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Die römische Campagna!
Die christlichste Seele konnte beim Hochamt nicht andachtsvoller durchschauert werden, als es jetzt Prisca geschah. Sie durchfuhr eine Galerie von Rottmann, Preller, Claude Lorrain, die Wirklichkeit geworden war.
Die weite, wüste Steppe mit den Herden silbergrauer, mächtig gehörnter Rinder und langmähniger Pferde, welche, vor dem Bahnzug in wilder Flucht davonjagend, von dem berittenen Hirten im schwarzen, flatternden Mantel, mit lanzenähnlichen Stecken zusammengehalten wurden ... Das zerrissene gelbe Tiberbett mit den olivenfarbenen Wogen und der Wildnis vertrockneter Farnkräuter am Ufer ... Tiefe, geheimnisvolle Schluchten voll dunkeln Lorbeers, darunter gewiß ein Nymphlein schlummerte, ein junger Faun die Flöte blies ... Braune, steile Hügel mit braunem, altem Römergemäuer, welches langsamen, lautlosen Fluges Falken umkreisten ... Das schimmernde Sabinergebirge mit seinen hochgelegenen trotzigen Bergstädten, inmitten der Felsenwildnis und Einsamkeit ...
Und Prisca gedachte ihres armen Vaters, dessen Sehnsucht bis zu seiner Todesstunde »dahin, dahin« gestrebt hatte.
Dann verwilderte Gärten, dunkle Haine. Hier Pinien, dort Zypressen! Verlassen aussehende Landhäuser mit zerbrochenen Marmorbildern. Ruinen. Immer wieder Ruinen. Mehr und mehr! Der zertrümmerte Bogenbau einer antiken Wasserleitung. Unmittelbar neben der Bahn blaues Basaltpflaster einer antiken Landstraße. Volk der Sabina zu Fuß, zu Pferd, im zweiräderigen bunten Karren. Die Albanerberge mit einem leuchtenden Städtekranz. Noch immer Ruinen! Und dann – ja dann war Prisca Auzinger in Rom.
*
Das Getöse des römischen Lebens betäubte sie, der Eindruck der modernen häßlichen Straßen bewirkte einen traurigen Rückschlag ihrer bis zum Himmel gehobenen Empfindung. Mechanisch wiederholte sie die Adresse, die ihr hellockiger Landsmann ihr auf dem Perron beim Abschied zugerufen hatte. Es war eine Atelieradresse: Villa S... vor der Porta del Popolo.
»Dort sehen wir uns wieder, Kollegin!«
Und der ganze Mensch hatte sie angelacht und angeleuchtet wie römischer Sonnenschein.
Aber Prisca wäre über die »Kollegin« fast zornig geworden. Denn sie, die Tochter Joseph Auzingers, das geistige Patenkind des alten Rottmann, die Kollegin eines Menschen, der nach Rom ging, nur weil er für Rom ein staatliches Stipendium erhalten hatte; eines Menschen, der nicht die Sixtinische Kapelle, nicht die Stanzen besuchen würde, denn: »Wozu?« Prisca die Kollegin eines Menschen, der ein Künstler sein wollte, und zwar ein leidlich guter, und dabei solche Lästerungen wider den heiligen Geist ausstieß? Noch dazu mit solchem Gesicht!
Schon in München hatte Prisca mit Hilfe ihres lieben Glöckleins jedes im Bädeker verzeichnete römische Gasthaus einer so eingehenden Betrachtung unterzogen, als das ein bloßer Name nur irgend zuließ. Das Glöcklein war zuerst für das Albergo der »Minerva« begeistert, weil diese so wohltönende Fremdenherberge Eigentum einer geistlichen Genossenschaft war. Als es aber vernahm, die »Minerva« gehörte dem Jesuitenorden, legte sich ihr Enthusiasmus vollständig, und Priscas Hofdame sprach ihre heilige Überzeugung dahin aus, daß in dem Gasthause zur männlichen Heidengöttin junge unbeschützte Damen von den Jesuiten mittels Maccaroni und Risotto vergiftet würden.
Schließlich hatte man sich in der Solitude über ein bescheideneres Absteigequartier dritten Ranges in der Via Bocca di Leone geeinigt, eine Straße in unmittelbarer Nähe des Korso und des Spanischen Platzes: des Spanischen Platzes, liebes Glöcklein, mit der berühmten Spanischen Treppe! Sie mußte ihrer kleinen Anstandsdame den Namen der Straße in ihr geliebtes Deutsch übertragen: Bocca di Leone: Löwenrachen. Darob war großes Jammergeschrei entstanden: der Szylla des Jesuitenhotels glücklich entronnen, sollte ihre liebe Lange ein Opfer der Charybdis und direkt vom Rachen des Löwen verschluckt werden. Aber Prisca beharrte auf ihrer Wahl.
Ein schmales Zimmer, mit Ziegelsteinen gepflastert, mit grellroten Vorhängen, goldgelben Möbelbezügen und einer gewaltigen eisernen Bettstatt, dunkel und öde. Ach, und kalt, eisig kalt ... Aus ihrem Fenster, dessen Scheiben von der Gottesgabe des Wassers nichts wußten, blickte Prisca durch einen Schleier von Staub und Schmutz in einen engen Hof hinab, dessen graues Mauerwerk von oben bis unten mit aufgehängter Wäsche drapiert war. Aber aus der Tiefe leuchtete ein über und über mit scharlachroten Blüten bedeckter hoher Kamelienbaum zu ihr herauf, und in einen altrömischen Marmorsarkophag fiel aus dem Munde einer antiken Maske ein Wasserstrahl rauschend nieder.
