Richard Voß
Römisches Fieber
Richard Voß

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

16. Unter Zypressen

Wenige Tage darauf, eines frühen Morgens, verließ ein mit zwei Pferden bespannter, bequemer Wagen Rom durch die Porta San Giovanni. Der Wagen war geschlossen, und in seinem Innern befand sich ein mit aller Sorgfalt gebetteter todkranker Mann und ein junges, schönes Weib: Karl Steffens und Maria.

An dem Morgen, da sie Rom verlassen wollte, um sich irgendwo in Villeggiatur zu begeben, kam sie noch einmal in das Atelier; der Signor Carlo hatte am Abend zuvor ausgesehen wie ein Sterbender. Und wie er sie angeblickt hatte...

Maria fand die Tür verschlossen. Sie pochte laut und lauter; ihr wurde jedoch nicht geöffnet. Sie rief angstvoll, immer wieder, aber die Tür blieb zu.

Nun holte sie Leute, die Tür ward gewaltsam geöffnet, und die Eintretenden fanden den Künstler besinnungslos auf seinem Lager. Der sofort herbeigerufene Arzt erklärte den Fall für hoffnungslos.

Aber Maria gab die Hoffnung so leicht nicht auf. Sie blieb bei dem Todkranken, legte ihm fortwährend frische Eisbeutel auf die Stirn, gab ihm kleine Eisstückchen zu schlucken, wachte bei ihm, pflegte ihn wie eine Samariterin.

Am dritten Tage kam Steffens zur Besinnung, und der Arzt murmelte etwas von einem Mirakel.

»Wenn er jetzt aus Rom fortgeschafft würde? Aber sogleich?«

»Fortgeschafft? Bist du bei Sinnen? Er stirbt unterwegs.«

»Er stirbt nicht.«

»Also weißt du's besser?«

»Ich weiß, daß er nicht sterben wird.«

»Dann schaffe ihn fort.«

»Das will ich.«

»Mich geht die Sache nichts mehr an, hörst du?«

»Nein.«

»Du bist wohl seine gute Freundin?«

»Gewiss.«

»Schön ist dem Freund gerade nicht! Du wirst leicht einen andern finden können.«

»Vielleicht.«

»Auch einen Reicheren.«

»O ja.«

»Tu mit ihm, was du willst. Sein Tod kommt über dich.«

»Er wird nicht sterben! Er ist ein großer Künstler und ...«

»Und dein Liebhaber.«

»Und er darf nicht sterben.«

Sie bezahlte den menschenfreundlichen Arzt, der ihr ein unverschämtes Honorar abverlangte.

Steffens befand sich noch immer in demselben Zustand, darin die Welt und alle Dinge ihm nur Phantome waren. Maria hielt er für eine Erscheinung und sprach zu ihr, als hätte er eine Vision. Doch verfiel er bald darauf in einen tiefen Schlaf.

Maria fand in dem menschenleeren Hause endlich eine Frau, die sie bat, statt ihrer eine Stunde bei dem Kranken zu bleiben, bestellte bei dem nächsten Betturin für den andern Morgen einen Wagen und richtete alles für die Abreise ein; mit einer Sorgfalt, als wäre der brutto Tedesco in Wahrheit ihr Liebhaber, den sie auf das hingebendste, auf das leidenschaftlichste liebte: sie, das schöne, stolze Geschöpf, die Maria von Rocca.

So oft sie ihn angesehen, hatte sie denken müssen: ›Heilige Jungfrau, wie häßlich er ist! Du würdest sterben, wenn du ihn küssen müßtest.‹

Aber – er war ein großer Künstler, der nicht sterben durfte! So verließ sie denn mit ihm Rom.

Nachdem sie die vielen ländlichen Trattorien, die wenigen Villen und Villetten, die sich an der Via Appia Nuova befinden, hinter sich hatten, ließ Maria den Wagen halten und das Verdeck aufschlagen. Die Luft war rein und noch frisch und kühl und mußte dem Kranken gut tun.

Dieser lag mit geschlossenen Augen. Bisweilen bewegte er sich unruhig, murmelte einige Worte in seiner Muttersprache, flüsterte einen Namen, den er fort und fort wiederholte, den Maria fort und fort mit anhören mußte. Sie tat es mit unverminderter, liebevoller Sorge für ihren Patienten und mit ebenso unveränderter kalter und strenger Miene.

Es war eine eigentümliche Fahrt, die des Todkranken und seiner Pflegerin, durch die Campagna, über welche unabsehbar jene funkelnde, flammende Strahlendecke ausgebreitet lag, bis zu den Albaner- und Sabinerbergen, die bereits am frühen Morgen ein feiner, silberheller Dunst umbraute.

