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Eine imaginäre Vorrede zu seinen Werken
Balzac ist der Lebendigste unter uns Lebenden. Er ist aktuell, er spricht zu uns, hat ahnend unsere Zeit erfaßt, und von ihm gilt viel mehr als von Stendhal jenes geheimnisvoll kühne Wort: um 1929 wird man meine Werke neu drucken, dann werde ich von allen gelesen sein.
Balzac ist eine Welt. Wie Goethe, wie Shakespeare. Er ist kein Künstler mit seinen Werken, kein treuer Bildner unter seinen Gestalten, sondern eines nur: Weltschöpfer. Er schuf eine Welt, freilich nur eine Welt. Es gibt deren so viel, als es Geister gibt, sie zu sehen, Herzen, sie zu fühlen, Träumer, sie zu ahnen. Aber die Fülle seines Innern andern Menschen zwingend mitzuteilen ist nur wenigen gegeben. Die Fülle ist die beseligende, die gute Probe der sichersten Kraft. Die Fülle ist das Wesenhafte des menschlichen Genies. Stünde uns auch nicht Nacht für Nacht der Sternenhimmel vor Augen in seiner grenzenlosen Fülle, wir wüßten es doch durch unsere geheimste tiefste Ahnung, daß die Vielfältigkeit und die unabsehbare Verzweigung des hold Unendlichen über uns ist, und – selbst der Kärgste, Strengste, Armseligste wird es ahnen – in uns.
Es gibt Welten mit brüchigem Gefüge und solche, die zart scheinen und doch innigst in sich selbst gebunden sind, glühende, die langsam, schwer durch die Milchmeere irren und kreisen, und andere, kühlere, die in reineren Spiralen beflügelt steigen. Solche von einheitlichem, mühelos aufgesprossenem Wuchs und solche, deren Teile ohne Aufhören gegeneinander streben, sich gegeneinander werfen und sich trotzdem nie völlig trennen mögen. Zu dieser letzten Art gehört Balzacs Welt. Und doch, dies ist das Siegel unter die Gültigkeit dieses Schöpfers und seiner Schöpfung – alle, selbst die kleinsten Teile, bezeugen noch den Grundgehalt des Urkörpers. Mag die Schöpfung gebrochen sein, ihr Schöpfer ist es nicht. Jeder Gestalt Balzacs läßt sich ablauschen, wenn man sie faßt als menschlich grenzenloses Schicksal und als einzige, nie wiederkehrende Erscheinung: »Ich bin's, nicht das erste und nicht das letzte Wort, nicht der hellste, noch der trübste Tag, aber Blut vom innersten Blut meines starken Schöpfers.«
Kunstwerke mag man klug mit andern Werken ihrer Art vergleichen, aber eine Welt wie die Balzacs wird nur am leibhaftigen, leidhaftigen, freudhaftigen Leben gemessen. Worte durchdringen ihr Innerstes nicht und erhaschen nicht ihre Wahrheit innen, trotz aller Irrtümer außen. Eine Welt ist da: über unserer Liebe und außer ihr. Sie ist von sich selbst umgrenzt, das gibt ihr in aller Leidenschaft und Trübe ihren Frieden, ihren Glanz, denn sie hat ihren Bund mit sich selbst auf immer geschlossen. Wir fühlen, am Himmel wird sie kreisen, solange es Himmel gibt; höher oder niedriger am Horizont vielleicht den späteren Geschlechtern, aber unnahbar auch diesen und unvergänglich, denn bloß das Kleid ist sterblich an ihnen, die Straßen und Pariser Paläste, die verfallen sind, Geld, Rententitel und Ruhmestitel, Pair de France und Graf von Napoleons Gnaden. Das erscheint uns nicht der unermeßlichen Mühe wert, die deswegen aufgewendet worden ist. Denn, was Balzac Glück genannt hat, vermag uns heute nicht zu erschüttern, es ist etwas anderes, Glück nennen wir es nicht mehr.
