Richard Voß
Römisches Fieber
Richard Voß

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21. Aus Priscas Tagebuch

Rom, im März.

Mein gutes Glöcklein läutet fort und fort in jammervollen Tönen von Schwabing über die Alpen herüber nach Rom. Das wäre ja nun so weit ganz gut, und ich bin glücklich, die lieben Heimatsklänge zu hören. Aber jedes dieser Sturm- und Notgeläute kostet dem armen Glöcklein doppeltes Porto, denn um auf mein Gemüt möglichst starken Eindruck zu machen, schreibt sie mit ihren mächtigsten herzoglichen Lettern, so daß bisweilen auf einer einzigen Seite nur wenige Sätze Platz finden. Ich bin überzeugt, daß sie, um ihr Stimmlein so häufig schallen lassen zu können, ihre tägliche Portion Rindfleisch noch verkleinert hat, und daß ihr Schwabinger Fleischlieferant nächstens Bankrott machen wird.

Und was bimmelt sie so kläglich zu mir herüber? Es ist nicht zu glauben!

Mein junger Siegfried sei sterblich in mich verliebt und ich in ihn. Der eklige Karl Steffens werde mich heiraten und noch einmal mein Unglück sein; dieses letztere sei übrigens schon fix und fertig, denn mein Unglück sei Rom.

Trotzdem in Rom der Heilige Vater wohne, müsse das eine durchaus unchristliche Stadt sein, was sich nur dadurch erklären lasse, daß der Heilige Vater zu Rom eben gefangen sitze. Nicht einmal Fräulein Friedrike und der prächtige Peter Paul flößen meiner kleinen Hofdame Zutrauen ein: denn wenn es mit den beiden seine Richtigkeit hätte, müßten sie längst ein Paar christlicher Eheleute geworden sein. Daß sie sich in Rom katholisch gemacht, gefiel ihr nun schon gar nicht. Unsre Religion sei unsre »innere Haut«, und welcher anständige Mensch würde seine Seele in eine fremde Haut stecken?.

Und alle diese Klagelieder haben den Refrain: Komm zurück! Zurück zu dem alten behaglichen München, zurück zu der guten Schwabinger Dorfkirche, zurück in das hübsche Idyllenhäuschen, zurück zu deiner getreuen Hofdame, den prachtvollen herzoglichen japanischen Teeservicen und den höchst eigenhändig unterschriebenen Porträten Ihrer Hoheiten. Liebe, liebe Lange, komm zurück – zurück!

Zurück aus Rom? Jetzt schon zurück? Ich kam ja kaum an! Jetzt muß ich alle römischen Frühlingswonnen genießen, muß den römischen Sommerzauber erleben und dann nochmals die bittere römische Winterkälte erleiden.

Fror ich denn wirklich so erbärmlich? Ich glaub's gar nicht! Ich glaube, Signorina Rica hat sehr recht: wie kann man in Rom frieren? Mein gutes Glöcklein, ich fürchte, du wirft läuten und läuten, locken und locken, und Fräulein Prisca Auzinger wird bleiben und bleiben; noch manchen Frühling und manchen Winter, den ich gar nicht kalt finden werde.

Was will eigentlich die treue Freundin dort drüben? Schon wieder mahnen, immer noch warnen? Wovor? Mache ich hier nicht Fortschritte? ... Nur Fortschritte? Das hieße das Kind beim falschen Namen nennen. Lerne ich hier nicht erst richtig sehen, also erst richtig malen? Mein Blick öffnet sich mehr und mehr, mein Pinsel wird freier und kühner. Malte ich schon früher gar nicht wie ein Frauenzimmer, so male ich jetzt jedenfalls wie ein Jüngling, aus dem, von Karl Steffens geleitet, noch einmal ein Mann werden kann, und zwar ein ganz tüchtiger Mann.

Also ruhig, sei doch ruhig, getreue ängstliche Seele dort drüben.