Durch die versengte Steppe zogen sich die braunen Bogenreihen der antiken Wasserleitungen. Aus verdorrtem Farnkraut und mannshohen, blassen Disteln erhoben sich die Ruinen von Landhäusern, Gräbern; mittelalterliche Wachttürme standen wie von der Zeit vergessene Posten inmitten dieses ungeheuern Kirchhofes, darauf ein Stück Weltgeschichte bestattet lag, mit all ihrem Ruhm und ihrer Herrlichkeit.

Und durch dieses Grabgefilde fuhr langsam der Wagen mit dem schwerkranken Künstler, den ein Weib dem Tode entreißen wollte ...

Alsdann stieg die Straße empor, und jetzt ward es wundersam. Mit jedem Schritte wich die traurige Wüste zurück, und ein grünes Sommerland öffnete sich, das ringsum die Höhen bedeckte, alle Täler füllte. Reben und Ölbäume, Ulmen und Eichen, Grün und Blumen, Gärten und Parks, freundliche Villen und prächtige Paläste, Lebensfülle und bacchische Daseinsfreudigkeit. Sie waren in Frascati angelangt.

Bereits nach einer Stunde war der Kranke bestens untergebracht bei einer freundlichen Witwe, Rosa Principini mit Namen, die in der Nähe des Grabmals von Lucull eine bescheidene Wohnung an Sommergäste vermietete. Das Zimmer, darin Steffens gebettet wurde, war groß und reinlich und hatte eine kleine Loggia, hoch über dem schönen Garten der Villa Lancellotti gelegen, über deren Blumenparterre, Wasserwerken und Steineichenalleen man weit hinaufsah auf andre prächtige Villen, andre köstliche Gärten, hinauf zu den klassischen Höhen Tuskulums, wo es sogar saftige Wiesen und tiefschattige, grüne Waldungen gab. Dazu wehte vom Meere, welches in weiter Ferne wie eine unendliche, glanzvolle Flur den ganzen westlichen Horizont abschloß, eine kräftige Brise herüber: in diesem Paradiese konnte der Mensch ja nicht sterben!

Und Karl Steffens blieb leben – dank der schwesterlichen Pflege Marias. Es dauerte lange, bis es entschieden war, und der bangen Stunden kamen viele. Aber die Samariterin verzweifelte und ermüdete nicht, und ihr fester Glaube behielt recht.

Sie galt den Frascatanern als dasselbe, was sie jenem redlichen Jünger Äskulaps gegolten hatte, und wurde, der strengen Landessitte gemäß, wie eine leichtfertige Dirne mißachtet. Nur ihre Mieterin, Sora Rosa, behandelte sie voll wahrhaft christlicher Nächstenliebe, die etwas Mütterliches hatte. Aber auch sie duldete nicht, daß die Römerin mit einer ihrer jungen hübschen Töchter zusammenkam.

So lebte denn Maria in einer Art von Acht. Sogar ein geistlicher Herr besuchte sie, um ihr in bester Meinung ins Gewissen zu reden. Als der fromme Mann gar vernahm, daß der Kranke ein Künstler und kein Katholischer, also kein Cristiano wäre, bekam sie böse Dinge zu hören.

Sie hörte alles an mit derselben unbeweglichen Miene, mit der sie die allgemeine Verachtung hinnahm: sie, die nicht für den Schmuck einer Herzogin eines Mannes Geliebte geworden wäre. Dabei mußte sie wieder und wieder denken: ›Wenn ich ihn küssen müßte – lieber sterben als ihn küssen!‹

Im übrigen blieb sie bei ihm, bis er völlig genesen war, aber auch dann ging sie nicht gleich.

*

Er war so weich, so dankbar, so glücklich! Wenn sie in sein Zimmer trat und ihm irgendeinen kleinen Dienst erwies, flog ein Glanz über sein Gesicht, daß selbst Maria es nicht mehr so abschreckend häßlich zu finden vermochte. Es ging ihm sofort besser, sobald sie bei ihm war; er wurde schlechter, wenn sie ihn verließ.

Als ihm später auf der Loggia ein Lager bereitet wurde und er hinaus konnte, Maria an seiner Seite, war es wirklich wie ein Auferstehen. Gerade gegenüber befand sich eine hohe Mauer, von der sich eine bunte Kaskade von spätsommerlichem Kaprifolium herabstürzte. Schwärme von Bienen und kleinen Insekten belagerten die farbigen Kelche mit einem Gesumm, das wie ferne, leise Musik erklang. Oh, war das schön!

