Josef Wenter
Laikan
Josef Wenter

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Der große Sturz

Trotz des rufenden Meeres verweilen die Lachse längere Zeit am Rande des Bodensees und im sanften Zug des ausfließenden Rheins. Vielleicht warten sie auf neue Wanderer, vielleicht rasten sie noch immer aus vom schweren Seewasser und seinem größeren Druck. Jedenfalls sind sie voll angespannten Lebens und schießen schattengleich, ihre Kräfte tummelnd und des zurückgelegten Weges froh, im dunkelgrünen Wasser umher, das fast ohne Wellen meerwärts eilt.

Dann, eines Abends, ballt sich die Schar, und als Laikan die Spitze nimmt, treten sie die Wanderschaft in der schönen und von Urzeiten her getroffenen Ordnung an.

Jetzt sind wieder Brücken und Häuser häufig. Menschen, die an den Ufern stehen und gehen, gewahren die Meerpilger und freuen sich, daß in der unendlichen Natur alles seinen geordneten Lauf hat wie eh und je, und 131 es erfüllt sie mit großem Trost und mit der furchtsamen Hoffnung, daß auch in ihrem Leben der gerechte und sinnvolle Ruf, der allem Erschaffenen Freude gibt, wieder lauter werden wird.

Viel Neues begegnet den Lachsen, aber sie halten sich nicht auf. Die schöne Ordnung wird manchmal gestört, wenn bitteres und beizendes Wasser ihre Straße verschwemmt. Verschieden ist diese Bitternis, und manchmal ist sie nicht schwer zu überwinden. Einmal aber prallt Laikan erschreckt zurück. Solche Schärfe und Bosheit des Elements war ihm nie begegnet. Er versteht es nicht, warum das Dasein, das ihn liebreich umgibt, plötzlich feindselig wird. Denn eine grimmige Feindseligkeit ist im Schwange, und vielleicht steht auch hinter ihr der Mensch?

Als Laikan zurückprallte, ward aus der schönen Reihe gleich eine wimmelnde Herde. Hierhin und dorthin schossen die ungestümen Leute, denn die Hintersten wußten noch nicht, was geschehen war. Beim Vorpreschen erst gewahrten sie die milchigen Wolken, die tückisch in ihre Welt hinabsanken, und die ersten Schwaden der Tödlichen wallten feindselig im freundlichen Element. –

Aber das Meer ruft! Und wenn man bestenfalls zweihundert Kilometer Stundengeschwindigkeit von seinen Rudern verlangen kann – freilich nur für einen kurzen Vorstoß oder auf der Flucht –, dann wagt man das Meer gegen den Tod!

Weit hinter dieser tödlichen Gegend, wo von der anderen Seite ein klarer Bach zufließt, verhält Laikan unter vielen fremden Leuten, die in der reinen Luft sich hier 132 tummeln, und sehr bald sind die Lachse wieder vereint. Alle haben die Todesfahrt gewagt, aber nicht alle sind durchgekommen. Daß einige flußaufwärts in Tümpeln sich drehen, auf dem Rücken liegend und mit glasigen Augen, das sieht Laikan nicht. Aber er gewahrt in der Schar manche, denen die Augen ausgequollen sind; andere, denen die Kiemen wie aufgerissen starren, und die roten Adern dahinter ins Bläuliche verfärbt. Einigen kennt man an, daß sie blind geworden sind, denn sie halten sich eng an die Genossen, gleich Gründlingen, die Hochzeit feiern, und ihre Augen sind weißlich und stumpfen Blicks. Dann treiben draußen in der starken Strömung Tote vorüber, die weitum beizende Witterung verbreiten und nach vielen Tagen erst auf Grund geraten, wo sie von Aasfressern langsam verschlungen werden. Die Lachse fühlen, daß das Leben ernst wird.

Die Meerpilger halten sich jetzt inmitten des Flusses und fühlen die Strömung stark anschwellen. Fernher kommt tiefes Rauschen, und donnerndes Getöse wird immer gewaltiger. Enger schließt die Reihe sich, und es geht ein stolzes Heimatgefühl durch die Pilgerseelen, weil nach vielen, vielen Wochen ihre Welt wieder zu gischten und zu brausen beginnt. Neugier und Selbstgefühl überwältigt die Vorwärtsstürmenden.

Dann ist es schon kein Ziehen mehr, dem man nach Lust sich hingibt oder widersteht nach Lust. Man wird hingerissen, und die uralte Sitte, in solcher Lage den Kopf gegen die Strömung zu wenden, ist mächtig. Wider löst die Reihe sich in kleine Trupps auf.