*

Etwas andres macht mich unruhig. Das Glöcklein läutet nicht einen einzigen, auch noch so leisen Ton von meinem Bild, welches in einer der letzten Wochen im Kunstverein ausgestellt ward, und das viel, viel besser ausfiel als meine sofort verkauften, entsetzlich banalen und sehr mittelmäßig gemalten »Römische Rosen mit Lorbeer«. Dieses Bild habe ich also nicht verkauft; vielleicht gerade deshalb nicht, weil es besser ist? Das meint wenigstens Steffens, und ich glaube, er hat recht.

Es ist herrlich, sich das mit ruhigem Künstlergewissen sagen zu können, mag dann das Bild auch zehnmal nicht verkauft sein. Und beinahe ebenso herrlich ist ein andres Gefühl: ich brauche auf den Verkauf meines neuen und besseren Bildes nicht angstvoll zu warten, sondern kann ruhig weitermalen, ein noch besseres, wenn vielleicht auch unverkäufliches Bild. Denn erstens habe ich noch immer Geld, und zweitens liegt ein ganzes Kapital für mich bei dem römischen Kunsthändler in der Via Condotti bereit und kann mir jeden Augenblick bar ausbezahlt werden.

Jeden Augenblick kannst du für deine ehrliche Arbeit dein Geld erhalten ... Ob das Leben schön sein kann!? Schön ist es allein durch erfolgreiche – nein, allein schon durch unsre ehrliche Arbeit! Oft muß ich denken, daß, um ein Frauenleben schön, groß und reich zu gestalten, es jenes andern Glückes, das doch eigentlich den Hauptinhalt eines Frauendaseins ausmachen soll, gar nicht erst bedarf. Ich für meine Person reife mit wahrer Wonne zur alten Jungfer heran. Und wenn ich bedenke, daß ich mein ehrwürdiges Alter wahrscheinlich in Rom erreichen werde, in Rom, das für alle alten Jungfern, die noch allerlei sentimentale Bedürfnisse haben, das Dorado ist, so sehe ich meinen ersten grauen Haaren mit noch größerer Ruhe entgegen. Das gute Glöcklein mag richtig ahnen: Rom wird auch mein Schicksal und zugleich mein Seelenbräutigam sein. Aber dennoch werde ich nicht zu jenen Existenzen gehören, die hier Schiffbruch erleiden.

*

Jeden Vormittag arbeite ich in der Villa vor Porta Pia, jeden Nachmittag in meinem Atelier, und fast täglich kommt Steffens, um nach meiner Arbeit zu sehen – wohlverstanden: nach meiner Arbeit und nicht etwa nach meiner Person.

In diesen vielen Lehr- und Lernstunden, die wir miteinander haben, ist er wirklich recht menschlich. Bisweilen geht er förmlich aus sich heraus und spricht von sich selbst, von seinen Plänen und Entwürfen, die er alle, alle ausführen würde, wenn er – ja, wenn er ein andrer Mensch und Künstler wäre, als er ist. Mir gegenüber macht er gar kein Hehl daraus, wie er selbst es als Jammer und Schande empfindet, daß er sein Dasein sich so verpfuschen ließ! Er bestätigt einfach diese Tatsache, die nun einmal da ist und mit der gerechnet werden muß. Will ich mich damit nicht zufrieden geben, mich dagegen auflehnen, so zuckt er die Achseln. Ich sehe, daß er unausgesetzt leidet, und zwar viel weniger durch seine unselige Leidenschaft, als vielmehr um sein verlorenes besseres Ich: um den toten Künstler in sich! Sein Leiden, welches, glaube ich, größer ist, als meine Phantasie es sich ausmalen kann, entwaffnet meinen ganzen Zorn; und wenn ich mir vorstelle, welche Größe noch immer in manchen seiner Pläne steckt – und er plant unausgesetzt –, wenn ich denken muß, er wäre vielleicht doch noch zu retten, so überkommt mich ein blutiges Mitleid, das stärker ist als jede andre Empfindung.

Von der Fürstin reden wir niemals. Ich bin jedoch überzeugt, daß er, so oft er bei mir ist, daran denkt: heute war sie in ihrer Nähe! Daß er, vielleicht sich selbst unbewußt, deshalb jetzt täglich zu mir kommt und ich, seitdem ich die »Salome« zu kopieren begann, eine besondere Anziehungskraft für seine Phantasie besitze. Sehr schmeichelhaft für mich ist das gerade nicht, aber Eitelkeit war nie meine Schwäche.