Aber dann kam ein Tag, strahlend und wundersam wie die ganze Reihe der Tage der ersten Genesung, an dem Maria ihm mitteilte, daß sie ihn verlassen müsse; er sei auf dem Wege der Genesung, und Sora Rosa werde ihn pflegen, besser als sie selbst. Er sollte sich nur recht ruhig und verständig halten.

Er sagte kein Wort, sah sie nur an und – bekam am Abend einen schweren Rückfall! Also mußte sie noch bleiben.

Wiederum wurde er besser, aber jetzt wollte sie ihn nicht verlassen, nicht eher, bis kein Rückfall mehr zu befürchten war. Dann besserte er sich in kurzer Zeit so sehr, daß sie ihn ausführen konnte.

Von der Loggia aus hatte er auf der tuskulanischen Höhe, inmitten silberheller Öl- und Steineichenwipfel, welche Pinien und Zypressen überragten, ein schloßähnliches Gebäude erblickt, das ihn mächtig anzog; es hatte etwas so Geheimnisvolles und Besonderes, fast wie ein antiker Tempel in einem heiligen Hain. Dorthin ließ er sich von Maria geleiten, sobald seine Füße ihn den kurzen Weg zu tragen vermochten.

Sie fanden eine jener römischen Villen, die einem verwunschenen Schlosse gleichen, so märchenhaft schön, so unirdisch feierlich, daß Steffens unwillkürlich flüsternd sprach, wie um die Geister des Ortes nicht aus ihrem Zauberschlafe zu wecken.

Am Rande eines Teiches rastete der Erschöpfte. Um die regungslose Wasserflut standen Reihen alter Zypressen, deren Zweigen in der heißen Augustsonne ein Duft wie Weihrauch entströmte. Zwischen ihren Stämmen und Ästen glänzte das Meer herüber.

Steffens fand die Stätte so zaubervoll, daß er sich gar nicht losreißen konnte, täglich wiederkam, stets von Maria begleitet.

Er war zu dankbar, zu glücklich über ihre Gegenwart, als daß sie ihn hätte verlassen können.

So geschah es, daß unter den Zypressen der Villa Falconieri eine Mondnacht kam, die über Steffens' Leben entschied, die es vernichtete: das Leben des Menschen und des Künstlers, den Maria hatte retten wollen; denn nur dem Künstler hatte ihre große Liebestat gegolten, um den Menschen kümmerte sie sich nicht.

Wie es hatte geschehen können, daß sie in jener sommerlichen Vollmondnacht unter den Zypressen der Villa Falconieri den brutto Tedesco küßte, hatte sie selber niemals begriffen. Aber Karl Steffens begriff es – allerdings erst später, viel später.

*

Am nächsten Morgen war Maria fort: weder die gute Sora Rosa noch sonst jemand wußte, wohin. Ihre wenigen Sachen hatte sie einem Knaben zu tragen gegeben, der sie bis Grotta Ferrata begleitete. Dort hatte sie den Jungen abgelohnt und einen andern Träger genommen.

Weder das Zureden seiner Wirtin noch seine geringen Kräfte waren imstande, den Rekonvaleszenten zu hindern, das wonnige Frascati zu verlassen: er wollte Maria suchen – seine Maria, die ihn geküßt hatte.

Er suchte überall. Zunächst wandte er sich nach Rocca di Papa, aber dort wußte niemand etwas von ihr. Die Leute wollten ihn zu einer gewissen Pia Anna führen, welche die Maria einst gekannt hatte. Aber das Einstmals kümmerte Steffens nicht, und um ja keine Stunde zu verlieren, suchte er weiter. In Grotta Ferrata war sie gesehen worden und vielen aufgefallen, denn ihre außergewöhnliche Schönheit hatte selbst unter der Landbevölkerung Aufsehen erregt; doch wohin sie sich mit ihrem zweiten Träger gewendet, war nicht zu ermitteln. Es war ein Fremder, ein Ciocciare gewesen, der nicht mehr zurückkehrte.

Im ganzen Albanergebirge suchte Steffens vergebens nach der Verschwundenen. Dann begab er sich nach Tivoli, um seine Nachforschungen dort fortzusetzen, aber – vergebens. Er suchte in Palestrina, Olevano und Subiacco; selbst zu dem hohen Felsennest Saracenesco klimmte er hinan. Nirgends von ihr eine Spur! Jetzt erst kehrte er nach Rom zurück, aber auch dort war Maria von Rocca nicht zu finden.

