebhaftes Gespräch, und fast unwillkürlich entfernten wir uns von der für uns beide so gefährlichen Straße. Ich hatte dann gute Gelegenheit, zu bemerken, wie er von Minute zu Minute nervöser wurde. Aber er blieb. Wir sprachen nicht mehr viel zusammen, entfernten uns jedoch, wie in gegenseitigem Einverständnis, mehr und mehr von unserm täglichen Standplatz, bis es zu spät geworden war, um die Fürstin Romanowska Korso fahren zu sehen.

Dann atmete er tief auf, wurde gesprächig, sogar heiter und schien mir dankbar zu sein, als hätte ich ihn von einem Bann befreit.

Ach! Es war ja nur für eine einzige Stunde!

*

Ich habe die arme Fanni nicht vergessen. Mehrere Male ging ich zum Barberinischen Platz und stieg in dem häßlichen Hause die fünf engen, dunkeln, schmutzigen Treppen hinauf. Ein erstes Mal war sie nicht zu Hause; ein zweites Mal wurde ich sehr übellaunig von ihrer Signora empfangen und fortgeschickt, ohne Fanni, die mit den Kindern beschäftigt sei, auch nur einen Augenblick gesehen zu haben; und ein drittes Mal sagte mir der Cavaliere in eigner Person, er wünsche nicht, daß die »Bonne« Besuche empfinge.

Daraufhin schrieb ich ihr, erhielt jedoch keine Antwort. Jetzt weiß ich nicht recht, was tun. Helfen kann ich ja doch nicht ...

Der Karneval fängt an.

Auf der Piazza del Popolo werden Tribünen erbaut, denn es sollen dieses Jahr ausnahmsweise die »Barberi« laufen. Es ist etwas faul im einigen Königreich Italien, und da gestattet eine weise Regierung zur Besänftigung der erregten Gemüter und zum Gaudium der süßen Plebs in der Mitte der Stadt Pferderennen, ein Mittel, um ungezogene Kinder ein paar Stunden zu zerstreuen.

Im ganzen Korso sind Fenster und Ballone zu vermieten. Schlechte Zeuge, häufig mit häßlichem Theatergold ausstaffiert, schmücken die Brüstungen dieser Logen.

Nur wenige Familien der Aristokratie, die ihre Paläste am Korso haben, beteiligen sich am Karneval. Einige derselben hängen wirklich schöne, alte Stoffe aus: dunkelrote Damaste und Teppiche, und der Altan, von dem aus die Königsfamilie die klassische Volksbelustigung betrachten wird, ist ein einziges rosiges Blütennest.

Die Logen der reichen Fremden, die den römischen Karneval mitfeiern, sind an dem Luxus der Ausstattung leicht zu erkennen; aber nur wenige zeichnen sich durch Geschmack aus. In der Nähe der Piazza Lucina sah ich einen Balkon, der schön war: ganz aus weißen Azaleen gebildet. Ein freundlicher Römer, der mich bewundernd davorstehen sah, hatte die Liebenswürdigkeit, mir mitzuteilen, es wäre die Loggia der Fürstin Romanowska. Die Azaleen würden während der Dauer des Karnevals täglich erneuert und kämen direkt aus Nizza. Der höfliche Herr nannte mir auch den Preis, dessen Höhe auf ihn größeren Eindruck zu machen schien als die Anmut der Dekoration.

Jetzt kenne ich den Platz, wo während des ganzen Karnevals Karl Steffens stehen wird.

Peter Paul und Fräulein Friedrike bekümmern sich seit länger als zwanzig Jahren nicht mehr um den Karneval. Vor dreißig und vierzig Jahren konnte man ihn sich allenfalls noch ansehen. Besonders das Tanzen der Masken in den Osterien vor der Porta del Popolo und am Ponte Molle. Und schön waren damals noch am Abend die Moccoli: als wären alle Sterne vom Himmel herabgefallen und führten dort zwischen Dächern und Straßenpflaster einen Feuerregen auf. Das ist längst vorüber. Im modernen Rom ist der Karneval so gemein wie die ganze Schöpfung der modernen Barbaren. Von Romantik und Geist ist keine Spur mehr zu entdecken; es gibt nur noch Roheit und den schalen Witz alberner Pulcinells.

