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Über die Liebe

Alle Regierungen trifft der Vorwurf, Macht an Recht geschmiedet zu haben. Einige haben es früher getan, haben getrotzt und getrieft von diesem bösesten Glauben, andere haben sich dieses »Kampfargument zu eigen gemacht«, gewillt, dem Gegner die Wahl der Waffe zu überlassen, ihn nur durch die Qualität der Waffe zu übertreffen. Die Welt ist greisenhaft geworden. Aus ihren Fugen bröckelt Mißtrauen, das macht sie so schwer zu ertragen, so schwer zu lieben für mich.

Dieses »Recht bedeutet Macht«, dieser folgenschwerste aller Fehlschlüsse, ist nicht neu. Er ist unter Darwins Einflusse zu einem Allgemeingut der europäischen Zivilisation geworden; ich finde es bei preußischen, stahlgehelmten Seelen, ich finde es bei Dostojewski, dem ewig wandernden, dem ewig aus Dämonie zur Güte, aus Güte zum Verbrechen schreitenden.

»Freilich, es ist ein Kriminalverbrechen begangen«, sagt Raskolnikow, »freilich, der Buchstabe des Gesetzes ist verletzt und« (welch ein und!) »Blut vergossen worden; nun, so nehmt doch für den verletzten Buchstaben des Gesetzes meinen Kopf, und genug damit! In diesem Fall hätten aber auch viele Wohltäter des Menschengeschlechts, die ihre Macht nicht ererbt, sondern sich ihrer bemächtigt haben, gleich bei ihrem ersten Schritt hingerichtet werden müssen. Jene aber haben ihr Ziel beharrlich verfolgt, und deshalb sind sie im Recht; ich aber ...« Mag sein, daß nicht der letzte tiefste Dostojewski aus diesem Raskolnikow spricht, aber ein Dostojewski spricht aus ihm. Denn Raskolnikow sagt hier sein Bekenntnis, der menschlichste Verbrecher, der Mann des Leidens, der Mensch, der das Wunder Sonja erlebt hat, die christliche Heilige der Demut, Dostojewski, der Mann auf der Brücke, der guten Entscheidung zugewandt. Raskolnikow ist ein guter Mensch. Ist er es nicht? Ist er nicht der brüderliche Bruder, der liebende Sohn, der künftige gute Gatte? Sein Verbrechen hat er eisern eingeschlossen in den starren Kampf des fieberhaften Wirbels aller Seelen, er steht davor und schützt es mit dem Letzten, das er hat; aber er verrät es doch, er verrät sich selbst, dem Fremden? Dem Säufer in der Erniedrigung, der Dirne auf dem demütigen Weg? Nein, dem präsumtiven Bräutigam der Schwester, Rasumichin; er gibt sich hin aus brüderlichen Schutz- und Schirmgefühlen, aus Obsorge für die arme, seelenempfindliche Mutter. Der Mörder, der gute Sohn.

Leonhard Frank, über dessen hohen Willen zur Menschlichkeit wir uns im tiefsten freuen, schildert seinen Helden, der vorbewußt gemordet hat; er hat gemordet, nicht aus Gewinnsucht, sondern aus Sehnsucht nach Erlösung, nach Freiheit der Erinnerung; aber ein Mörder ist er; und als dieser Mensch vor der Todesstrafe steht, erscheint seine alte Mutter, rührend mit Kissen für die Nacht beladen, Tränen, menschlichstes Gefühl hier wie dort. Wer stünde hier ohne Ergriffenheit zwischen dem Blut und den Tränen und fragte nach der Mutter des gemordeten alten Lehrers, seiner Tochter, nach seinen »Lieben«? Aber auch hier, wer sieht dies nicht, der Mörder, der gute Sohn.