Jetzt zeigen die Wanderer ihre verschiedenen Gesichter. 133 Da sind sanftere, weichere, die ihre erste Jugend nicht in brausenden Bächen verlebt haben, deren Mütter nicht so hoch hinaufstiegen, um die Nestmulde zu bauen. Träge gibt es, die, noch ehe sie ausgeschlüpft waren, vom Menschen in langsam fließende Altwässer gesetzt wurden und dort, behütet vor den Grauen, lebten und sich gut und ohne Mühe ernährten. Schwächliche sind dabei, deren Eltern noch jung waren, als sie Hochzeit feierten; und Abgekämpfte sind unter ihnen, die den Grauen oder anderen Feinden noch aus Maul und Fang entrannen. Andere haben verkrüppelte Rücken; der Eisbruch und Gewitter haben sie herrisch mit Geröll und Geschiebe abwärts gestoßen, und manch einem gehorcht das Steuer nicht so, wie er es brauchte. Einigen stecken Menschenhaken im Gaumen, die sie zwar lang nicht mehr schmerzen, die aber das Beißen erschweren; die müssen sich kümmerlich ernähren und sind nicht sehr tapfer. Blinde und Schweratmende sind unter der Pilgerschaft, die sich ängstlich mühen, mitzukommen. Über allen ist das herrische Gesetz, und der Ruf des Meeres hämmert in ihren Herzen.

An aufstarrenden Klippen teilt sich der Fluß in brausende Bäche. Das kennen die Lachse. Droben in der Heimat waren es Blöcke, die das Wasser zornig machten, daß es ausweichen sollte; und es ist den Edelingen eine besondere Lust, zorniges Element zu spüren.

Was aber hier geschieht, scheint ihnen doch zu überwältigend. Natürlich sehen sie nicht, wohin der Sturz geht; daß er aber schrecklich sein würde, sagt ihnen das Getöse. 134

Die Ängstlichen und Trägen machen kehrt. Eine Weile kämpfen sie sich sogar flußaufwärts und suchen friedlichere Straßen. Aber solchen Gefallen tut der Rheinfall seinen Pilgern nicht. Er prüft sie auf ihre Kraft. Denn wie wollen sie ihm auf den Rücken springen bei der Heimfahrt? Wenn er sich ihnen entgegenstemmt? Jetzt hilft er ihnen doch, meint der Rhein, wenn auch rauh und herrisch!

Aber von der Heimfahrt wissen die Lachse nichts. Ihre Heimat wird das Meer sein! Zeitlebens werden sie im Meere bleiben, ist ihnen. Oh, sie haben glückselige und ahnungslose junge Herzen.

Laikan verhält mühsam vor dem Gebraus, und die Stolzesten der Sippe mit ihm. Ein paarmal queren sie den Fluß. Es ist, als ob sie sich Mut machen wollten. Vielleicht suchen sie auch einen weniger donnernden Weg.

Taucht es in ihren Seelen auf, daß die Vorfahren jahrtausendelang diesen Sturz getan haben, viele, viele Male jeder einzelne? Vielleicht ist solches Wissen in ihnen lebendig. Vielleicht haben auch die Vorfahren sich gestaut vor diesen Klippen, im Schreck vor dem Gedröhn; und sind vom reißenden Zug überwältigt worden und haben plötzlich gefühlt, daß das Element hier auf seinem Willen besteht und Quertreiber nicht duldet; haben dann plötzlich zu rudern aufgehört und zu steuern und haben sich überwunden und stolz zugleich dem übermächtigen Willen preisgegeben, weil sie fühlten, daß auch dieser Wille das Meer will und seinem Ruf gehorcht.

Weit hinter Gischt und Geschäum, hinter Strudel und Gebraus sammeln die Lachse sich; schwer atmend und 135 blitzenden Auges verhalten sie, die Köpfe gegen den Strom gewendet, fernher noch das Getöse erhorchend. Manch einer ist nicht mehr aus den kreisenden Wassern getaucht, hinter denen Hecht und Barsch, Wels und Forelle ihre Raubwinkel haben, und behaglich sich nähren während der großen Wanderzüge der Edelleute, deren viele vom Sturz zerquetscht und umhergewirbelt, kopflos von Gebraus und Gedröhn, ihnen zu leichter Beute werden.

Die Überlebenden aber haben pochende Herzen vor Stolz und Überwinderfreude; und als Laikan jetzt sich an die Spitze des Zuges stellt, fühlen sie, daß das Meer den Siegern näher und ihnen freundlich ist.

 


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