Er nahm sich sofort ein andres Atelier, ein möglichst gesundes, auf jener lorbeerumgrünten Höhe vor der Porta del Popolo. Er durfte nicht wieder krank werden; denn er mußte Maria wiederfinden, seine Maria!

Inzwischen war's Herbst geworden, ein Herbst von solcher Heiterkeit und Herrlichkeit, als ob es wieder Frühling wäre. Gott Bacchus begann seine römischen Feste zu feiern. Zu dem jungen Wein, dem jungen Grün, den jungen Blüten kam neue Hoffnung, neues Leben und Glück vor dem Beginn des Winters.

Die Künstler kehrten zurück und zugleich mit ihnen die Modelle. Und es kamen die Fremden, die reichen Amerikaner und Engländer, welche Bilder und Statuen kaufen sollten.

Jeden frühen Morgen begab sich Steffens auf den Spanischen Platz.

»Wißt ihr etwas von Maria?« fragte er die Modelle.

»Von welcher Maria?«

»Von der Maria von Rocca natürlich.«

Sie wußten längst, wen er suchte; die Liebe des brutto Tedesco zur Maria von Rocca war längst eine bekannte Sache. Heilige Jungfrau, wie häßlich er war und dann so verliebt, obenein in die Maria von Rocca!

Aber sie wußten nichts von ihr. Sie würde schon wiederkommen, später als alle andern. Sie mußte ja immer etwas ganz Besonderes tun.

Plötzlich verbreitete sich unter dem bunten Völklein das Gerücht: Denkt nur, die Maria ist die Geliebte des brutto Tedesco ... Unmöglich ... Ja, ja!

Es gab einen Aufruhr, fast wie an jenem Morgen, als Maria zum erstenmal an der Spanischen Treppe erschienen war. Sie, die eine Dame hätte werden, die jeden Tag einen andern Hut hätte aufsetzen, jeden Tag in einem Wagen Korso hätte fahren können, und dann – es war nicht zu glauben.

Sie glaubten es aber doch; und je höher Signor Carlo durch das Unglaubliche in der Achtung der Spanischen Treppe stieg, um so tiefer sank Maria, weil sie, ohne den Schmuck einer Herzogin dafür zu erhalten, sich von dem häßlichen Deutschen hatte küssen lassen.

Eines strahlenden Oktobermorgens war sie wieder da, so schön und stolz wie immer. Nein, noch viel stolzer.

Auch dieses Mal lief das Völklein bei ihrem Anblick zusammen, aber es drängte sich nicht um sie. Ganz einsam stand sie da in ihrer Schönheit und in ihrem Stolz: mutterseelenallein, ausgestoßen, geächtet.

Noch am selben Nachmittag fand sie Arbeit, und bald lebte sie genau so wie früher; nur daß sie in Bann getan war und einsam blieb.

Als Steffens die große Neuigkeit vernahm: die Maria von Rocca ist wieder da, eilte er in die Nähe ihrer Wohnung und wartete dort an der alten Stelle auf sie, bis sie nach Hause kam. Sie sah ihn stehen, ging aber ruhig weiter, wollte ruhig an ihm vorübergehen. Aber er trat ihr in den Weg, und bleich wie ein Sterbender sprach er sie an:

»Maria! Ich habe dich gesucht. Warum verließest du mich, wo du mich doch geküßt hast? O Maria, wie ich dich gesucht habe, wie ich dich liebe!«

Sie erwiderte nichts, sah ihn nur an.

»Ich liebe dich, Maria! Hörst du, ich liebe dich. Ich sterbe an meiner Liebe zu dir. Du hattest damals Erbarmen mit mir, du wirst jetzt Erbarmen mit mir haben. Ich werde ein berühmter Künstler werden, ich werde Großes leisten, wenn du mein Weib bist. Werde mein Weib!«

Nichts erwiderte sie, nur daß sie ihn immerfort ansah.

»Maria, Maria!«

Und da sie beharrlich schwieg, immer wieder ihren Namen:

»Maria, Maria!«

Sie ließ ihn auf der Straße stehen, ohne ein Wort. Ihr Blick nur hatte ihm erwidert:

Niemals!

*

Zunächst hoffte Steffens noch immer, bis er endlich einsehen mußte, daß es für ihn keine Hoffnung mehr gab. Zugleich erkannte er, warum sie ihm jenen einen seligen Augenblick unter den Zypressen geschenkt hatte: aus Mitleid! Als er das erst erkannt hatte, versuchte er nicht mehr, ihr in den Weg zu treten, um sich schweigend von ihr anschauen zu lassen. Aber etwas in ihm blieb zerstört, und der schwarze Schatten der schönen Totenbäume bedeckte sein Leben mehr und mehr.

