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II

Ob eine der Damen vielleicht erlebt habe, daß aus einem Kürbiskern eine Orchidee wachse, fragte Frau Amtsgerichtsrat Ewerling, geborene Pfeffer, hob ihr Lorgnon vor die grünlichen Augen und sah prüfend von Gesicht zu Gesicht. Nein, niemand hatte das erlebt. Nun also! Und den Damen, die den Vorzug eines zuverlässigen Gedächtnisses besäßen, sei vielleicht noch erinnerlich, was für Blüten dieser Kern ehemals getrieben habe, der sich nun so exotisch gebärde. Vielleicht frage man Herrn Professor Boas, vielleicht die Gartenbesitzer der Stadt und Umgebung, vielleicht den in Ehren ergrauten Nachtwächter Kiepel.

»Kiepel sieht immer doppelt«, warf die Frau des Postmeisters schüchtern ein. »Er sagt, daß es bei uns spuke, weil in der Nacht zwei Briefkästen an der Post hingen. Und am Tage sei es nur einer.«

»Kiepel hat zwei Söhne für das Vaterland geopfert«, erwidert die geborene Pfeffer. »Ein solcher Mann sieht nicht doppelt!«

»Aber waren es nicht vielleicht Jugendstreiche?«

»Wenn Sie die vermutliche Erzeugung einer Leibesfrucht Jugendstreiche nennen, meine liebe Frau Postmeister, so müssen Sie eine merkwürdige Jugendzeit gehabt haben. Lina ist den Damen bekannt. Lina war im Pfarrhaus Mädchen. Lina bekam ein Kind, in einem christlichen Hause! Das Gerücht wußte zu erzählen, daß jene ›Orchidee‹, die ihren Hut auf dem Kopf tanzen läßt, an diesem Kinde einen beträchtlichen Anteil gehabt hat. Die ›Orchidee‹ ist damals sechzehn Jahre alt gewesen. Das spricht wohl Bände!«

Die Frau des Postmeisters war erst drei Jahre in Riechenberg. Sie wußte, daß ihr Mann in gesicherter Beamtenstellung war, und bekam zwei rote Flecken auf ihren hübschen Wangen. »Lina bekommt, soviel ich weiß, sehr gerne Kinder«, erwidert sie, »an denen mehrere einen beträchtlichen Anteil haben sollen. Und was die Gerüchte betrifft, so sagt mein Mann, daß Riechenberg ein Mistbeet sei, auf dem Gerüche und Gerüchte besser wachsen als am Amazonenstrom.«

Es ist kein gutes Zeichen, daß Frau Ewerling den Teelöffel in die Hand nimmt. »Exotische Kenntnisse«, sagt sie, indem ihre linke Hand mit dem goldnen Kreuz spielt, das sie an Stelle eines Busens trägt, »sind in einem Hause vielleicht nicht verwunderlich, in dem dieser glorreiche Staat Beamtinnen unterhält, die exotisch und erotisch mitunter zu verwechseln lieben. Die mit der monarchischen Gesinnung auch das Korsett abgelegt haben und um zehn Uhr nachts unabweisliche Gelüste nach Aspirintabletten verspüren.«

»Meine Damen!« mahnt die Frau des Pfarrers, in deren Haus Lina ihre erste Leibesfrucht geboren hat, und legt ihre Kreuzstichstickerei zusammen. Sie weiß immer, wenn der Vorhang sich zum Fallen rüstet.

Es ist auch kein gutes Zeichen, daß die Frau des Postmeisters lächelt und ihre Fingerspitzen zusammenlegt. »Sein Korsett pflegt nur abzulegen«, erwidert sie, »wer damit nicht auch gleichzeitig seinen Körper ablegen muß, und Fräulein Bierkandt hat einen sehr hübschen Körper, wie jeder beim Baden sehen kann. Ich jedenfalls finde Herrn Wiltangel sehr interessant und auch sehr teilnahmsvoll für seine Vaterstadt, denn er hat mich gestern gefragt, wie es seiner lieben Frau Cayenne gehe. Cayenne? Ja, der gebornen Pfeffer. In Amerika brauche man nur Cayennepfeffer. Er sei sehr scharf, flache, unansehnliche Schoten, aber als Beilage zu einer alten, zähen Pampakuh sei er nicht zu verachten. Und er sah so freundlich und kindlich aus, als er das alles erzählte.«

Die geborene Pfeffer steht so klirrend und gerade auf wie der Signalarm in Kiekebuschens Stellwerk. Hiermit scheine ihr der § 168 des Strafgesetzbuches gegeben zu sein. Das weitere werde ihr Mann zu veranlassen wissen.

