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Das Zeitproblem ist wohl das tiefste, das der europäische Mensch sich gestellt hat, und keine Erscheinung bringt dieses Problem so prachtvoll, so in allen Einzelheiten kristallklar durchgezeichnet zum Ausdruck wie die Zeitung. Wo Vorzeit an Nachzeit grenzt, ergibt sich ein Wirbel, eine Bewegung, ein dramatischer, strahlender Augenblick, eine ewige Peripetie: dies ist die Gegenwart, dies ist die Ewigkeit. Der Begriff der Ewigkeit ist ganz leer und hohl, wenn man ihn (rückschauend) als Vergangenheit (voraussehend), als Zukunft erfaßt, unendlich aufschlußreich, wirklich und tröstlich wird er, wenn man ihn (erlebend) in die Mitte nimmt, im Augenblick die Ewigkeit unverkennbar erfaßt. Was die Zeit bringt, bringt die Zeitung. Mehr als das, sie ist es in gewissem Sinn. Man hat bemerkt, daß das Bürgerliche Gesetzbuch einen kurz gefaßten Abriß des ganzen Daseins enthält. Recht der Geburt und des Erbes, der Ehe und der Kinder, des Geldes: vom ersten zum letzten Tag, von Gewinn, Wechsel, Bankerott, vom Leben allein für sich, vom Wirken in der Gemeinschaft, schreiben, Häuser bauen und niederreißen, auf der Erde Bahnen tracieren, in der Luft fliegen, jagen, angeln, mieten, leihen, alles findet man im Bürgerlichen Gesetzbuch, Ehe, Mitgift und Scheidung nicht zu vergessen.
Ein Extrakt von gleicher Universalität, ein Gericht aus tausend Ingredienzien, ein Trank aus tausend, aus allen Säften, das ist die Zeitung.
Die Zeitung ist das Volk, die Zeitung ist der Mensch. Man beginnt nun, nach den Erfahrungen der letzten Jahre, an der Richtigkeit der volkswirtschaftlichen Theorien, an den sozialistischen »Folgerungen und Notwendigkeiten«, ja an der Geschichtsschreibung als wert-schaffender Wissenschaft überhaupt zu zweifeln und zu verzweifeln; grotesk, daß die Absage an die Historie nur in der Form der Historie ausgesprochen wird, ein Beitrag zu der ungeheuren komischen, tragikomischen Groteske, die unsere Zeit kennzeichnet. Aber es triumphiert die Zeitung. Sie besonders, die ihre Ehre darein setzt, aktuell zu sein. Der Italiener nennt das Letzte »recentissime«. Da bildet sich etwas heraus, was an Intensität nur mit einem Kunstwerk vergleichbar wird. Was das »Volksepos« in grauer Vorzeit war, Homer, Nibelungen, Kalewala der Finnen, vergessene Urgesänge der Naturvölker, das ist heute, so grotesk es klingt, die Zeitung. Nicht der Journalist schreibt sie; er wird bezwungen, er wird von der Zeit geschrieben, das ist sein Beruf, seine Tragik, seine Anonymität ist sein Glück und sein Fluch; er ist ja nur Ordner, in Wahrheit schreibt die Gesamtheit das, was sie selbst liest; das ist es, worin sich die Zeitung mit der Volksdichtung berührt. Zeitung ist auch keineswegs Historie, sie ist subjektiv, voll von Launen, Vorurteilen, Fanatismus, Skeptizismus, Hunger und Übersättigung, sie geht mit der Macht, mit den Unterdrückten, mit den Jahreszeiten, sie schillert wie das leibhaftige Leben und ist fast so vergänglich wie der Mensch.
Hier sitzt nicht der ohnmächtige einzelne am »Webstuhl der Zeit«; der einzelne darf nicht aktuell sein, sonst ist er nur aktuell. Daß heute eine (nach Brot und Erfolg) ausgehungerte Dichterkaste sich mit allem naiven Enthusiasmus an die Räder der Zeit (des Tages) klammert, ist nur ein tristes Symptom; der Dichter, der Denker kommt immer unter die Räder, er kommt immer zu spät, man muß Journalist sein, wenn man aktuell sein will. Nur in der ewig wechselnden Sphäre und Atmosphäre der Zeitung kann sich die Gesamtheit Antwort geben auf ihre Probleme, und das ist eben: aktuell sein. Je unbefangener man schreibt, je ruhiger, angeregter, je freier von Hintergedanken, desto wertvoller die journalistische Leistung: daher ihre Höhe der Reporter, ihre Heimat Amerika und das Amerikanische in unserem Kontinent.