Aber besaß er nicht sein Werk? Dort stand es vollendet vor ihm. Nein! Noch war's nicht vollendet. Solange Marias Bild noch eine Gestalt aus Gips war, so lange hatte sie kein ewiges Leben, und das sollte sie haben.

In Marmor sollte ihr Bild aus der toten Masse des Gipses zum Leben erstehen.

Um ihr diese Vollendung zu verschaffen, verkaufte sich Karl Steffens.

Er begab sich zu einem Bildhauer, der, nicht anders wie eine Pariser Novität, gerade zu höchst in der Mode stand, und dessen Atelier in einigen Prachtsälen des Palazzo Borghese eine pompöse Kaufhalle war. In diesem mit seltenen Gobelins und kostbaren Teppichen, mit herrlichen alten Stoffen und Waffen, mit Boulemöbeln und Spiegeln, mit Palmen und blühenden Gewächsen königlich ausgestatteten Magazin standen die Kunstwerke aufgestellt, als ob sie mit zu der glanzvollen Einrichtung gehörten. Es gab Kunstwerke von allen Arten, zu allen Größen, allen Preisen, in allen Stilen; nach der Antike und nach dem Cinquecento, modern und hochmodern, Kunstwerke in Marmor und Alabaster, in Bronze und aus farbigem Stein oder auch nach antiker Manier in Gold und Elfenbein. Alle diese Statuen und Statuetten, diese Gruppen und Genrebilder waren mit dem Namen des Mannes gezeichnet; sie zu bewundern und zu kaufen kamen die Millionäre aller Nationen, kamen Herzoge, Fürsten und gekrönte Häupter. Und zu diesem gefeierten Künstler und großen Manne kam Karl Steffens.

Maria di Mariano, der neapolitanische Fischerssohn, empfing den deutschen Künstler in seinem Privatatelier, wo nur den Intimen oder einzelnen Bittstellern Zutritt gewährt wurde. Dieser Raum war, wie jede richtige Bildhauerwerkstatt sein muß, nackt und kahl, mit einem Haufen Ton, Modellierwachs, einem Podest für das Modell und einigen angefangenen Arbeiten. Der große Mann trug ein weites Beinkleid aus grauem Velvet und einen Kittel aus schneeweißem Wollstoff; eine Seidenschnur diente als Gürtel. Er sah aus, wie junge Damen sich den Masantello in der »Stummen von Portici« vorstellen.

Ohne sein Modellierholz aus der Hand zu legen, fragte der große Mann mit einem leichten Nicken:

»Was wünschen Sie?«

»Ich möchte mich Ihnen vorstellen.«

»Wer sind Sie?«

»Ein Künstler.«

»Bildhauer?«

»Ja«

»Und Deutscher?«

»Allerdings.«

»Was wollen Sie von mir? Ich kann arme Bildhauer nicht unterstützen, Rom wimmelt davon, und alle kommen sie zu mir. Ich bedaure also. Übrigens, warum gehen Sie nicht zu Ihren berühmten Landsleuten, den Professoren Kopf und Gerhardt?«

»Die Herren würden mir nicht helfen können, auch gar nicht helfen wollen.«

»Weshalb nicht?«

»Oh, das sind selbständige Künstler ...«

»Wie meinen Sie das? ... Noch einmal: ich kann Sie nicht unterstützen.«

»Ich suche bei Ihnen auch keine Unterstützung.«

»Sondern? Sie sehen, ich habe zu tun.«

Er hörte in seiner Arbeit auf und warf dem deutschen Künstler einen prüfenden Blick zu. Jetzt wurde er aufmerksam. Der junge Mensch sah aus, als müßte es ihm schlecht gehen. Je nun, es ging in Rom vielen Künstlern schlecht, besonders deutschen. Sie waren so unpraktisch. Und dann: die römische Sonne, der Wein und die Frauen stiegen so vielen gleich zu Kopf, was ihnen dann vollends den Rest gab. Bisweilen konnte das ganz angenehm sein, und dieser eine sah ganz danach aus, als ob er Talent hätte.