Alles bei Balzac ist aus Erde gemacht, alles hat seinen Namen, es spielt die menschliche Komödie weiter; während der Schöpfer noch lebt und an dem Mantel eifrig webt, sieht man die Gestalt, wie sie sich schon lebendig in seine Falten hüllt, sich überlebendig bewegt und fortstrebt.
Das Zeugende, das eminent Männliche dunstet aus jeder Zeile. Es strotzt von Zeugungsfreude jedes der unzähligen Werke, die Balzac in den fünfundzwanzig Jahren seiner Arbeit geschaffen hat. Aber es ist nicht das tierisch Zeugende, das aus ihm bricht, sondern das göttlich Zeugende und daher das trotz allen Grauens Freudige. Und mehr als das: Es ist etwas Heiliges um Balzac, nicht der reinste (östliche) Glanz vielleicht, aber doch ein Schimmer von der Heiligkeit des Augustinus.
Man darf nicht an das Anekdotenhafte seines irdischen Wandels denken, sondern soll den höheren Sinn sehen, der alle menschlichen, gierigen, niedrigen Handlungen leitet. Und es gibt bei Balzac ein Licht, das alle andern überstrahlt. Denn auch das Zeugen vermag den Menschen zu heiligen, es ist für Menschen unserer Zeit das einzig Heilige vielleicht, das ihn an Gottes Seite treten läßt, der alles Lebende aus dem Nichts geschaffen hat, so will es wenigstens unser freudiger Glaube.
Neben dieser unerschöpflichen Zeugungskraft und Lust versinkt der Privatmensch, der Charakter Balzac, sein Ruhm und das, was er liebte, beneidete, haßte, in immer blasser werdendem Licht. Auch Goethes bürgerliche Person ist nichts gegen sein Werk, Mozarts irdisches Leben kettet nichts an die d-Moll-Takte des »Don Giovanni«, und am tiefsten öffnet sich der Abgrund zwischen dem Weltschöpfer und seiner Schöpfung bei dem Deutschen, bei dem Sachsen Bach. Unter diesem Aspekt versteht man es ohne Bitterkeit, daß die Gesellschaft, daß Bürger, Edle und Gemeine, Mann und Frau, daß alle den Mann fliehen, der tut, was sonst nicht Menschen werk ist: Unvergängliches zeugen.
Kein weltschöpferisches Genie wurde bei Lebzeiten als Mensch mit der letzten Leidenschaft geliebt, Mozart so wenig wie Napoleon, Kleist so wenig wie Balzac. Goethe sprach von seiner furchtbaren Vereinsamung unter Menschen nur selten, er hatte Angst vor dem Vakuum, das sich vor einer Erscheinung wie der seinigen notwendig öffnen muß. So sucht er und flieht die Menschen. Wie gern hätte Goethe sich ins Beamtenhafte, ins Stille, ins angenehm Gemäßigte gerettet, um seinesgleichen neben sich fühlen zu können, Kinder zu seinen Füßen zu sehen und den bürgerlichen Frieden des Namenlosen zu kosten. Beschieden war es ihm nicht. Balzac ist nicht Goethe, nicht Napoleon. Zu Napoleon trieb Balzac zwar sein gewaltsam aufgebäumter Entschluß, seine Manie, ein Überwillen, die volonté, aber er hat das Wort ganz ohne den geheimen Untergrund von Freiheit und leichter, beseligender Lebensmöglichkeit verstanden. Was Napoleon in der Weltgeschichte nicht gelungen war (und zwar durch maßlose Überspannung jener volonté) und nicht gelingen konnte – das mißzuverstehen, war Balzacs tragikomisches und doch so fruchtbares Verhängnis. – Was Napoleon in der Weltgeschichte nicht gelingen konnte, weil die Struktur eines Kontinents etwas anderes ist als die Struktur eines Genies und beide sich auf die Dauer nicht versöhnen können – was Napoleon in der Weltgeschichte nicht gelungen war, auf daß das große Phänomen Napoleon sich tragisch ausleben und bis zum bittersten, reinsten Rest erfüllen könne – das wollte Balzac in einer romanhaft darstellenden, mit Tatsachen aufbauenden Geschichte der bürgerlichen Welt erkämpfen, erzwingen. Kampf ist des stillen Knaben, des ungeschickten Jünglings, des massigen, gern schmausenden und prunkenden, gern ruhenden, des lebensfreudigen, lebensstrotzenden, vitalen Mannes selbstgewähltes Los. Das ist an sich nicht groß. Groß aber die Treue gegen das Beste in sich. Una fides. Ein Glaube nur, so prägt er sich, adeliger als die ältesten Geschlechter, sein Wappenschild und schneidet in sein blutendes, gequältes Fleisch seinen Wahlspruch als Wahrspruch für immer.