Es trifft sich zuweilen, daß auch ein Dichter die Zeit aktuell sieht; Altenberg sah sie so, Walt Whitman erlebte sie so. Was sie schafften, war immer aktuell, machte jeder Zeitung Ehre, aber keine Zeitung konnte davon leben, keine wäre gestorben, wenn ihr diese und ähnliche Mitarbeit gefehlt hätte. Nein, die Zeitung ist anderes: nicht die schwachen Augenblicke der großen Männer, sondern die Unsterblichkeit des kleinen Mannes, das ist sie. Sie ist »Jedermann«, jedermann schreibt sie, jedermann liest sie; nicht in der gleichen Stärke, nicht in dem gleichen Kreise. Dieses »Jedermann« ist rhythmisch gegliedert, im strengen Tagestakte wie Paukenschlag auf Paukenschlag. Das ist schön.
Sie beginnt mit dem Allgemeinen, was jeden »Jedermann« trifft: »Das Programm«, »Doktor Beneš über die westungarische Frage«, »Die zweite Rede des Ministerpräsidenten«, »Harding und die Arbeitslosen«. Es geht »an alle«, es geht um alles, Krieg und Frieden, Arbeit und Not, Freiheit und Rechte. Dann wird der Kreis enger, aber die Artikel kleiner, schärfer, besonders: »Die Kriegsanleihe«, »Der Wenzelstag«, »Heute Rennen in Kuchelbad«. Jetzt bekommt der anonyme »Jedermann« Namen: Gerichtssaal, Mord, Liebe und Diebstahl, Betrug, List, Grausamkeit, Unmenschlichkeit, die »Schattenseite des Lebens«. Jetzt die Lichtseiten: Konzerte, Theater, die Kunst, Höchstleistungen, durch den brennenden Reifen springen, Wunderbares um Hungerlohn (oder Millionenlohn) verkaufen, Kunst für Geld, Kultur, Geist für Brot. Das Wort Geld ist gefallen; am Schluß des Blattes, ja, jetzt das eigentliche Blatt: die Kurse. Hat nicht alles seinen Kurs? Man muß nicht einmal Wedekind, »Schloß Wetterstein« zweiten Akt, zitieren. Prager Börse, Wiener Börse, Berlin, New York, Valuten, Devisen, Effekten, auf, ab, ewiges Schwanken. Weshalb es leugnen, hier beginnt für die meisten Leser des Jahres 1921 das wertvolle Blatt. Das lesen sie mit dem Herzen, hier zittern die Hände.
Und der Schluß: Jedermann nennt sich beim Namen, sagt, was er kann, sagt, was er will, was er wünscht; der Markt des Lebens tut sich auf: Buchhalter, Stenotypistin, Automobilvertretung, Suppen und Saucen, Altvatersanatorium, Andrés Buchhandlung, Vorsicht: Zimmersuchende! Heiratsanträge, Gerta 1921, Kismet 300, Portlandzement, Dozent Dr. Hecht, Kontrollkassen, Sprechender Papagei. Das sind 10 kleine Anzeigen. Täglich erscheinen 300; mehr? weniger? im Jahre Millionen. Das ist aktuell; das ist die Unsterblichkeit des namenlosen Mannes. Da leben wir alle, einmal ist jeder aktuell. Man spricht mit Freude von seiner Geburt, man hilft ihm beim Leben, läßt ihn verdienen, ehrt ihn im Tode. Der Mensch ist gut: zu allem. Ist das nicht das ganze Leben? Ein Rad, rollend auf einer Schiene, nur in einem Punkte in zartester Berührung, aber das immer, aber das mit ungeheuerer Energie, mit rasendem Leben, jedes Blatt ein Stück Asche, aber alle zusammen eine Welt. Nur etwas fehlt ihr: Heiterkeit, Humor, wirkliche Menschennähe, Lächeln, gespiegelt in Lächeln.
Aber fehlt das nicht uns, »Jedermann«?