In einem etwas verbindlicheren Ton wiederholte der große Mann seine erste Frage:

»Was also wünschen Sie von mir?«

»Sie müssen kommen und meine Arbeiten ansehen. Allerdings habe ich nur sehr wenige zu zeigen.«

»Das kann ich mir denken. In Rom arbeitet es sich schwer.«

»Leider.«

»Die alte Geschichte. Und zu welcher Zeit soll ich mir Ihre gesamten römischen Werke betrachten?«

»Sollten Ihnen meine Sachen gefallen, so möchte ich Sie bitten –«

»Gehen Sie zu einem Kunsthändler, mein Lieber.«

»Und sollten Ihnen meine Sachen sehr gefallen, so möchte ich Sie bitten, mir Arbeit zu geben.«

»Arbeit? Die besten Punktierer der Welt sind bekanntlich Italiener.«

»Sie sollen mich auch nicht als Punktierer beschäftigen. Überdies bin ich ein selbständiger Künstler.«

»Nun also! Ich kann Sie wirklich nicht brauchen.«

»Vielleicht doch ...«

»Wenn ich Ihnen aber sage ...«

»Überlegen Sie sich's. Aber erst kommen Sie und sehen Sie meine Arbeiten. Ich heiße Karl Steffens und wohne vor der Porta del Popolo bei der Villa Borghese. Sie brauchen nur nach Signor Carlo zu fragen.«

»Befinden Sie sich denn wirklich in so großer Not?«

»Möglich. Jedenfalls möchte ich von Ihnen beschäftigt werden, trotzdem ich ein selbständiger Künstler bin und ein schlechter Punktierer.«

»Ich werde Sie nicht brauchen können; aber Ihre Sachen will ich mir ansehen.«

»Bald?«

»Wenn ich gerade etwas Zeit habe. Ich bin sehr beschäftigt.«

»Das glaube ich wohl; alle Ihre Werke ...«

»Guten Morgen, Signor Carlo!«

»Ich empfehle mich Ihnen, Herr Cavaliere.«

»Commendatore, wenn ich bitten darf.«

»Herr Commendatore, ich empfehle mich Ihnen.«

Bereits am dritten Tage nach dieser Unterredung erschien der Herr Cavaliere – Pardon, Commendatore Mario di Mariano, dem sein wohlverstandenes Handwerk ein Atelier im Palazzo Borghese und eine Equipage eintrug, im Studio des in Not geratenen deutschen Bildhauers Karl Steffens. Er kam jedoch nicht in seinem Wagen, sondern bürgerlich bescheiden zu Fuß; auch war die Dämmerstunde bereits angebrochen.

Karl Steffens zeigte ihm einige Entwürfe, über die der Herr Commendatore kein allzu günstiges Urteil fällte – es lautete sogar ähnlich dem der Herren Preisrichter verschiedener Konkurrenzen. Aber der große Mann ward wenigstens leicht interessiert.

Er sah sich diskret in dem Studio um.

Zu nackt, zu kahl, entschieden sehr armselig.

Das war ein Gegensatz! Jene prächtigen Kaufhallen im Palazzo Borghese und dieser armselige Raum!

Beinahe teilnahmsvoll erkundigte sich der große Mann:

»Sonst haben Sie mir nichts zu zeigen?«

»Nein, sonst nichts.«

»Das ist allerdings wenig.«

»Wie ich Ihnen sagte.«

»Mir tut es leid, daß Sie mir nichts mehr zu zeigen haben ... Was haben Sie dort hinter dem Vorhang?«

»Das lassen Sie nur dahinter!«

Aber der große Mann war bereits hinzugetreten und hatte den Vorhang mit raschem Griff zurückgezogen.

Er tat einen Ausruf:

»Die Maria von Rocca! Ihnen hat die Maria von Rocca Modell gestanden? Übrigens ist diese Gruppe ...«

Der große Mann sprach nicht aus, was diese Gruppe war. Steffens riß ihm den Vorhang aus der Hand und machte dazu ein solch beleidigtes, wütendes Gesicht, daß der Herr Commendatore sich sehr bald verabschiedete. Er tat es in fast höflicher Weise: Steffens kam es nachträglich so vor, als hätte der große Mann den Hut vor ihm gezogen.

Schon am nächsten Tage schickte er Karl Steffens seine Vorschläge. Gerade sehr glänzend waren sie nicht, da der deutsche Bildhauer sich in sichtlicher Notlage befand. Überdies mußte der junge Mensch ein Narr sein; er konnte ein solches Werk schaffen und in Not geraten!

Der Commendatore Mario di Mariano hätte nie ein solches Wert schaffen können; dafür war er indessen längst aus jeder Not heraus.

Karl Steffens nahm die Vorschläge ohne weiteres an. Sie mußten – das war eine Bedingung gewesen – zwischen ihm und seinem berühmten Arbeitgeber tiefes Geheimnis bleiben.