Sie ging, und sie wußte, daß dieser Name ihr bis über das Grab hinaus anhaften würde.

Nein, das Debut des Exoten hatte eine geteilte Aufnahme gefunden. Er hatte Besuche gemacht, formlose, wahllose und an keine offizielle Zeit gebundene Besuche. Es war schlimmer, als wenn er sich in seinem Mansardenzimmer hätte einmauern lassen. Er machte Besuche bei August, um neun Uhr abends, auf der Halbinsel, die von den Weidegärten der Domäne ausgefüllt wurde. Dort lagen sie unter den alten Eichen auf dem hohen Ufer, bei einem Feuer, und der Fischereiaufseher, der um Mitternacht heimkehrte, fuhr von seinem Steuersitz empor, weil neben dem Boot zwei Köpfe auftauchten, aus deren einem ein furchtbares, klagendes und leise ersterbendes Gebrüll sich auf ihn warf, so daß er den Motor auf die höchste Tourenzahl schaltete. Es war das gewesen, was die Gymnasiasten zwei Tage später den »Ruf des Puma« nannten und zu allen Abend- und Nachtstunden in den Gassen Riechenbergs schauerlich ertönen ließen.

Und erst eine Woche darauf machte er Besuch bei Augusts Dienstherrn, dem Domänenpächter, der sein Schulkamerad war und von dem er sich ein Reitpferd lieh.

Er machte Besuche bei dem Hausmeister des Gymnasiums, Schleichhase, den die Schüler, schon zu seiner Zeit, das »Triptychon« nannten, weil er beim Spazierengehen gegen den Wind seinen langen, zweiteiligen Bart rechts und links nach hinten auf die Schultern legte und es von weitem aussah, als habe er drei Gesichter. Und die Schüler behaupteten, daß seine Nebengesichter menschlicher aussähen als sein Mittelgesicht.

Er machte diesen Besuch in der großen Mittagspause, in der Schleichhase am Hofgitter stehen mußte, um zu verhindern, daß die Schüler – wieder einmal – Apfelkuchen holten und auf der Seepromenade Zigaretten rauchten. Er stand inmitten einer zusammengeballten Schar von dreihundert Gymnasiasten, stopfte Schleichhase, der ihn oft genug gerettet hatte und dessen leicht gerührte Augen voll Wasser standen, kleine geheimnisvolle Pakete in die Taschen, ließ die Melone tanzen, als die Boa sich vorüberwand, fragte, wer mit ihm ein Campfeuer machen wolle, und entzündete in den Herzen der eingesperrt Zurückbleibenden ein wildes Feuer der Sehnsucht, der Auflehnung und Unbotmäßigkeit, das sich in vielen unter der Bank geschriebenen Zetteln äußerte, in Pfeif- und Heulsignalen und in der für Riechenberg verblüffenden Erscheinung, daß eine Woche später die ganze Obersekunda in Melonen zur Schule ging, die sie in der Pause mit verrenktem Körper tanzen zu lassen versuchte, bis der Direktor »von Amtswegen« gegen diese »Irreleitung jugendlicher Kräfte« in einer Aularede einzuschreiten sich genötigt sah. Worauf das Übel weitere Kreise zog, als zu erwarten gewesen war.

Und er machte keinen Besuch bei Schleichhases Dienstherrn, dem Direktor Birkenwald, der nach dem allgemeinen Schüttelreim »Der Knabe lief zum Birkenwald, denn Leopillen wirken bald«, »Leopille« genannt wurde, weil er ihn auf der Straße traf und von ihm eindringlich zum Stammtisch eingeladen wurde. Und da Wolf bei dieser Begegnung zu Pferde saß, konnte er mit gutem Gewissen erwidern, daß er sich das erst »bereiten« müsse.

Er machte auch Besuch bei Kiepel, seinem alten Widersacher, und zwar in einer Regennacht in dem kleinen Schutzhäuschen, das für Kiepel vor dem Bürgermeisteramt aufgestellt war. Er versah sich dazu mit einer Handvoll Brasilzigarren und einer Flasche Genever, und so feierten sie unter Verzehrung dieser »Präliminarien« eine für ewige Zeiten beschworene Versöhnung, indes der Regen melancholisch auf das Holzdach klopfte, und die Schritte der wenigen Fußgänger wie von einem anderen Erdteil zu ihnen hereinklangen.