Einmal sprach ich mit Steffens sehr eingehend über die beiden alten Römer und über die schreckliche Enttäuschung, die nicht ausbleiben kann. Ich bat ihn, da er die guten Menschen ja auch lieb hat, zu überlegen, wie man da helfen, sie auf den Schlag vorbereiten könnte. Wir sollten die beiden alten Leute wenigstens auf die Möglichkeit hinweisen, daß die Jury das Bild nicht akzeptiert, die Nationalgalerie es nicht ankauft. Schon vor Jahren hat Steffens versucht, die Katastrophe abzuwenden; jetzt teilt er meine Sorge und wird überlegen, wie weit eine Vorbereitung möglich ist. Diese warme Teilnahme an dem tragischen Schicksal jener armen, ausgezeichneten Menschen, die für ihn durch Feuer und Wasser gingen, ist zwar selbstverständlich, freut mich aber dennoch, denn ich hatte ihn stark im Verdacht, immer nur mit seinem eignen Geschick beschäftigt zu sein. Wie gern bitte ich ihm im stillen mein Unrecht ab. Es ist ja überhaupt so schön, wenn wir selbst unrecht haben und nicht die Menschen, die wir hochhalten und für die wir Teilnahme empfinden, wie ich sie für diese gebrochene Künstlerseele nun einmal fühlen muß.

Ich wollte, ich wäre seine Schwester! Dann würde ich mir wohl zutrauen, ihm zu helfen. Auch solche Liebe ist stark, und jede starke Liebe kann Wunder vollbringen.

Ich verliere mich in Grübeleien, aus welchem Grunde Don Benedetto eine Ausstellung der »Tochter der Semiramis« wünschen könnte. Und so dringlich wünschen! Der Fürst würde über die Sache doch sicher außer sich geraten, und sein Bruder wünscht sie – dieser Bruder! Ganz Rom würde in Bewegung kommen, um die »Tochter der Semiramis«, um die Fürstin Romanowski zu sehen; Steffens würde über Nacht ein bekannter, ein berühmter Mann werden. Berühmt durch solch unvornehmes Mittel, wie Sensation es ist, oder berühmt durch sein Werk? Das wäre die Frage. Und eine zweite, noch wichtigere Frage wäre, wie der plötzliche Ruhm auf Steffens wirken würde? Vielleicht so gewaltig, daß er mit einem Schlage aus seinem ganzen Jammer, seiner ganzen Schwäche herauskäme, vielleicht aber auch ...

Ich wage keine Antwort zu geben.

Aber alle diese Betrachtungen sind ja Phantasien! Steffens wird sich nie dazu entschließen, das Werk auszustellen, er wird sich nicht einmal aufraffen, es in einem andern Lande zu tun. Überdies wird ihm die Fürstin nie und nimmer dazu ihre Genehmigung erteilen. Sie kann es gar nicht, allein schon ihres Mannes wegen. Die ganze Sache ist ebenso hoffnungslos, wie das Interesse Don Benedettos daran rätselhaft bleibt.

*

Ich kann mich täuschen, aber in der Villa Romanowski scheint etwas vorzugehen und zwar zwischen den beiden Ehegatten. Die Fürstin ist unheimlich hoheitsvoll, und der Fürst, dem ich bisweilen begegne, und der stets sehr chevaleresk den Hut vor mir zieht, sieht aus, als litte er im geheimen. Es liegt jedoch in meiner Art, mir derartige interessante Dinge zusammenzufabulieren. Jedenfalls liebt der Fürst seine schöne Frau, wie – wie Steffens sie geliebt hat oder noch liebt. Wenn er nun doch nicht glücklich wäre? Nicht ganz so glücklich ...

Ich fabuliere schon wieder.

Fräulein Friedrike will gehört haben – und sie hört alles, was in Rom geschieht –, daß in der Villa Romanowski ein Frühlingsfest in antikem Kostüm geplant sei. Es soll im Park stattfinden, und alle Gäste müssen antik gekleidet erscheinen.

Alle vornehmen Römerinnen in antiken Gewändern, schön wie die meisten sind mit ihrer königlichen Grandezza – es muß einen unerhörten Anblick geben! Die Schönste und Königlichste wird zweifellos die Wirtin sein.