Auch ich will von dem lärmvollen Treiben möglichst wenig sehen, werde auf meiner schönen Höhe bleiben und arbeiten, arbeiten. Karl Steffens kommt täglich, nach mir und meiner Arbeit zu sehen. Sie entsteht unter seinem Einfluß, und ich bin noch einmal Schülerin geworden. Er hat eine große Kunst, zu lehren, und ich gewiß eine sehr kleine, zu lernen. Fräulein Friedrike lobt mich über die Puppen; doch will mich's bedünken, als ob Peter Paul leise seinen milden Kopf schüttelt. Und ich mache doch ungeahnte Fortschritte.

Hätte ich nur erst wieder etwas fertig, was ich nach München schicken könnte. Nicht um zu verkaufen, um Geld zu bekommen – ich habe noch Mammon genug, sondern um zu erfahren, wie meine neue Richtung dort drüben gefällt.

Ich fürchte, es dauert noch eine gute Weile, bis ich zu meinem Spediteur in der Via Condotti gehen und den Auftrag geben kann:

Ein Gemälde nach München. Per Eilgut.

Zwei- oder dreimal bin ich meinem Vorsatz dennoch untreu geworden – o Prisca Auzinger! – und nachmittags hinabgestiegen, um den römischen Karneval wenigstens etwas in der Nähe zu sehen; hatte jedoch keine Freude daran.

Eine Sache jedoch finde ich ganz allerliebst, und diese ist der Tanz der Modelle auf der Spanischen Treppe und der Terrasse vor dem Obelisken. Zum Gerassel der Tamburins tanzen sie den Saltarello, häufig auch Mädchen untereinander. Sie tanzen ganz anmutslos, aber es ist Stimmung darin; und in der Umgebung dieser schönsten Treppe, der üppigen Vegetation des kleinen Gärtleins, das an der Seite wie ein Geschmeide in das braune Gestein der Balustrade eingelassen ist, unter dem strahlenden Himmel in der schimmernden Luft – denn wir haben das schönste Wetter! – wirken die bunten, bewegten Gestalten, wie man es sich bei uns im Norden nicht vorstellen kann.

Gestern stand ich und schaute dem Tanz der Modelle zu, als unten auf dem Platz die Equipage der Fürstin Romanowska angefahren kam und gerade vor der Treppe hielt. Im Wagen saß nur die Fürstin, in einer ihrer weißen Toiletten, die ihr wunderbar stehen. Im Rücksitz befand sich ein großer, mit weißen Atlasschleifen und Azaleen geschmückter Korb, bis zum Rand mit Süßigkeiten gefüllt. Kaum gewahrten die Modelle die Equipage, als sie mitten im Tanze aufhörten und die Treppen hinabstürmten. Von allen Seiten kamen sie herbeigeeilt, was wunderhübsch aussah.

Der Schwarm umdrängte den Wagen, aus dem die Fürstin ihre Näschereien warf. Sie hatte dabei etwas so Bezauberndes, daß ich mich an ihrem Gesicht nicht satt sehen konnte und gar keinen Blick fand für die lustige Balgerei, die ringsherum entstand. Natürlich führte der hübsche Auftritt eine Menge Publikum herbei, darunter viele Masken und Pulcinells, die sich indessen in ziemlicher Entfernung hielten. Es fand sich wiederum ein höflicher Zuschauer, der mir berichtete, daß die Fürstin dieses Spiel vom ersten bis zum letzten Karnevalstage betreibe; und er erzählte mir bei dieser Gelegenheit ihre ganze Geschichte, wunderbar ausgeschmückt, aber ohne die geringste häßliche Randbemerkung und in heller Begeisterung über das Schicksal, welches aus einem so schönen Wesen eine so vornehme Dame gemacht hatte.