Er kämpft um sein Werk: achtzehn Stunden am Schreibtisch, fünfundzwanzig Jahre lang Arbeit, Schweiß und Mühe, kaum unterbrochen durch ein hastig herabgeschlungenes Mahl, durch tausend Tassen siedend heißen Kaffees, durch aufrüttelnde Bäder; die vier Wände seiner Kammer immer eng um sich, enger noch die harten Falten seiner Kutte und am engsten die Begrenzung der Erlebniswelt durch die Gemarkung seiner Persönlichkeit. »Eisern die Erde unter ihm und ehern der Himmel über ihm«, so lautet der Fluch der Bibel im fünften Buch Mose.
Kampf um die Form; Form, immer wieder Form. Die herrlich, freudenvoll empfangene Welt will durch die Form geboren werden, sonst ist alles Wolkenrauch, ödes Gespenstergeflüster, Schemen. Und hier scheint sich die Überstärke des männlichen Zeugungswillens zu rächen. Das Formende, das endgültig Wirkende, das mütterlich Gestaltende ist sehr viel schwächer in Balzac als das Zeugende. Daher übertreibt er, völlig in den Schaumgebilden seiner Phantasie erstickend, nachts im Augenblick des ersten Entwurfes. Am nächsten Tage muß er mühsam verbessern, abschwächen, realisieren, im wahrsten Sinne des Wortes.
Er hat Worte hingesetzt, um sie zu verlöschen. Jede Masche ist in der zwölften Stunde eilends geknüpft, aber im nüchternen Morgengrauen muß sie ebenso eilig wieder gelöst werden, man muß sie anders, fester schürzen, die Gestalt ist wohl mit Leben versehen, aber nie hat sie Leben genug in sich. So viele wahre oder reale Angaben, Fassaden und Grundrisse von Häusern, so viel Kleiderschnitte, so viel Detail-Geographie, so viel Preise für alles auf der Welt, von der Mädchenehre angefangen bis zu einem Stück Brot oder einem Perlenkollier, so viel Usancen im Wechsel- und Börsenverkehr, überall in seinem ungeheuren Werke drängen sich Einzelheiten von der höchsten Realität – und doch wird fast nirgends die Wahrheit erreicht.
Vollendung kann nicht erzwungen werden. Fleiß ist den in Freude und leichtem Übermut zeugenden Göttern ein Greuel. So muß es kommen, daß der Unselige, sobald ihm die druckfeuchten Bogen aus der Setzerei gebracht werden, er sie selbst nicht erkennt, denn sie sind nur Schatten dessen, was er erdacht, was er geschaffen zu haben glaubt.