Jetzt arbeitete Karl Steffens für einen andern! Hatte er früher schon die Menschen gemieden, so wich er ihnen jetzt mit einer krankhaften Scheu aus, namentlich seinen Kollegen. Er schämte sich vor den Leuten, namentlich vor seinen Kollegen. Nur dem wackern Peter Paul und der Signorina Rica entkam er nicht. Diese beiden alten Römer hatten mehr als die andern von seiner Geschichte gehört, ihn in ihre menschenfreundlichen, warmen, gütigen Herzen geschlossen, sich fest vorgenommen, an sein Genie zu glauben und ihren heimlichen Liebling, den sie durchaus nicht für den häßlichsten der Menschen hielten, für ihre treue, teilnahmsvolle Freundschaft zu erobern. Letzteres hielt schwer genug, aber es gelang. Selbst diese einsame, trotzige und leidende Seele, welche die Zypressen der Villa Falconieri mehr und mehr mit Dunkel erfüllten, konnte so viel Güte und Kindereinfalt auf die Dauer nicht widerstehen.

Also Karl Steffens arbeitete wieder und zwar so stark, daß er sich nichts andres gönnte, als eben diese Arbeit für den Ruhm und Gewinn eines andern. Trotz seines Fleißes blieb sein Verdienst gering, und davon wurde fast alles zurückgelegt zu einem geheimen Zweck.

Es war schon damals, daß Karl Steffens die große Entdeckung machte, wie der Hunger in Rom leichter zu ertragen sei als irgendwo anders; und damals hätte er sich noch ganz gut wenigstens sattessen können.

So vergingen volle zwei Jahre. Gegen Schluß des zweiten Jahres seiner unwürdigen Fronarbeit überzählte Steffens sein Erspartes, und da er die Summe groß genug fand, setzte er sich auf der Stelle hin und schrieb dem Herrn Commendatore Mario di Mariano zwanzig Worte, darin er den großen Mann ersuchte, seine kostbare Gunst fortan einem andern notleidenden Künstler zu erweisen, es gäbe deren genug in Rom.

Noch am selben Tag kam der große Mann in eigner Person, um ihm einen Antrag zu machen, der beinahe glänzend war.

Aber der glänzende Antrag wurde zurückgewiesen.

»Sie werden sich die Sache überlegen.«

»Schwerlich.«

»Sie könnten so töricht sein?«

»Vielleicht.«

»Es wäre sehr unklug von Ihnen.«

»Möglich.«

»So nehmen Sie doch Vernunft an!«

»Gewiß nicht.«

»Sie sind verrückt, mein Lieber.«

»Bin ich schon längst.«

»Überlegen Sie! Überlegen Sie!«

»Empfehle mich Ihnen.«

Der große Mann entfernte sich in hellem Ärger und Zorn, aber: diese Deutschen sind eben zu unpraktische Leute.

*

Wiederum eine lange Zeit unermüdlicher Arbeit, in welcher einige flüchtige Sonnenstrahlen die Zypressenschatten durchbrachen.

Zunächst begab Karl Steffens sich nach Carrara und durchsuchte die berühmten Brüche, wo vor ihm ein Größerer hatte leuchtende Blöcke schlagen lassen, denen er machtvolle Gebilde entriß, ein Geschlecht, das ihm gleich war. Endlich fand auch er den Marmor, der ihn würdig dünkte, daraus die Gestalt der Geliebten zu bilden. Das prächtige Stück wurde bar bezahlt und nach Rom transportiert. Ein fast glückliches Jahr begann. Bei seiner neuen Tätigkeit schien Karl Steffens ein andrer zu werden: ein geretteter Mensch, ein geretteter Künstler. Er wurde sogar weniger scheu und einsam; brauchte er sich doch vor den Leuten, namentlich vor seinen Kollegen, nicht mehr zu schämen.

Keine fremde Hand durfte an den Stein rühren. Von Anbeginn an wollte er sein Werk neu schaffen und es bis zum Allerletzten selbst vollenden.

Während dieser ganzen Zeit sah er Maria nicht, wollte sie gar nicht sehen. Solange er ihr Bildnis für alle Zeit in Marmor verklärte, sollte sein Blick nicht auf ihre irdische Gestalt fallen.

Dann kam ein großer, feierlicher Tag: auch in Marmor war sein Werk vollendet!

Er reinigte die Werkstatt, kaufte einen Vorhang aus alter genuesischer Purpurseide, der die Gruppe verhüllen und den nur seine Hand heben sollte, streute rings um die »Tochter der Semiramis« rote Rosen und hielt davor stille Sonntagsruhe. Abends ging er hinaus in die stolze, einsame Campagna, und in diesem hehren Gefilde, wo Erdenleid klein wird, besprach er sich mit seinem innersten Menschen.