Ich möchte mich in einem Gebüsch verstecken, denn so etwas kann ich ja nie wieder erleben! Fräulein Friederike ist schon jetzt eitel Ekstase und auf alle ihre schönen Römerinnen, die auf dem Fest erscheinen werden, so stolz, als ob sie der Himmel auf ihre Fürbitte hin so herrlich erschaffen hätte.

Steffens sprach mit ihr über Peter Pauls großes Bild und seine Berliner Reise. Sie verstand gar nicht, was er meinte, glaubt an einen Riesenerfolg so fest wie an das Evangelium und ließ ihren Liebling, das große Genie, zum ersten Male glänzend abfallen. Seitdem ist sie so traurig über seinen Unglauben an Peter Paul, als ob er die Herrlichkeit Roms geleugnet hätte.

Nein! Wir können den Armen nicht helfen.

Checco wird frech. Der Bursche gestattet sich, über den jungen Siegfried unverschämte Bemerkungen zu machen; vielmehr über seine neue gewaltige Leinwand und sein neues abscheuliches Motiv: eine Straße im modernen Rom.

Wenn ich darüber empört bin, so bin eben ich das: des Malers Landsmännin, Kollegin und schließlich doch auch gute Freundin. Und ich bin es, weil er viel, sehr viel Talent hat und sein großes Talent so schmachvoll mißbraucht. Wie kann ein Mensch so aussehen, so viel Talent haben und derartige Sujets malen? Aber daß der junge Frascataner solche Bemerkungen macht, ist unerträglich, und ich habe es mir mit den stärksten italienischen Ausdrücken, die mir zu Gebot stehen, ein für allemal verbeten. Er war denn auch sehr verblüfft und ist jetzt ganz still. Übrigens gehen wir beide – ich meine den Baron Schönaich und meine Wenigkeit – uns einander aufs ängstlichste aus dem Weg; und das ist für beide Teile sehr angenehm, denn wir haben uns ja doch nichts zu sagen.

Aber er tut mir leid.

*

Peter Pauls großes Bild geht fort; die Arbeit eines ganzen Menschenlebens tritt ihre Reise an! Ich bin so traurig, so traurig.

Fräulein Friedrike und ich waren bei dem Verpacken zugegen. Mir schien es ein Begräbnis und die leere Stelle in dem großen Raum ganz totenhaft öde. Als die Leute den gewaltigen Packen hinaustrugen, fuhr Peter Pauls alte Verlobte mit ihrer Hand heimlich über die Bretter, darin die Leinwand eingeschient war, als liebkoste sie einen teuern Menschen. Diese leise, zärtliche Berührung der welken, zitternden Frauenhand hatte etwas so unaussprechlich Rührendes, daß mir die Tränen in die Augen traten. Wir gingen auch auf den Bahnhof, um das Bild zugleich mit dem großen, in Stücke zerlegten Rahmen, der durchaus römisch sein sollte, zu expedieren. Ich hätte Peter Pauls Werk am liebsten einen mit Lorbeer umwundenen Cypressenzweig auf die Reise mitgegeben. In einigen Wochen wird er seinem Bild folgen, und Fräulein Friedrike trifft schon jetzt für ihn Vorbereitungen, als müßte sie ihn zu einer Nordpolexpedition ausrüsten. Sie kauft die wärmsten Kleidungsstücke ein, die in Rom zu haben sind; denn sie behauptet steif und fest, »dort drüben« könne noch im Mai tiefer Winter sein. Peter Paul glaubt, was sie glaubt. Sie arbeitet heimlich an einer Strickerei aus mausgrauer Wolle, die Steffens für einen endlos langen Schal ansieht, den sich Peter Paul in dem schrecklichen Klima dort drüben um den Hals schlingen soll. Aber uns beiden fällt nicht ein, über die heimliche Arbeit zu lächeln; im Gegenteil, wir erzählen uns diese lustigen Dinge ganz ernsthaft.

