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In den letzten zwanzig Jahren ist der Bühne mancher Stein aus der Krone gefallen: Der Kinematograph nahm vom Theater die schnellste Szenenfolge, den kühnsten Wechsel von Dekoration, die besten Darsteller mit den höchsten Gagen, aber auch eine so unbedenkliche Annäherung an die tiefsten, niedersten Instinkte einer schau-, aber nicht denklüsternen Masse, daß es dieser Masse selbst zu dumm wurde und daß seit zehn Jahren ununterbrochene Bestrebungen im Gange sind, das Niveau einer Kunstübung zu heben, das man ohne Not so furchtbar tief fallen gelassen hat.
Eben kommt aus Amerika die Nachricht, daß es gelungen sei, durch drahtlose Fernvermittlung jedem kleinen Mann der Vereinigten Staaten ein Konzert der herrlichsten Stimmen, des erlesensten Orchesters für einen Pappenstiel, um nicht zu sagen Butterbrot, zu bieten, wobei die Masse der Kunstteilnehmer mit ihren telefonischen Anschlüssen die sicherste Gewähr für die in ungeheure Breite wirkende Millionenmusik bietet. Hat auf der einen Seite also das Sichtbare der Bühne im Kino den konzentriertesten Ausdruck gefunden, wird andererseits das Musikalische in die scheinbar dichteste, erste Form gepreßt, auf beiden Seiten scheinen Leistungen zweiten Grades, mittlerer Güte ausgeschaltet, und wenn der Kinobesucher mit Stars gefüttert wird, wird sich das Zentralbüro der drahtlosen Konzerte auch mit illustren Namen und Stimmen nicht lumpen lassen und bestrebt sein, jedem angeschlossenen Mitglied die preiswerteste Kunstware in erprobtester Qualität zu liefern.
Und doch könnte die alte Bühne, angefangen von der wandernden Schmiere bis zu dem zwischen Verkalkung und wäßrigster Verdünnung schwankenden Hoftheater alten Stiles sich seines Lebens ruhig freuen, da es doch nur die falschen Perlen sind, die ihr aus der Krone genommen sind, wüßte sie nur, was das Publikum will. Von Volk darf man gar nicht sprechen, und von der Nation als solcher Notiz zu nehmen wird keinem einfallen, der ein Repertoire für eine ernsthaft geleitete, lebensfähige Bühne zusammenzustellen im Begriffe ist.
Das Kino ist nichts anderes als gesittetere kunstgewerblich veredelte Kolportage. Denn es hat nicht Not wie die Bühne, einen Besucher zu sich zu erziehen; es ist allen offen, auch dem Ungebildeten muß es klar sein, man tritt ein, ohne seine Überkleider abzulegen, dies auch in geistigem Sinne; es hat auch keine Gefahr, kommt der Besucher zum sechsten Akt dieser Pseudotragödien und sieht sich nun den Beginn der Schaudermäre in aller Ruhe an, nachdem er das gottselige Ende längst verdaut hat. Einzelne hohe Leistungen, wie die der großen Nielsen, ändern das Niveau nicht, der ernste Wille vieler Gutgesinnter ebensowenig.
Auf der anderen Seite wird die drahtlose Übermittlung von Konzerten, Predigten, Kursziffern und Börsenberichten schlimmstenfalls die großen Zeitungen unruhig machen können, und wohl auch die Fabrikanten von Phonographenplatten, aber eine ernsthafte Konkurrenz wird den wirklichen Bühnen und Operntheatern aus diesen mechanisierten Spiegelungen ihres ureigensten Wesens kaum erwachsen.
Das alles kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß seit dem Kriege in besonderem Maße das Interesse weitester Kreise an der lebendigen Wirksamkeit der Bühne sehr nachgelassen hat. Es kann dabei sehr gut die wirtschaftliche Not eine Hauptursache sein. Mitteleuropa, oder besser gesagt, Alt-Europa, ist eben noch mitten im Kriege, die Schwankungen der Weltlage sind immer noch, selbst in verhältnismäßig so stabilisierten Ländern wie Böhmen, so gewaltig, daß sie die reinste Herzkraft und das lebhafteste Verstandesinteresse gleicherweise in Anspruch nehmen, der Bühne kaum noch einen Rest lassend. Drama ist Kampf. Komödie und Operette ist Spiel, Wandel, Umwertung, Verkleidung außen und innen. Jeder hat heute zu kämpfen. Weniger mit sich selbst als mit der Not, der Notwendigkeit, mit jedermann. Was kann da noch der Kampf um seelische Freiheit, wie in Schillers Dramen, was der Widerstreit von Geist gegen Welt, wie beim »Faust«, dem einzelnen bedeuten, dem es längst »ums Ganze geht«? Was für Wandlungen kann der einzelne noch als belustigend, was für Verkleidungen noch als grotesk empfinden, wenn das Ursubstrat des menschlichen Lebens als solches fast völlig entwertet ist, die einst Hohen der Erde gestürzt, die Niedrigen und Gemeinen erhöht sind, freilich nicht im Sinne des Evangeliums. Mag Titania einen Esel lieben, mögen die tollsten Verwechslungen und Verkleidungen ihren rasenden Wirbel beginnen, die Mehrzahl der Menschen von heute bleibt kalt und wird begründen, wenn man sie fragt, warum.
Man stelle ein ausverkauftes Haus, in welcher Großstadt immer, vor die Wahl, entweder Goethes »Faust« oder »Madame Pompadour« anzusehen, und man wird, zu seinem Erstaunen, das Ergebnis erzielen, daß die weitaus größte Mehrzahl sich für ein Fußballmatch, Prag D.F.C. gegen Sparta entscheidet. Freilich ist ja auch dies ein Kampf, in gewissem und nicht in niederstem Sinne ein dramatisches Erlebnis, tausendmal wertvoller als die geschminkte Leiche des stumpfsinnigen Kinos, aber welcher Theaterdirektor findet noch den Mut, diesem Desinteressement auf die Dauer zu widerstehen, wofür opfern die Darsteller immer noch, und auf fast allen Bühnen beinahe, ihr Bestes, die Kraft und Freude ihrer Jugend, den Ernst ihrer Reife bis zu den Aschentrümmern ihres Alters? Welcher Dichter soll für ein Publikum schaffen, das er schon deshalb nicht zu fesseln vermag, weil es nicht existiert?
Nun hat jede vom innersten Herzensgrund aus erlebte und geliebte Tätigkeit das Gute, daß sie sich nur zum Teil am Beifall, am Lorbeer, an Geld und Geltung sättigt, den wesentlichsten Teil ihrer Berechtigung verdankt sie sich selbst. Skeptiker mögen dieses Streben nach der Wesentlichkeit, diesen wahren Handel à la longue belächeln, mögen das Machtlose eines transzendenten Idealismus verspotten, in Wahrheit ist er es allein, der Staaten baut und stürzt und dem die Macht zuletzt zufällt.
Was wir brauchen, ist Mut, nur Mut. Das Schwache, Niedrige, Gemeine erledigt sich von selbst. Wohlwollen allein kann zwar Kunst nicht fördern, Mißgunst und Gleichgültigkeit können und werden wahrhaft Lebendiges auf die Dauer nicht ersticken.