Dann formt er sie dreißigmal um, er hämmert, er feilt, er werkt und schuftet mit herkulischer Kraft. Die ungeheuerste Anspannung verlangt er, erhält er von sich. Er will der erste Mann Europas sein, und wird es, wenn Menschenwille etwas vermag. Ob dieser es vermag, darum geht das Spiel, eine dreißig Jahre dauernde Hasardpartie, auf der einen Seite er, auf der andern die Welt. So sitzt er an seinem Arbeitstische, der ebenso schmucklos ist wie die Tische der Spieler, das Bild seiner Geliebten als Zaubertalisman vor sich. Er setzt seinen Willen ein, er wirft Arbeitsstunden unter den Rechen des Croupiers Chronos, spielt und schuldet, ein unseliger Gewinner, mit jedem Tage mehr. Er wacht und arbeitet, müht sich, bis es ihm schwarz vor den Augen wird, bis er sich selbst nicht mehr fühlt, bis er blind wird vor lauter Sehen, bis er gelähmt wird von zu langem, zu unerbittlichem Wollen.
Alles Menschliche hat seine Grenze. Balzac heißt Realist, und sicherlich war er der erste, der die weit- und seelenbeherrschende Macht des Geldes und seine zeugende Kraft in der Kunst lebendig wirksam machte. Und doch war er blind gegen das Wahre der einfachsten Dinge, und seine Blindheit war nicht Unwissenheit oder die natürliche Folge einer allzu flüchtigen, allzu eiligen Hand. Balzac wußte unermeßlich viel. Was ihm fehlte, war Logik. Daher die vielen Unwahrscheinlichkeiten, daher die vielen Unbegreiflichkeiten in der Führung fast jeden Schicksales, der »Bruch« in der Darstellung fast jeden Ereignisses. Aber das allein würde nichts bedeuten. Seine Welt zwingt gegen die Wahrscheinlichkeit, seine Menschen sind da, obwohl wir sie nicht begreifen. Denn ein Liebender hat sie geschaffen. Aber ist nicht dieser Mangel an Logik die Hauptursache dafür, daß Balzac die letzte Form versagt blieb? Niemand kann das schmerzlicher gefühlt haben als er selbst. Und doch! Szenen von homerischer Wesenheit verdanken wir ihm. Unter den nicht zählbaren Begegnungen seiner Menschenlegionen in den hundert Romanen gibt es hier und dort eine, die ewig bleibt. Ewig bleibt, obwohl sie nicht vollendet ist. Dies ist ihre Tragik. So kann man die Sehnsucht Balzacs nach der Mystik verstehen, seine Anbetung der außerirdischen Vollendung, da ihm nicht wie einem Flaubert die irdische im Maß gegeben war. Daher die laute Liebe zur Monarchie, als zur vollendeten Regierungsform. Solange er lebte, wurde Balzac nicht müde, Thron und Altar zu preisen und das royalistisch-legitimistische System zu verteidigen. Aus dieser Wurzel kommt seine Sehnsucht nach dem Katholizismus, so sehr dieser Katholizismus im Widerspruch zu Balzacs magischer Erfassung der Welt (Louis Lambert) stehen muß. Denn der äußere Bau der römischen Kirche ist das vollendetste Werk menschlicher Organisation auf geistiger Grundlage; man kann es verstehen, daß er durch sie überwältigt wurde.
Balzacs Kampf um den Menschen ist nichts als der Kampf um die Vollendung durch Liebe. Man muß seine herrlichen, mit nichts anderem vergleichbaren Briefe an Eveline von Hanska, seine ewige Braut (das war sie trotz späterer Heirat) gelesen haben, um zu begreifen, daß Balzacs Liebe kein rein sinnliches Problem war. Seine Sehnsucht galt nicht einem fetten Bratenstück aus des Francois Rabelais Küche. Seine Liebe war nicht nur der Trieb und Traum einer übergroßen Vitalität. Aber eine geheimnisvolle, mit Worten und Gründen nicht erfaßbare molekulare Strömung eines Menschen zum andern war sie, die man nur mit dem Fluidum vergleichen kann, wie es in Goethes »Wahlverwandtschaften« zwischen den Seelen geistert und die stillen Körper in zauberhafter Umarmung beseelt.