In diesem, durch das unabwendbare Geschick zweier guter Menschen getrübten Frühjahr hatte ich eine große Freude: Steffens versprach mir, einen seiner Entwürfe auszuführen. Ich bilde mir nicht ein, ich sei daran schuld, oder er tue es gar um meinetwillen; ich bin nur glücklich darüber, daß er es tut, daß er sich endlich, endlich aufrafft. Denn seit vielen Jahren, seit der Vermählung des Fürsten Romanowski, hat er tatsächlich nur jene Kopien nach berühmten Mustern gemacht, die er nicht einmal als seine Arbeiten anerkennen darf, sondern die er vergraben lassen muß, damit sie, »echt« erscheinend, ihren Käufer täuschen.

Meine Freude über diesen Arbeitsanfang meines Lehrers und Freundes, denn beides ist er mir im vollsten Maße, ist so groß, daß ich leichtsinniges Geschöpf verschiedene kleine Kümmernisse vollkommen verschmerze. Zu diesen gehört auch ein Brief aus dem Idyllenhäuschen. Das gute Glöcklein schrieb mir endlich sehr kläglich über mein Bild. Es gefällt ihr nicht, und es gefällt niemand, wäre auch wirklich nicht verkauft. Ich werde jedoch in der allernächsten Zeit ein drittes römisches Bild nach München schicken, das vielleicht auch keiner Seele gefällt, also vielleicht auch nicht gekauft wird, das aber trotzdem ein gutes, ein recht gutes Bild ist, denn Steffens sagt es.

Inzwischen werde ich mich wohl entschließen müssen, dem Herrn in der Via Condotti einen Besuch abzustatten und höflichst um eine kleine Barauszahlung zu bitten. Gott sei Lob und Dank, daß das Geld ehrlich verdient ist, denn meine Kopie verspricht, trotz strenger Selbstkritik, ein ehrliches Stück Arbeit zu werden. Für später sorge ich mich nicht, nicht im geringsten! Ich habe meine Jugend und meine Jugendkraft, habe mein Talent und meine Arbeitslust, habe meinen fröhlichen Mut und bin – last, not least! – in Rom, wo ein bißchen Hunger, den Erfahrungen andrer Leute zufolge, gar nicht wehtun soll. Es wäre indessen gut, wenn ich aus Vorsicht meinen Appetit, der noch immer brutal gesund ist, etwas mäßigen könnte.

Als Fräulein Friedrike erfuhr, Steffens arbeite wieder für sich selbst – ich mußte es der guten Seele doch gleich sagen, um ihr eine Freude zu machen, was tat sie da wohl? Sie fiel mir um den Hals, dankte mir, benahm sich nicht anders, als wäre unsers Freundes endliches Auferstehen aus seiner langen, langen Apathie mein Verdienst. Ich protestierte denn auch energisch und wurde schließlich, da sie bei ihrer Behauptung blieb, ganz böse. Ich kann es nun einmal nicht ausstehen, wenn man mich überschätzt. Es hat etwas Demütigendes, denn man muß sich bei dem Enthusiasmus der andern sagen: du bist ja gar nicht so! Wenn sie wüßten, wie du im Grunde bist! Ganz anders, als sie glauben. Lange nicht so gut, so tüchtig.

Wie oft habe ich mich im Idyllenhäuschen bitter schämen müssen, wenn das Glöcklein anfing, ihre Ruhmeshymne über mich zu bimmeln. Und nun gar hier, in Rom, auf meinem Lorbeerhügel vor der Porta del Popolo, angesichts der ewigen Stadt, wo dieses Schamgefühl, aus großer Selbsterkenntnis herrührend, noch zehnmal unerträglicher ist. Am schlimmsten aber will es mir scheinen, wenn ich denken müßte, daß Steffens im Bunde der dritte sein könnte. Das Glöcklein, die beiden alten Römer – denn sie sind eins – und Karl Steffens, über mich sich Illusionen machend, diese Vorstellung quält mich!