Heute sah ich sie dann im Korso in ihrer Loge unter den Zweigen der weißen Azaleen sitzen, in dem hellen, schneeigen Gewände, einen Strauß weißer Azaleen vor der Brust. Sie hatte heute jedoch ein ganz andres Gesicht als gestern nachmittag auf dem Spanischen Platz. Als ich sie heute ansah, vermochte ich mir gar nicht vorzustellen, daß sie gestern sogar gelächelt hatte. Auf den Mummenschanz, der unter ihr raste, warf sie keinen Blick, auch nicht, als ein Trupp junger Leute – ich glaube, es waren Studenten oder Künstler – ihrer Schönheit eine tumultuarische Ovation brachten. Unter ihrem Balkon entstand ein so lebhaftes Gedränge und Evvivarufen, als ob sie nicht die ehemalige Maria von Rocca, sondern die angebetete Königin Margherita wäre.

Auch Karl Steffens sah ich drüben stehen. Er war wieder sehr bleich.

Meinen jungen Siegfried sehe ich jetzt wenig. Er malt seine »Straße im modernen Rom« und ist bei so viel Schmutz und Häßlichkeit jedenfalls glückselig. Seitdem Karl Steffens so entschieden mein Freund und Lehrer geworden ist, geht er mir, ich merke es gar wohl, ebenso geflissentlich aus dem Weg, wie anfangs ich ihm. Ich möchte wissen, warum er mich plötzlich so auffallend meidet. Eifersüchtig braucht er doch wahrhaftig nicht zu sein. Daß meinetwegen jemals ein Mann auf einen andern eifersüchtig werden könne, davor bewahrt mich in Gnaden mein Gesicht, welches in manchen Dingen wohl mein Schicksal sein wird. Es setzte mich daher, etwas in Erstaunen, als er vor einigen Tagen, da ich vor meinem Studio an dem Torso einer antiken Jünglingsstatue malte – in neuer Manier, dritter oder vierter Versuch –, plötzlich geradeswegs auf mich zukam, eine Weile mir zusah und mir dann sehr ruhig und ernsthaft – auch bei ihm eine neue Manier – ungefähr folgendes sagte:

»Verzeihen Sie einem Fremden,« – nun, gerade ein Fremder ist er mir nun doch nicht! – »wenn er sich gestattet, Ihnen einen Rat zu erteilen. Aber ich meine es aufrichtig gut mit Ihnen. Sie besitzen etwas sehr Seltenes und sehr Kostbares, nämlich eine starke Individualität. Sie sind eine Persönlichkeit, und das nicht nur als Frau, sondern auch als Künstlerin. Aber Sie stehen momentan in Gefahr, und zwar in sehr großer: Ihre Individualität zu verlieren. Diese Studie mag technisch besser sein als Ihre übrigen Sachen, soviel ich davon sehen durfte. Aber diese Studie ist nicht mehr Sie selbst, sondern die Ihres Lehrers und Freundes Karl Steffens. Ich warne Sie und bitte nochmals sehr um Verzeihung.«

Dieses sagte er, als wäre er plötzlich gar nicht mehr mein junger Siegfried, sondern vom Scheitel bis zur Sohle Artur Freiherr von Schönaich. Er machte dazu auch ein ganz andres Gesicht. Dann verbeugte er sich und ließ mich stehen.

Was soll ich davon denken? Daß er ernstlich eifersüchtig auf Steffens ist? Das wäre eine ganz alberne Einbildung, die ich meines guten Glöckleins lieber Langen nun und nimmer zutraue und die einer gewissen Prisca Auzinger aus München ganz und gar unwürdig ist. Also Eifersucht ist es keinesfalls, vielmehr die aufrichtige Meinung eines treuen Freundes.

Ich bin sehr gerührt, sehr dankbar; aber ich glaube dem Manne nicht. Denn ich meine Individualität verlieren? Weil ich lerne? Endlich in Wahrheit lerne? Und daß ich mit Vorteil lerne, hat der Mahner selbst zugegeben.

Ich sehe also wirklich nicht ein, worin für mich die große Gefahr liegen kann. Ja, wenn ich auch in meiner Kunst echt frauenzimmerlich wäre! Aber das soll ich ja gerade nicht sein, werde mich also meiner Haut zu wehren wissen.

Eines tut mir aufrichtig leid: daß ich bei ihm verloren habe. Denn das habe ich entschieden. Und ich bin Frauenzimmer genug, um mir darüber allerlei krause Gedanken zu machen.


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