Ja, er wollte ein neues Leben beginnen, ein erstarktes, geläutertes, in Wahrheit gerettetes Leben. Und wiederum war es durch Maria gerettet.

In der Nacht kehrte er hungrig und durstig in die Stadt zurück. Er ging durch den Korso, kam am Café di Roma vorüber, ging hinein und bestellte sich ein bescheidenes Festessen. Das vornehme Lokal war ziemlich leer von Gästen, nur an einem Tisch vor einer der großen Spiegelscheiben, die nach San Carlo hinausgehen, befand sich eine Gesellschaft junger Leute aus dem römischen Highlife. Sie tranken Sekt und besprachen aufgeregt die neueste Sensationsnachricht des Tages.

Der Fürst Romanowski, ein Mann aus polnischem Herrengeschlecht, immens reich, der Inbegriff eines Grandseigneurs in jeder Beziehung, hatte – und zwar am Morgen des nämlichen Tages, ein römisches Modell geheiratet, die schöne Maria von Rocca. Die soeben erschienene Abendnummer der »Tribuna« hatte eine lange Depesche gebracht über die in einem kleinen Ort bei Nizza vollzogene Trauung des interessanten Paares. Ganz Rom war überrascht und erregt.

Einer der jungen Leute las den Artikel in der »Tribuna« laut vor.

»Die Maria von Rocca!«

»Sie soll übrigens wirklich süperb sein!«

»Und wirklich tugendhaft.«

»Unsinn!«

»Ich versichere euch.«

»Unsinn, sage ich!«

»Bist du etwa so glücklich gewesen?«

»Leider nein. Irgendein Künstler war glücklicher als meine Wenigkeit.«

»Ich glaube, es war ein Deutscher.«

»Was die Frauen an diesen Germanen finden!«

»Blondes Haar, blaue Augen zu schwarzem Haar und dunkeln Augen. Voilà tout! Der beneidenswerte Bursche soll überdies märchenhaft häßlich sein.«

»Sie wird an ihm le beau du laid entdeckt haben ... Im übrigen, wie gesagt, durchaus tugendhaft.«

Man nahm das »im übrigen« für einen famosen Witz und lachte laut.

Plötzlich trat an dem heiteren Tisch tiefe Stille ein. Ein langer, hagerer junger Mann stand vor den vergnügten jungen Leuten. Sein auffallend häßliches Gesicht war mit Sommersprossen bedeckt, er hatte starkes, rotblondes Haar und trug eine Brille, durch die zwei grüne Augen – sie waren wirklich grün, die elegante Gesellschaft fixierten. Der junge Mensch war miserabel angezogen, geradezu miserabel! Nur ein Deutscher konnte sich so anziehen und nur ein Künstler.

Diese seltsame Gestalt sagte in herzlich schlechtem Italienisch, aber mit eisiger Ruhe:

»Verzeihen Sie, wenn ich störe. Aber die Herren sprechen so laut, etwas zu laut. Und da möchte ich Ihnen bemerken, daß Sie unverschämte Verleumder sind!«

Die jungen Leute, die sich der Königin Margherita gegenüber ohne Spur von Befangenheit benahmen, fühlten sich bei dieser Anrede des miserabel gekleideten Fremden seltsamerweise etwas verlegen. Der geistreiche Jüngling, der vorhin den famosen Witz gemacht hatte, versuchte zwar laut aufzulachen, es klang jedoch etwas krampfhaft.

Endlich bemerkte ein andrer, und er traf den Ton prachtvoll insolent:

»Wie können Sie sich unterstehen! ... Übrigens, wer sind Sie denn eigentlich?«

»Das sagt Ihnen vielleicht mein Gesicht, darin Sie möglicherweise auch eine Entdeckung machen könnten. Übrigens bleibe ich dabei, daß Sie und Ihre Herren Kollegen gemeine Verleumder sind. Sollten Sie eine nähere Begründung meines Urteils wünschen, so stehe ich Ihnen morgen vormittag Schlag zwölf Uhr in diesem Lokal zur Verfügung. Einstweilen ...«

Er grüßte mit einem verächtlichen Nicken, kehrte an seinen Platz zurück, ließ sich die »Tribuna« bringen, las langsam, trank seinen Wein, zahlte und entfernte sich. An dem Tische der eleganten jungen Leute blieb es unterdessen auffallend still. Es schien heute schon sicher, daß die Jünglinge eine nähere Begründung von seiten des groben Germanen kaum wünschen würden.

Aber – wie miserabel der Bursche angezogen war!


 << zurück weiter >>