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Rousseau

J. J. Rousseau wurde vor zweihundertundzehn Jahren am achtundzwanzigsten Juni geboren. Es ist vielleicht heute, 1922, leichter als vor zehn Jahren, diese einzigartige Gestalt vom untersten Fundament bis zu den feinsten Pfeilern zu übersehen. Denn diese zehn Jahre haben die bewohnte Welt, die gesamte Menschheit nicht weniger revolutioniert wie die hundert Jahre vorher. Nicht allein im Bösen, auch im Guten, im gesegneten Sinn ist mit der Welt von 1912 ein zwar noch ragender, aber schon unterwühlter Bau gestürzt, ein ungeheurer Koloß gefallen; und während die letzten Staubwolken sich zu heben, die letzten Dünste lange verborgener Verwesung sich zu entwölken beginnen, ersteht klarer, freudiger alles, was überlebt hat. Zu diesem wenigen, dem wir das Wort Unsterblichkeit an die Stirn zu schreiben wagen dürfen, weil es über unser eigenes Leben in ein künftiges hinüberzuschreiten scheint, gehört Rousseau.

Ein Mann nicht nur von europäischer oder kontinentaler Bedeutung, sondern eine geschichtliche Persönlichkeit, deren Schatten, weiter schwebend, größere Bezirke menschlichen Denkens überbreitet als der Napoleons, dessen politische Ziele heute, 1922, durch Konstellation, Konjunktur, historische Paradoxie erreicht, erledigt sind, während Rousseaus menschliche, staatliche und gesellschaftliche Ziele uns Heutigen seelisch ebenso nah, praktisch ebenso fern sind als dem Manne aus Genf, uns ebenso wichtig, ebenso unverrückte Sternbilder, Heiligkeiten, nicht von heute, gestern und morgen. Sie waren ihm, sie sind uns nicht leere Idole, Eitelkeiten, wie die »heilige Nation« und ihr heiliger Egoismus, sondern sie atmen, sie sind innerlich beseelt, sie leben. J. J. Rousseau war, was alle großen Männer von morgen sein werden, ein Erzieher im tiefsten Sinn. Kein Eroberer, sondern Ordner. Er hatte Rhythmus, er fand das Maß, den Takt, die Regel der Beziehung von Mensch zu Mensch und von dem Einzelnen zur Gesamtheit. Alles, was heute Sozialismus heißt, ist nicht denkbar ohne ihn. Der Titel »Contrat social« ist eine Bindung zweier Begriffe von vorher ungeahnter Gewalt, eine positive Größe, die wohl Strategen und Marschälle, Pedanten und Schulgeneräle, Handlanger und Schuster, niemals aber die Seelen der Völker vergessen werden.

Rousseau war noch ein Drittes, ein zeugender, genialer Schöpfer. Er hatte etwas, das dem ebenso universalen Goethe fehlte, einen musikalischen Atem, ein von Dämonen besessenes, aber durch rhythmische Kraft gebändigtes Herz. Germanisch im Ergreifen des Daseins, romanisch in den Formen des Ausdrucks, an der schwingenden Grenze der Völker, ein Schweizer nicht nur der Geburt, sondern mehr noch der Struktur des Wesens nach. Ein Abenteurer vom Stil Casanovas, aber nicht wie dieses rein romanische Genie nur dem von außen zu Erobernden blind und scheu, frech und atemlos nachjagend. Nein, ein Unterworfener, Süchtiger, ein Empfangender im Leibhaften, ein Zeugender im Geistigen, wandelbar wie Wetter und Wind, doch sich selbst im Ernstesten treu, Dionysos und Apollo ewig im Kampf, ewig vereint. So war er bestimmt, gleich der geliebten, wilden schönen Welt immer außer der Versöhnung zu leben. Und doch, er ersehnte es, das harmonische Ineinander der geschiedenen Sphären. So sind seine Worte, seine Gebilde, seine Bekenntnisse, Phantasmagorie und Porträt zugleich von ihm, eitel, bescheiden, schwermütig, aristokratisch, plebejisch, gesunder Menschenverstand und bis zum Verfolgungswahn gesteigerte Ich-Dämonie. Er, mehr als ein großer, tiefer als ein dämonischer, ergreifender als ein tragischer Mensch: ein exemplarisches Dasein, Symbol des lautersten Kampfes unvereinbarer Gegenkräfte, immer selbstverständlich, nie auf eine Formel zu bringen, ein Stück Natur mit seinem Widerspruch, Rückenmark und Geist, Fleisch und Idee, Musik und Staatsrecht, Menschenliebe und Menschenhaß bis zur Bosheit, Weisheit und völligen Unvernunft.