Von diesem Besuch erfuhr Riechenberg erst am Morgen des nächsten Tages, als Kiepel, der den »Indianer« blutsbrüderlich bis zur Apotheke geleitet hatte, in der Höhlung der steinernen Vortreppe schlafend gefunden wurde, eine Geneverflasche in den gefalteten Händen, und allen Versuchen, ihn zu erwecken, einen beseligten Widerstand entgegensetzend.

Er machte auch Besuch bei Lina, einen sozusagen offiziellen Besuch zur Vormittagszeit, der zeugenlos verlief und währenddessen Lina in aller Unschuld ihre jüngste Leibesfrucht nährte, wozu Wolf bemerkte, daß das in Südamerika alle Mütter täten, auf der Straße wie in der Eisenbahn. Sie begleitete ihn vor die Tür, als er ging, und stand in der Sonne, nachdenklich hinter ihm und der Schar mangelhaft gewaschener Kinder herblickend, die ihm ein grabesstilles Geleit gaben. Und auf die etwas zu freundliche Frage einer Nachbarin, ob der Herr Indianer sie als Wirtin für sein Indianerhaus gemietet habe, gab sie, nach einem verlorenen Blick in das Gesicht der Fragenden, die rätselvolle Antwort: »Da sid ju all' man Schiet …«

Es blieb in Riechenberg nichts verborgen, und so fragte Frau Wiltangel beim Abendessen des nächsten Tages, ob zu dem Empfangsdiner, das er vermutlich geben wolle, auch Fräulein Lina eingeladen werde. Von den andern wisse sie schon: August … Schleichhase … Kiepel …

Er sah zerstreut auf. »Man rechnet anders in der Welt, Mutter, als in Riechenberg«, sagte er dann. »Und im Urwald könnte Lina besser sein als die geborene Pfeffer … nicht nur in dem Amerikas …«

»Es muß wohl Mode in der Welt sein«, erwiderte sie, »Töpfe zu zerschlagen, die andre geleimt haben.«

Er machte noch andre Besuche. Es waren viele seiner Schulkameraden in und um Riechenberg festgewachsen. Er trat in ihre Häuser, saß auf dem Sofa, trank Kaffee, rauchte und erzählte. Die Kinder, den Finger in der Nase, starrten aus den Ecken zu ihm herüber. Die Augen der Frauen waren ein wenig erschrocken zu seinen grauen und kühlen Augen aufgeschlagen, und er konnte durch sie hindurchsehen bis auf die dumpfe, schlafbefangene Trägheit ihres Lebensbettes, aus der sein Dasein und Ruf sie aufstörte, wie der verwehende Klang einer verschollenen Sehnsucht, der unruhig machte, gereizt, begehrlich, traurig, und die im Blute blieb als ein feiner und verbotener Rausch. Und die Gesichter seiner ehemaligen Kameraden waren ihm wohlwollend-aufmerksam zugewandt, nicht ohne Interesse, aber gleichsam mit einer lächelnden Nachsicht, wie der Erzählung eines Streiches, einer Bierreise, einer verunglückten Verlobung. Allerdings, zwanzigtausend Morgen, das sei immerhin etwas, das stelle immerhin etwas vor, wenn man natürlich auch in Rechnung stellen müsse, daß die Kultur der Bewirtschaftung doch eben reichlich primitiv sei. Hier lebe man eben enger, schwerer, aber auch verantwortungsvoller. Das Vaterland brauche jeden Mann, und »im Unglück nun erst recht«.

Wie Algen sind sie, dachte Wolf, in ihre säuerlichen Gesichter blickend und schweigend ihren Ausführungen lauschend. Festgewachsen in der Strömung, schaukelnd und einschluckend, was die Welle ihnen bringt …

Dann ging er nachdenklich heim, ohne Hochmut, aber mit müden Gedanken, wie aus einem Krankenhaus. Und er machte gern noch den Umweg über die Halbinsel, half August beim Melken, worüber die Mädchen zuerst aus dem Lachen nicht herauskamen, und saß dann in der Dämmerung noch eine Weile am Ufer, zu den Fledermäusen aufblickend, die lautlos über ihnen taumelten.

»Tausendzweihundert Stück, Mensch!« rief August, den Kopf grübelnd in beide Fäuste gestützt. »Und hier sind dreißig Milchkühe … so 'n Schiet! Und wieviel Bullen habt ihr dafür?«

»So zwischen fünfzig und sechzig werden es schon sein.«

»Gotts Dunner!« sagte August erschüttert.