Der Mörder ist der Mensch der Macht. Er ist mehr als der böse Gedanke, der verruchte Trieb. Es ist außerdem das Können, das »den Verhältnissen gewachsen sein«, es ist die Bestätigung, die richtige Erfüllung des Höllischen, das in unserer Gesellschaft, in unserem Miteinander ist. Hier – auf der einen Seite, Gewalt, dort – auf der andern Seite, Gefühl, hier »Recht bedeutet Macht«, dort dieses Unsagbare, dieser einzig herrliche Weg, das » ich liebe«, der wunderbare Umschwung der Seele. Dieses Hier und Dort vereinigt sich nicht. Eines lügt, denn das Ganze lügt.

Die Zeit ist so, daß Blindheit vielleicht Freude und alle Seligkeit wäre, sicher aber Unrecht ist. Ich will nicht blind sein. Zu erkennen glaube ich einen Zusammenhang zwischen Familienliebe und Mord. – Ich sehe die Tastatur der Seele verschoben um einen Ton, alles ist um eine Stufe heraufgerückt oder herab, das relative Gleichgewicht, die lügnerische Harmonie ist erhalten, und doch, jede Taste schlägt falsch, und an der Dissonanz zerschmettert sich alle Welt bis zur letzten Verzweiflung.

Die Liebe, die ich im Bewußtsein besonderer Güte an meine Mutter, an mein Kind wende, diese Liebe fehlt der Welt.

Die Liebe, die ich im Bewußtsein besonderer Güte wende an meinen Glauben, an meine Erinnerung, an der Heimat hohes warmes Haus, an meine Sprachverwandten, die meines Atems, mehr als das, meines Blutes sind, mit Blut wird diese Liebe jetzt gezahlt. Und nie ganz gezahlt. Wer hat den infamen Mut, von »unnützen Opfern« zu reden, die etwa ein unvorsichtig oder ein gar zu rücksichtslos eingesetzter Angriff gekostet hat? Kein Opfer kann nützlich sein, kein Erfolg lohnt Blut, nichts wird gebessert durch gewaltsamen Tod, keine Idee ist das Leben wert.

Ich verachte, ich hasse bis zum letzten Fanatismus jede Idee der Meistbegünstigung.

Sprache, Nationalität, Glauben sollen einem seelisch Fremden recht geben auf meine Liebe, weil Nationalität Stammesverwandtschaft ist.

Meine Sprache nenne ich Muttersprache oder Mutterlaut, und es ist notwendig, solche Redensarten der Lesebücher zu packen und zu zerreißen, zu zerschmettern in Atome, denn sie selbst haben mich und meinesgleichen gepackt und zerrissen.

Weil ich die schutzlose Schwester treu im Herzen trage, weil ich sie schütze vor der bösen Welt, deshalb ist die Welt böse. Der Kern ist die böse »Verbrüderung«, die Entmenschung durch die Familie. Der Kern ist die Mutter, in der ich lügnerisch und ohnmächtig sentimental »mein besseres Teil« liebe, da ist, da starrt, heute noch unangetastet, ehern die letzte Grenze, die ich um mich schlage.

Wer wundert sich über das Mißtrauen, den stinkenden, faulenden Unglauben, der strategische Sicherungen, der Landesgrenzen fordert, der einverstanden ist mit einer Wiederholung der fürchterlichsten Weltbefleckung unter der einzigen Voraussetzung, daß er und vor allem seine Kinder geschützt seien durch Meistbegünstigung: »der Kampf? Gut, der Kampf. Aber nur im Feindesland, und wer es wagt, einem mir durch Familienbande oder Sprach- und Landgemeinschaft Verwandten ein Haar zu krümmen, der büße in der bittersten Verdammnis!«

Mißtrauen ist verbrecherisch, mehr als das heiße Verbrechen eines ist – berauschte Tat, denn es verseucht wie Pest die Welt. Ich verurteile in jeder Form das Mißtrauen gegenüber der allgemeinen, grenzenlosen Güte des Menschen, gegenüber der Fähigkeit des Menschen an sich, geliebt zu werden. Daran möchte ich selbst immer glauben.