Solche Menschen werden einmal in heiligen Zeiten geboren; nichts kann sie halten, nichts wird sie fördern, nichts sie unterdrücken. Das Leben selbst preßt sie mit seinen Raubtierpranken zu tiefster Beseligung und zu tiefstem Schmerz sich an die Brust. Halb sind sie Begnadigte, halb Sträflinge. Sie sind nicht zu belehren und sind doch Erzieher, ja alle großen Erzieher sind wie sie vom Geschlechte des heiligen Augustinus. Jeder Schritt, den solch ein Mensch tut, ist neu. Nicht neu im Sinne des noch nie Dagewesenen, sondern neu im Sinn des wahrhaft mühelos Fruchtbaren, des weit über die umgrenzte Zeit hinweg Lebenden. Wenn das Wort erlaubt ist, möchte ich es sagen, ein Tropfen Mozartschen Blutes, nur ein Tropfen, aber doch ein Tropfen, fließt in diesen Adern, und er fehlt in den Adern Goethes, Bismarcks und Napoleons. Es ist das Gnadenhafte, das in reinerem Sinne Zufällige. Zu allem Aussprechbaren gesellt sich ein Atom Unausdrückbares, ein Pfennig gerade vom geheimnisvollsten Schatz der stummen Natur, etwas, das den Menschen heiligt, ihm seine singulare Stellung über alle bekannte Umwelt gibt. Gerade das hat Rousseau, er hat es fast wider Willen: denn sein äußeres Leben ist alles eher als gesteuert. Aber aus unzählbaren Mißverständnissen, Irrtümern, Schwächen, Paradoxien folgert etwas Selbstverständliches, Einleuchtendes, Leuchtendes, Beglückendes, Unvergängliches und, das Schwerste: das Vollendete.

Uhrmachersohn, Hirt auf den Weiden, wandernder Junge, »gelernter« Graveur, Landstreicher, Bettler, Apostat, nie bekehrt, Lakai, nie mit dem Herzen einem andern Menschen dienstbar außer sich selbst, Musikprofessor, Schützling einer schönen, holden, alternden Frau, verzehrt von Begierden, die keine Wirklichkeit je erfüllt, mit Schwäche geschlagen, belastet mit Seele und Gefühl (alle Späteren zogen Genuß daraus), Einsiedler in den Hütten, aber aus Zwang, Mann der ersten Gesellschaften, er, der ungeschickteste aller Salonmenschen, der erdhafteste aller Denker; Gesandtschaftssekretär, Ehemann der Proletarierin, idealer Vater von fünf Kindern, die er sofort nach ihrer Geburt verstößt.

Aber ist nicht er selbst von allem verstoßen, der verlassene Vater, der seelisch einsame Gatte, der verlorene Bürger, wankend im rasenden Leben, immer schuldig, weil er immer Mensch ist, und sonst nichts als das? Tausend Berufe und noch immer nicht der eigene. Tausend Menschen, immer noch nicht er selbst. Mit siebenunddreißig Jahren seine erste Arbeit, nachdem siebenunddreißig Jahre lang die tausend Wirklichkeiten und abertausend Masken des Lebens an ihm gearbeitet hatten. Mit einundvierzig Jahren hört er, der eben berühmt gewordene Philosoph, seine Oper im kleinen silbernen Rokokotempel in Fontainebleau, »Devant le roi«, er, dessen ganzes Leben von innen heraus gegen dieses devant le roi ging. Aber bei ihm wurde dieser Zwiespalt, auch dieser Zwiespalt zwischen dem heiligen Ich und der weltlichen Gesellschaft in wundervoller Weise wirkend und wahr.

Mit fünfundvierzig Jahren, wenn andere es vergessen, entdeckt er das heilige Ich im Roman. Der Musiker ist der Schöpfer der Seele im Roman, der Philosoph zeugt und bildet Herrlichstes. Wer »La Nouvelle Héloise« heute liest, wird überwältigt von den Gesichten dieser glühenden großen Seele. Von dem getretenen, eitlen, leidenden, jubelnden, jammernden, ewig sich selbst widersprechenden Ich, von dieser in allen Lügen wahren Geschichte zweier Herzen. Dieser Roman ist nie übertroffen worden. Von Goethes »Werther« bis heute ist nur die Form ähnlicher Werke gewachsen, nicht der Gehalt, denn aus Rousseaus Buch spricht der wahre, das ist der letzte Mensch.

Mit fünfzig Jahren, mit der gleichen Selbstverständlichkeit, aus derselben Fülle der Welt heraus: »Le Contrat social« und das reinste, höchste Werk: »L'Émile«. Nie ward die schöne, schwere, liebende Hand eines Vaters klarer fühlbar, nie die natürliche Güte eines einzelnen wärmer, nie die Freude am Werdenden beglückender als hier. Er selbst konnte jetzt in unbeschreiblicher Verwirrung durch Europa rasen. Seine Tat bestand fort in Klarheit, unvergleichbar. Ein beispielhafter Mensch. Ein Zeichen der Größe des Menschen. Trotz namenloser körperlicher und seelischer Leiden ein Stolz der Welt. Ein Vater, ein liebender, lebender Geist.


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