Aber alle diese Besuche waren nicht das Leben, um dessentwillen er zurückgekehrt war. Sie waren ein Vorhang, den er vor das Leben zog, weil es ihm an Mut fehlte, vor das Gesicht dieses Lebens zu treten. Alles andre konnte betrachtet werden, gutmütig, spöttisch, aber immer ein wenig unbeteiligt. Dieses aber konnte nicht betrachtet werden. Von allem anderen wußte er, daß es unverändert geblieben war. Lina hatte vier Kinder mehr als vor zehn Jahren, aber das änderte nichts an ihrem Dasein. Die Kameraden waren verheiratet oder tranken oder hatten Schulden. Sie hatten zugenommen an Gewicht oder abgenommen, aber an dem Bild ihrer Seele hatte sich nichts geändert. Riechenberg war um dreihundertzwölf Seelen gewachsen. Es hatte geboren und begraben, gestreikt, gewählt, den Bürgermeister vertrieben, einen anderen gewählt, gebaut und eingerissen. Aber es war Riechenberg geblieben.

Eine Seele aber war, über die ein Schicksal umpflügend gegangen war. In deren zartes Geflecht ein andrer Mensch sich hineingedrängt hatte, bis in die Wurzeln ändernd, zerstörend, oder beseligend. Und er wußte nicht, was mit dieser Seele geschehen war. Er wußte nicht einmal, ob sie wartete oder sich fürchtete.

Er fuhr einmal im Boot hinaus, in der Nacht, und sah von weitem lange auf das Gehöft am Ende der Stadt. Er konnte die hellen Bretterstapel erkennen, den hohen Schornstein, über dem ein Stern zitterte, die dunklen Flecke des Gartens, das weiße Haus. Ein Fenster über der Veranda war hell, wurde dunkel, erhellte sich noch einmal in einem schwächeren Licht und erlosch dann. Die Stadt war schon tot, und das einzige Licht in ihrer dunklen Wand schien alle Angst und allen Trost der ganzen Nacht in sich zu versammeln. Der Trost erlosch, aber die Angst ging in das Dunkel über, floß hinaus auf den schweigenden See, und in den leisen Strudeln, die die Ruder bildeten, schien noch ihre Stimme ertrinkend zu rufen, ehe sie versank in der schwärzlichen Tiefe. Am nächsten Vormittag, als der Vater nach oben gegangen war und Wolf allein in der Offizin stand, nahm er den Hörer von der Gabel und verlangte die Nummer. Er lächelte ein wenig, als er auf seine Hand niederblickte, und er erinnerte sich, daß er als Kind so zu lächeln gepflegt hatte, wenn Boas die lateinischen Arbeiten zurückgab und bei der Bekanntgabe der Zensuren vor seinem Namen eine wohlberechnete, tödlich lange Pause machte. »Schneide- und Mahlmühlenwerke Runge«, sagte eine nüchterne Stimme. Es klang, als lese ein Firmenschild sich ab.

»Ich bitte, mit Frau Runge zu verbinden.«

»Augenblick, bitte …«

Etwas klang von fern in der schwarzen Muschel, ein harter, metallener Ton, als werde ein Hebel auf einem Schaltwerk umgelegt. Eine nüchterne, technische Angelegenheit, die zwei Körper durch Drähte verband. Ein Magnet, der in den Äther hinaustastete, um eine Nummer aufzufinden, die gerufen wurde, eine Nummer, die die Bezeichnung einer Seele war.

»Frau Runge«, sagte eine leise Stimme.

Er preßte die Muschel an das Ohr, um der Süße dieser müden, unsichtbaren Stimme auch nicht in der kleinsten Schwingung verlustig zu gehen. Er schloß die Augen und sah nichts vor sich als eine schwärzliche, gestaltlose Finsternis, wie den See in der vergangenen Nacht. Und wie das angst- und trostlose Licht über dem See sah er die unsichtbare Stimme aus der Unendlichkeit den Raum seiner Gegenwart betreten.

»Hier ist Frau Runge«, wiederholte dieselbe Stimme. Kein Schatten der Ungeduld, der Neugier, der Spannung. Nur eine leise Steigerung der Müdigkeit, als ahne sie eine falsche Verbindung oder einen Fehlanruf.

»Barbara«, sagte er leise.

Er hörte das Stocken und Schnellerwerden ihres Atems, zarte Schwingungen in dem Dunkel eines magnetischen Raumes. Er sah ihre Hand sich an die Schläfe heben, wie sie in Verwirrung, Angst oder Erschütterung zu tun pflegte.

»Bist du das, Wolf?« fragte die ferne Stimme.