Sind aber die »Tatsachen«, die »Geschichte« (die doch nur eine Geschichte des Bösen im Menschen ist), ist das alles zu stark, zu beweisend, ist also in der menschlichen Seele nicht Güte, kann sie durchaus nicht geliebt werden bis zu ihrer tiefsten gemeinsten Inkarnation, dann ist Hölle in der menschlichen Seele, dann fehlt Hölle der Mutter nicht, meiner Mutter fehlt Hölle nicht, und kein Kind ist frei von den Pranken des Satans, und mein Kind trägt Mörderblut an seinen Händen und in seinen Adern unter seinesgleichen.

Wer hat den infamen Mut, wer hat sich tief genug gewälzt in Unverschämtheit, um nach diesen vier fürchterlichsten Jahren voller Scheußlichkeiten, die die Menschheit teils ertragen hat, teils ausgeteilt hat, sich noch im Spiegel zu sehen, sich auszunehmen, sich als einzelnen gut und menschlich zu finden, seine Familie, seine Nation zu verteidigen gegen die allgemeine Verdammnis? Kann Erfolg, kann »restloser Sieg«, kann höchster Triumph der Macht jemandem das Gefühl des Rechtes geben?

Und wohin nun? Wohin heute, am 2. Oktober 1918?

Es heißt, daß man nur »in Nationen denken« kann. Nationen, behaupten noch die am meisten Gemäßigten, seien die niedrigste Recheneinheit der Geschichte.

Wären sie es nur, könnten sich Ideen und Grammatikbücher und Landesgrenzen, »Schollen« bekämpfen und losstürzen mit Überfällen auf ihresgleichen und sich gegen ungerechte Angriffe von ihresgleichen wehren.

Wozu sollen Menschen gegen Menschen stehen, wenn Ideen sich mit Ideen bekriegen wollen?

Aber hier ist es: Nicht steht einfach Mensch gegen Mensch, sondern der Mensch mit einer höheren Idee »opfert sich« im Kampf gegen Menschen mit einer noch höheren Idee – oder mit noch mehr Macht. Von der Macht schweigt man dem einzelnen gegenüber, aber mit »noch höheren Ideen« wird nicht gespart. Er soll nicht für sich selbst sterben und leiden, drei Tage verdurstend, durch den Ischiatikus-Nerv geschossen in der zusammengestürzten Kaverne am Monte Cimone liegen, denn was soll diesem alle Macht, alle Zukunft, alle »wirtschaftlichen Vorteile und Aufschwünge«, alle nationalen Lebensnotwendigkeiten? Er hat ausgesorgt.

Aber er hat andere, die ihm nahe sind, Meistbegünstigte, denen er unberechtigte Liebe zugeschanzt hat, denen zuliebe er die ganze Menschheit, Gott und das Tier, alles, alles verraten hat, und für diese verrät er sich selbst. Nein, der gute Sohn der guten Mutter (inmitten der leider auf ewig bösen Welt) war im guten Glauben. Im besten Glauben sparte er nicht mit der Todesstrafe, um »seine armen guten Geschwister zu schützen«.

Seit langem war die Liebe, das Herrliche, das grenzenlos Schwingende organisiert, sie »ging auf Karten«. Anteil hatte jede Blutsverwandtschaft. Wo aber war die »Vagabundage der Liebe«, das »liebet euren Nächsten wie dich selbst«, wo aber nie der Mann des verwandten Blutes gemeint war, sondern der zufällig Nächste, jeder, der gerade des Weges kam; daß man bei dem ersten, der kommt, beginnen muß mit der Erlösung der Welt, das ist der Sinn.

Häuft man aber verrucht in Geiz und Mißtrauen die Liebe in den sicheren Speichern der unverlierbaren, unzerstörbaren Mitglieder der Blutsverwandtschaft und Sprachverwandtschaft auf, dann wundere sich niemand, wenn Blut in springenden Fontänen über die Geizigen stürzt und der Haß der brennenden Sprache auch die Fernsten vergiftet in der innersten Seele.


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