*

Ostern! Mein erstes Ostern in Rom! Es hilft mir nichts, ich muß mich in diesen Ostertagen Fräulein Friedrike mit Leib und Seele übergeben. Ihr Enthusiasmus grünt und blüht wie eine deutsche Osterpalme. Wenn sie das hörte! Ich ziehe sie aber doch den römischen vor. Denn die römischen Osterpalmen bestehen entweder aus einem häßlich geflochtenen und gefärbten Palmenblatt aus Bordighera oder aus einem silbergrauen Ölzweig, der ein gar feierliches Symbol ist, aber doch nichts von Auferstehung und Frühling hat, nichts Sprießendes, nichts Hoffnungsvolles.

Am grünen Donnerstag wurden sämtliche Glocken Roms gebunden, und während der ganzen Dauer der Passion blieb es feierlich stumm in den Lüften, die eherne Himmelsstimme sprach nicht zu den Herzen der Gläubigen, solange der Gottessohn litt.

Fräulein Friedrike begann mit mir eine endlose Wallfahrt von Kirche zu Kirche, um das Grab des Herrn zu schauen. Ach, und Schaustellungen waren es! Um geschaut zu werden, lag der göttliche Leib aufgebahrt, und um zu schauen, strömte die Menge herbei. Vor mancher Gruftkapelle mußte ich mir gewaltsam in Erinnerung rufen, wo ich mich befand, in Rom! Ich litt unter dem häßlichen Theaterpomp, der sich vor mir entfaltete.

Aber in Santa Maria Maggiore und im Lateran hörten wir schöne Musik. Wie aus dem geöffneten Himmel drangen süße Knabenstimmen herab und lösten mir die Seele. Hätte ich nur so recht einsam lauschen können und in einem gotischen Dom, den mystische Dämmerung erfüllt. In der prachtvollsten Basilika Roms, in San Paolo fuori le Mura, packte mich Heimweh nach der Frauenkirche in München.

In einem Kirchlein am Korso erlebten wir am Samstagabend eine Auferstehungsfeier, die sehr lieblich war. Ein Schwarm weißer Tauben wurde am Grabe des Heilands unter Orgelklang, Trompetengeschmetter und Chorgesang losgelassen. Alle Fenster waren geöffnet, bald fanden die Vögel den Ausgang und flatterten wie lichte Gottesgedanken zu einem goldigen Abendhimmel empor.

Als dann die Osterglocken anhuben zu tönen und zu dröhnen, als eine mächtige Schallwoge über die Stadt hinflutete, selbst die Lüfte Stimmen empfangen zu haben schienen, um der Menschheit die Himmelsbotschaft zu künden: »Auferstanden von den Toten!« da stimmte ich aus vollem Herzen meiner begeisterten Führerin bei:

Solche Ostern kann man nur in Rom erleben!

Ostersonntag dagegen entrann ich Fräulein Friedrike, die mich in den Sankt Peter schleppen wollte. Ich tat ihrer guten Seele mit meiner Flucht gewiß bitter weh; aber ich mußte der meinen Folge leisten, die nun einmal in Gottes Namen ihre eignen Bedürfnisse hat und gar an solchem Tage.

Ich ging wieder hinaus vor Porta San Sebastiano, wollte die Appische Straße hinaufschlendern, womöglich bis zum Casale rotondo; aber als ich das Grabmal der Cecilia Metella vor mir sah, fiel mir ein, daß ganz in der Nähe die Calixtus-Katakomben sein müßten, die ich noch nicht kannte.

Das war auch eine Osterfeier, hinabzusteigen in die unterirdischen Grüfte, aus denen sich der lebendige Glaube wie eine Lerche emporschwang mit einem Jubelgesang.

Die Stelle, wo der Eingang zu dieser unermeßlichen Totenstadt liegt, war an diesem Morgen ein einziges Blütenland. Soweit die Steppe zu übersehen war, schimmerte sie weiß von Margueriten, so daß die Ruinen des alten Rom sich aus einem märchenhaften Schneegefilde zu erheben schienen. Aber zu meinem Leidwesen fand ich die Katakomben geschlossen.