Gefühle dieser Art können nicht erwidert werden, denn, was ganz aus dem tiefsten, dem unfaßbaren Innern strömt, das erwartet keine Erfüllung von außen und kann sie billigerweise nicht fordern. Eveline von Hanska, die ewige Geliebte, liebt Balzac nicht, doch stirbt er nicht ganz ungeliebt. Seine Mutter liebt ihn; nicht die leibliche Mutter, sondern eine Wahlmutter, Frau de Berny, eine sehr gealterte, sanfte und doch starke Frau. Aber ist es das, was ein Mann von dem Gepräge Balzacs mit seinem ungemessenen Zeugungswillen ersehnt? Paris, strotzend von Wollust, strahlend in Luxus, Paris, die Bühne für die herrlichsten, leichtesten, kältesten Frauen, denen er die göttliche Vollendung und das letzte Laster zugleich andichtet – so sieht er, nie mehr Phantast als jetzt, Paris vor sich, und so bleibt es ihm unerreichbar für immer. Denn seine mütterliche Geliebte, Frau de Berny, hat das schwerste Leben hinter sich. Neun Kinder hat sie geboren, auch viele falsche Geburten überstanden, die Qual einer überlangen Ehe neben einem gelähmten, widerwärtigen Mann, nicht anders als Frau von Stein, ertragen mit mehr als Menschenkraft. Frau de Berny ist nie jung gewesen, nie schön. Aber Frau von Hanska ist es. Die fette, kleine, hochadlige Dame bleibt ewig jung, ewig bezaubernd, rührend und verführerisch bis zum letzten Tage. An ihr bestätigt sich bitter das grimmige Wort Stendhals: »Für einen Bourgeois hat eine Gräfin nie mehr als dreißig Jahre.« Balzac aber war ihr – wozu es leugnen? – nach einem kurzen, halb literarischen, halb erotischen Zwischenspiel bald nur eine unbequeme Last. Er »ging ihr auf die Nerven«, störte ihren Lebensstrom, wenigstens fühlte sie es so, und sie konnte nicht anders sein als sie war. Vielleicht hat sie geahnt, daß es nicht das Balzac-hafte an Balzac war, was sie in ihren fleischigen Armen hielt.
Aber er liebt sie bis zur Selbstvergessenheit, bis in die tiefsten Falten seiner Seele öffnet er die Geheimnisse vor der unfaßbaren Chimäre, vergebens. Und mit jedem späteren Tage nur um so endgültiger das entscheidende Wort: vergebens. Er strengt sich übermenschlich an, für ihr mondänes Dasein eine Notwendigkeit zu werden, wie etwa ein eleganter Handspiegel oder ein bequemer Reisewagen. Aber ihr ist schon dieser methodische Wille verhaßt, das Übermenschliche, das Unmenschliche, das Übermännliche, Zeugungsstrotzende ist ihr fürchterlich. Zarte, nette, nichtige Männer wie Balzacs Freund Champfleury gewinnen sie ohne Mühe, sie möchte lieber von solchen reizenden, einfachen Menschen geprügelt sein als von Balzac geküßt. Als Balzac stirbt, hat er für diese Frau nie gelebt, nie existiert. Es ist erschütternd zu sehen, wie er, schwer stöhnend, mit schwarzem Gesicht, in der Todesstube seinen ungeheuren, von Krankheit und Genie aufgeschwollenen Körper umherwälzt, wie sein Röcheln zum Schreien wird, ohne daß ihn seine Gattin hören oder trösten will, da sie vielleicht gar nichts von diesem ungeheuren Sterben weiß, nichts von diesem elenden, mühsamen Enden.