Wunderbar und wundervoll war auch die Mahlzeit in dem echt römischen Gastzimmer des kleinen Albergo. Es war eine wahre Wonne, mit dem braunen, schlanken Knaben, der sie bediente, in ihrem besten Italienisch zu plaudern. Sogar die römische Speisekarte vermochte sie so ziemlich zu entziffern. War das ein Stolz! Etwas schmerzlich empfand sie allerdings, daß ihr statt der sehnlich erwarteten Suppe eine merkwürdig süße Speise: »Zuppa inglese« oder »betrunkener Zwieback« als erstes Gericht vorgesetzt wurde. Aber mit den Maccaroni hatte sie es durchaus richtig getroffen. Und welch ein aufgehäufter Teller! Und dazu der rote Wein von den Castelli romani in einer winzigen, strohumflochtenen Flasche. Und das Dessert, bestehend aus in Italien gepflückten Orangen, in Italien getrockneten Feigen ...
Über Wein und Dessert machte sich Prisca heftige Gewissensbisse. Aber die Ankunft in Rom mußte doch gefeiert werden!
Eigentlich war es eine Schande, in Rom zu sein und in einem häßlichen, dunkeln Zimmer zu sitzen und wie ein Werwolf zu essen. Zum Glück waren es Maccaroni alla napolitana – einen Kalbsbraten hätte sie sich niemals verziehen.
Auch mußte sie gleich bei dieser ersten Gelegenheit die beunruhigende Entdeckung machen, daß sie ihren Münchner Appetit auch nach Rom mitgebracht hatte.
Aber dann eilte sie hinaus.
Es dämmerte bereits: die Dämmerung des Südens mit ihren durchleuchteten Schatten und einem in flammendem Abendrot stehenden Himmel, dessen Widerschein die hellfarbige Tünche der Häuser, den goldigen Travertin von Kirchenfassaden, Palästen und Ruinen in Gluten auflodern ließ.
Gleich einer goldenen Himmelsleiter lag vor Prisca die Spanische Treppe, gekrönt mit dem Obelisken des Augustus und der Kirche Trinitá dei Monti, von einer feurigen Aureole umflossen. Die bunten Gestalten der römischen Modelle, die auf den Treppen ihr munteres Wesen trieben, erschienen ihr wie die Bewohner einer andern Welt. Das Plätschern und Rauschen des Brunnens auf dem Platz; die Menge der von der Korsofahrt heimkehrenden Wagen und schönen Equipagen; die vielen Blumenverkäufer mit den wandelnden Blumenbeeten auf dem Kopfe; das Gedränge der Spaziergänger aller Nationen – alles steigerte die unirdische Stimmung, darin sie sich befand.
Immer wieder aber bestaunte sie diese Blumenfülle mitten im Winter. Welche Massen von Blumen, die ihr angeboten wurden, die sie alle hätte kaufen können: Narzissen und Anemonen, Rosen und Kamelien, Azaleen und Veilchen, einen ganzen deutschen Frühling von Veilchen! Sie ging durch die Condottistraße und gelangte auf den Korso, den eine doppelte Reihe von Equipagen füllte, und den Massen von Fußgängern sperrten. Im Gedränge eingekeilt, stand Prisca und sah die Schönheiten der römischen Aristokratie in den Wagenpolstern lehnen, mit jener göttlichen Anmut, davon sie selbst nichts, gar nichts, besaß und die sie doch so ganz gefangennahm.
Dann ließ sie sich von dem Menschenstrom der Richtung zutreiben, wo, wie sie wußte, Kapitol und Forum lagen. Sie fragte möglichst oft nach dem Wege, und wäre es auch nur gewesen, um die Laute der fremden Sprache zu hören, dieser Sprache, die schon so viele Herzen berückt und berauscht hat, für so viele zum verderblichen Sirenengesang geworden ist.
Um sich herum hörte sie Französisch, Englisch, Deutsch sprechen, was sie in Empörung versetzte; namentlich ihre eigne Muttersprache deuchte ihr unleidlich. Sie war doch nicht nach Rom gekommen, um Deutsch reden zu hören: Norddeutsch und Sächsisch!
Die Dunkelheit war angebrochen, als sie zwischen Palmen und Blütenbüschen zu dem feierlichsten Platze Roms emporschritt. Die Finsternis erhöhte das Geheimnisvolle der unbekannten Stätte.
Der Mann auf dem bronzenen Pferde war also Marc Aurel, und jene majestätische Treppe vor dem Senatorenpalast, diese lange, festliche Säulenhalle des andern, den engen Raum abschließenden monumentalen Baues, hatte Michelangelo erdacht ...
Und jetzt stand Prisca über dem Forum.
Unter ihr lag die Größe der römischen Welt in Trümmer zerschlagen; feierliche Säulen stiegen, wie einsame stolze Menschengeister, aus Verwüstung und Verfall zu einem strahlenden Sternenhimmel empor.
Ihr gegenüber der gigantische Schattenriß des Kolosseums und schmal und lang, ein Ruinenberg darauf die Wipfel von Palmen und Zypressen scharf von dem hellen Himmel sich abhoben.
Der Palatin!
Und Prisca dachte bei diesem Anblick, daß sie, die Glaubensstarke, eine Wallfahrt angetreten habe und im Allerheiligsten angelangt sei. Ihre demütige, sehnsüchtige Seele warf sich der Gottheit zu Füßen und flehte um Kraft für den Kampf, den sie bestehen wollte; für den Kampf, sich selber treu zu bleiben bis zum letzten Atemzuge.
Und in ihr tief erregtes Gemüt zog ein feierlicher Friede, ein großes, festliches Glücksgefühl.