Sehr enttäuscht wollte ich umkehren, als von dem Eingang her ein alter Geistlicher auf mich zukam. Ich klagte dem frommen Mann meine Not. Der Priester sagte freundlich:

»Ich will Ihnen helfen, liebe Tochter, denn ich kann Sie hinabführen. Ich wurde heute hierherbestellt, weil eine vornehme Dame die Katakomben sehen wollte. Sie befindet sich mit dem geistlichen Herrn, der sie begleitet, bereits unten, und mich schickte man fort. Wenn wir uns etwas zurückhalten, so bekommen uns die beiden gar nicht zu Gesicht. Nur muß ich bitten, nicht laut zu reden.«

Was konnte ich mir Besseres wünschen, als stumm und fast einsam jene schauervollen heiligen Stätten besuchen zu dürfen?

Ich bekam ein brennendes Licht, mein Begleiter nahm gleichfalls ein solches, und wir stiegen hinab, schweigend und leise, wie auf verbotenen Wegen. Ich werde den Gang durch diese Grüfte nie vergessen.

Stollen neben Stollen, Gruft neben Gruft, Völkerschaften von Toten! Darunter Bischöfe und Päpste, Märtyrer und Heilige. Mein Gefährte hob bisweilen schweigend seine Kerze, um schweigend ein Grab zu beleuchten mit den symbolischen Zeichen der Taube, des Lammes oder des guten Hirten. Und er und ich unter diesen Legionen von Gestorbenen die einzigen Lebenden!

Nein! Nicht die einzigen ...

Plötzlich vernahmen wir dicht neben uns einen tiefen, jammervollen Seufzer. Es klang wie aus einer der Grüfte dringend, von denen viele geöffnet waren und nur noch die Gerippe bargen; es klang wie ein Laut aus Geistermund.

In demselben Augenblick sah ich sie.

Sie befand sich in einem Gewölbe, auf das unser Gräbergang mündete. Vor einer der Grüfte, davor einige Kerzen brannten, lag sie auf den Knien: sie, Maria! Sie, die Fürstin Romanowska! Sie war in tiefe Trauer gekleidet und trug statt des Hutes einen schwarzen Schleier, als ginge sie in den Vatikan zur Audienz beim Heiligen Vater.

Don Benedetto stand neben ihr. Er beugte sich tief zu ihr herab, sprach leise in sie hinein. Sie regte sich nicht, aber wieder stöhnte sie jammervoll auf, o daß ich fast laut aufgeschrien hätte.

Im nächsten Augenblick trat ich zurück und eilte hinweg, von meinem geistlichen Führer gefolgt.

Die beiden hatten uns nicht gesehen; aber ich wollte sogleich hinauf und hinaus.

Ich muß sehr bleich ausgesehen haben, denn der gute Priester fragte mich besorgt, ob ich unwohl geworden wäre. Ich konnte es nicht leugnen und gestand, daß mich der Anblick der so inbrünstig betenden Dame erschreckt hätte. Er antwortete:

»Die Arme! Sie tut am Grabe der heiligen Cäcilia Pönitenz. Die Madonna mag wissen, für welche Sünde. Und sie ist gewiß eine Prinzessin oder Herzogin. Es gibt auf Erden eben viel Elend und Schuld.«

Ich dankte dem frommen Mann herzlich und gab ihm ein Almosen für seine Armen ... Draußen lag der leuchtende Blütenschnee über der Erde, welche die ungeheure Totenstadt barg. Die Frühlingssonne schien, und Scharen von Leichen schwangen sich empor mit Jubelgesang.

Als ich mich wieder auf der Via Appia befand, begegnete mir die leere Equipage der Fürstin. Langsam kam sie von der Gräberstraße zurück, die Fürstin und ihren Beichtvater erwartend. Der Lakai ging neben dem Wagen her, erkannte mich und grüßte.

›Die Arme! Sie tut Pönitenz; die Madonna mag wissen, für welche Sünde.‹

Für eine Sünde, um die Don Benedetto weiß!

Und wie jammervoll sie stöhnte.

Tags zuvor hatte ich eine andre Osterbegegnung gehabt, an die ich jetzt immerfort denken muß. Es war in jener kleinen Kirche am Korso, ehe unter Orgelklängen, Trompetenschmettern und Jubelchor der Taubenschwarm aus dem Grabe des Herrn sich emporschwang.

An einem Seitenaltar sah ich eine dunkelgekleidete Frauengestalt. Sie lag auf den Steinboden hingestreckt und hatte ihr Gesicht auf die Stufe des Altars gepreßt, darauf das Holzbild der Schmerzensreichen stand, von Kopf bis zu Füßen in schwarze Schleier gewickelt. Nur das ewige Lämplein brannte vor der Mutter des Herrn.