Denn er stirbt elend, nach zwanzigjährigem Brautstand, nach vierzigjährigem Wandern durch die Misère. Misère war sein nimmermüder Stern, selten wurde er durch parvenühaften Luxus auf kurze Zeit verhüllt, aber nie wurde die furchtbare Ausstrahlung der Misère auch nur durch ein sorgenfreies Jahr unterbrochen. Und was für Anstrengungen hat dieser unselige Mann gemacht, um der Misère zu entgehen! Er hat Spekulationen genial ausgedacht, aber sie sind nie gelungen, da es Balzac an Logik fehlt, und man wohl im Jahre 1920, aber nicht 1820 ohne Logik ein Vermögen, eine »Million« erwerben kann. Da gibt es in Balzacs Hirn raffinierte Schiebungen mit Wechseln, Papieren, Häusern, geschriebenen und ungeschriebenen Romanen, Lotterieplänen, Silbergruben in Korsika und Ananasplantagen bei Paris – aber inmitten dieser Pläne, unter diesem giftigen Stern Misere geht seine Schöpfung auf, entsteht ein Werk.
Er hungerte nach glücklichem Zufall, nach Fortunas Zauberfülle, und dabei ahnte er, im tiefsten Grunde seines Herzens Goethe verwandt, die strenge Gesetzmäßigkeit jeder Erscheinung. So konnten sich sein Werk und sein Leben niemals versöhnen. Er wollte in der menschlichen Komödie die ganze zeitgenössische Welt aus ihren Urelementen neu aufbauen, wie Goethe die seine aus Urpflanze, Urtier, Urlicht und Farbe. Balzac vermaß sich, ein einzelner, ein wie sehr Einsamer! zu einem gotischen Dom, ganz von seiner Hand gebaut. Ein Riesenwerk wurde es, aber keine gotische Kirche, nur ein babylonischer Turm im Zustande steten Bauens und steter Zerstörung. Er war einsam, er hauste für sich allein, ein Mönch von der strengsten Regel. Wie in seine Klausur die ungemessene Fülle von Tatsachen dringen konnte, das ist ganz ungeklärt geblieben. Mehr als das, es hat niemand – und das beschämt seine Kritiker, die ihn bei Lebzeiten totgeschwiegen, nach seinem Tode falsch gedeutet haben –, es hat niemand im Ernst darnach gefragt. Eines ist sicher oder scheint sicher zu sein: Balzac hat nie naturalistisch (zolaistisch) beobachtet. Wann hätte er Zeit dazu gehabt? Er war wie der reiche Fremde in Chamissos »Peter Schlemihl«, der aus der Tasche seines Überrockes Gartenzelte zieht, Teppiche, schöne gesattelte Pferde. Der Fremde war dem Teufel verschrieben. Welcher Dämon aber sprach, wirkte, atmete aus Balzac? Ein Zeugungsdämon brach mächtig aus diesem kleinen dunklen lauten Mann, wie aus andern hohen Geistern ein Zerstörungsdämon bricht.
Wie der wirkende Halbgott Herakles kündete Balzac den Mut, den Übermut, die Gottähnlichkeit des Menschen. Er schuf. Er schuf aus dem Wahnsinn menschlicher Leidenschaften, aus dem Willen zur Macht, aus dem eitlen Stolz, aus der teuflischen Bosheit, aus der Wollust und dem Blute, aus dem Geiz und aus der Güte, seltener auch aus dem leisen, zarten, wartenden, horchenden Herzen schuf er Werk an Werk, Tat über Tat. Ich möchte sie nennen, wie man Sternbilder nennt, Saturn, Orion, Plejaden, Mars, Jupiter, Bär und Waage, Omega, Andromeda und die anderen bis zu den Gestirnen des Pols und der Wiederkehr. Balzac ist nichts. Seine Werke aber sind: Vater Goriot, Cousine Bette, Vetter Pons, die Elendshaut, Glanz und Elend der Kurtisanen, Verlorene Illusionen, Oberst Chabert, Landarzt, Eugenie Grandet, Louis Lambert, Seraphitus Seraphita, Die Suche nach dem Absoluten, Modeste Mignon, César Birotteau. Es ist eine Milchstraße. Wenn man lange noch sucht, wird man neue Sterne in ihr entdecken. Ihr Glanz wird Zeiten über Zeiten überleben.