Die dunkle Kapelle, die um den gekreuzigten Sohn trauernde Gottesmutter, die hingesunkene Beterin, das fahle Dämmerlicht zogen mich mächtig an, so daß ich dastand und das Bild vor mir im Geist auf die Leinwand brachte. Die Beterin lag ohne einen Laut zu tun, ohne eine Bewegung zu machen. Nur bisweilen zuckte ihr Leib zusammen, als würde er von ihrer heißen Andacht wie mit Rutenhieben gegeißelt. Dann flogen die Tauben auf, das Halleluja erbrauste, die Hingesunkene erhob sich.

Ich sah ihr gerade ins Gesicht.

»Fanni!«

Sie erschrak, begann heftig zu zittern, warf mir einen flehenden Blick zu, schüttelte schweigend den Kopf, ging an mir vorüber nach dem Ausgang. Ich folgte ihr und holte sie auf der Straße ein.

An ihrer Seite gehend, sagte ich leise:

»Habe vor mir nur keine Furcht, Fanni. Ich will dich ja nicht anklagen und deine Richterin sein. Du brauchst dich auch nicht zu verteidigen, nur höre mich an.«

Sie antwortete nicht, machte aber auch leinen Versuch, von mir fortzukommen. Ich sprach weiter.

»Du hast meinen Brief nicht erwidert ... Sage nichts, du sollst dich nicht entschuldigen, nur mich anhören, um deiner Eltern willen, höre mich an!«

Da stieß sie mit rauher Stimme hervor:

»Ich kann ihnen nicht helfen, wie mir niemand helfen kann. Also geh, laß mich, verachte mich.«

Ich begann wieder:

»Du bist in Verzweiflung, und ich lasse dich nicht. Ich will versuchen, dich aus jenem Hause, von jenen Menschen zu befreien, denn dann wäre dir geholfen.«

»Es ist zu spät. Laß mich.«

»Wir sind alte Freundinnen, Fanni, Kinderfreundinnen. An unsre gute reine Kinderzeit denke. Erlaube einer Jugendfreundin, dir zu helfen.«

»Zu spät!«

»Ich gehe mit dir, jetzt gleich! Ich spreche mit deiner Herrschaft, ich fürchte mich gar nicht, auch nicht vor jenem Herrn, dem famosen Cavaliere. Ich packe deine Sachen, nehme dich mit mir fort, in meine Wohnung, liebe Fanni. Du bleibst bei mir, einige Tage, einige Wochen, solange du willst, bis du dich vollkommen erholt hast, dann erlaubst du mir, für dich ein Billett zu lösen, und bis Pfingsten bist du wieder zu Hause. Denke doch: zu Hause! Wieder in München, wieder bei deinen Eltern.«

»Zu spät!«

»Nein, Fanni, nein! Es ist nie zu spät, besser und stärker zu werden.«

Da sagte sie mir's denn:

»Ich liebe ihn zu sehr. Jawohl, ich liebe diesen Menschen, diesen Schuft, diesen Teufel. Er kann mit mir machen, was er will. In seinem eignen Hause, unter den Augen seiner Kinder. Ich bin so schlecht, so schändlich, so verworfen; aber – ich liebe ihn, ich liebe ihn! Und wenn er mich fortjagt, hinaus auf die Straße, so komme ich zu ihm zurück, wenn er mich wieder aufnimmt. Laß mich, verachte mich, vergiß mich! Du mußt einsehen, daß es zu spät ist.« Ach, ich mußte es einsehen.

Sie warf mir einen Abschiedsblick zu, der in meiner Seele haften wird. Ich hatte bis dahin nicht gewußt, was Verzweiflung sei, jetzt wußte ich es.

Aber dennoch und dennoch – selbst der armen Fanni letzter verzweifelter Blick hat auf mich nicht den Eindruck gemacht wie am Ostersonntag in den Calixtus-Katakomben jenes jammervolle Stöhnen der Büßerin.

Ist ihre Schuld denn wirklich so groß?


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