»Ja, ich bin da … und ich möchte zu dir kommen.«

Schweigen, in das von fern unwirkliche, gedämpfte, begrabene Stimmen aus anderen Leitungen hineintasteten.

»Es … es sind zehn Jahre vergangen«, sprach die Stimme.

»Und es sind vierzehn Tage vergangen, seitdem ich hier bin.«

»Ja … es ist vieles … anders geworden …«

»Nicht alles? Nicht alles?«

»Nein.«

Er mußte den Atem anhalten, um die geflüsterte Antwort zu verstehen. »Wann?«

»Heute abend.«

»Bei dir?«

»Ja … auf Wiedersehen.«

Wieder ein metallischer Ton. Die Umlagerung aller Geräusche, das Versinken von Stimmen, die Auferstehung anderer. »Wird noch gesprochen … wird noch gesprochen … ich trenne …« Die Gabel senkt sich mit einem leisen Klingen in das dunkle Gehäuse. Alles ist wie sonst. Der Geruch der Offizin, Flaschen, Schränke, Waagen, Tiegel, Mörser. Die Blechglocke über der Tür. Der Vater, der mit seinem bescheidenen Gang die Treppe herunterkommt, um ein Rezept zu machen. Aber die Stimme war, das Süße eines gestorbenen Klanges, die Antwort aus einer gestorbenen Welt. »Nicht alles?«

»Nein …«

Da der Garten des weißen Hauses an den See stieß, konnte er das Boot nehmen. Aber es war noch hell, und es würde doch nicht verborgen bleiben. Er sah sie auf der Veranda stehen, schwarz gekleidet, die Arme lose herabhängend. Es war ihm, als könnte sie zehn Jahre so gestanden haben.

Er machte das Boot fest und ging den Gang hinauf. Von links leuchteten hinter Jasminbüschen die Bretterstapel. Es roch nach geschnittenem Holz, und in der Gewohnheit seiner Tropenjahre sah er schnell und scharf über die Dinge des fremden Gartens hin. Seine Augen, die schon den Giebel des Hauses umfaßt hatten, Höhe, Lage der Fenster, schwere Läden, gingen noch einmal, wie um einen Irrtum festzustellen, schnell zurück, weil da, zwischen den Stapeln, etwas gewesen war, was der Blick vergessen oder nicht bis zur Deutlichkeit aufgefaßt hatte. Und nun war es da. Ohne Zweifel. Ein Mann stand da, im dunklen Arbeiteranzug, eine dunkle Schirmmütze über die Stirn gezogen, und sah zu ihm herüber. Ein Wächter wahrscheinlich, gegen Feuer und Diebstahl. Aber das Gesicht war unangenehm, auch aus der Entfernung. Ein unbewegtes, wachsames, beauftragtes Gesicht, eine Maske, hinter der ein zweites, unsichtbares Gesicht stand.

Wolf versuchte sich zu erinnern, schnell, als gelte es, keine Zeit zu verlieren. Aber es waren zehn Jahre vorübergegangen, und er fand es in den Vorräten seiner Gesichter nicht auf. Er prägte es sich ein, etwas Schmales, Langes, mit irgendeinem Fehler im Gleichmaß der Teile, den er nur fühlte, nicht erkannte. Dann sah er wieder geradeaus.

Er sagte nichts, als er ihre Hand nahm. Das Gesicht war anders geworden, nicht nur durch das kurzgeschnittene Haar, das schlicht über die Wangen herunterfiel. Diesem Gesicht war etwas geschehen. Man hatte ihm etwas angetan und es durch Schweigen gebunden. Es konnte noch lächeln, aber es lächelte aus Gewohnheit. Es lächelte nicht schmerzlich, denn auch der Schmerz war gebunden. Es bewegte sich wie unter einem anderen Blick, der immer da war, kalt, beobachtend, um nachher zur Rechenschaft zu ziehen. Es stand in einem Zauber. Niemand sah den Zauberer, aber das Gesicht wußte, daß er da war, am Horizont, daß er alles sah, hörte, wußte. Daß ihm nicht zu entgehen war, auf keine Weise.

»Wer ist der Mann?« fragte Wolf. Es waren die ersten Worte, die er sprach.

Ihre Augenlider zuckten ein wenig, aber sie sah nicht zur Seite. Es war nur, als habe nun auch ein andrer gesehen, was ihm hätte verborgen bleiben sollen.

»Der Wächter«, erwiderte sie.

Dieselbe leise, geduldige, über nichts sich verwundernde Stimme. Eine gefangene Stimme, die berichtete, wie viele Stäbe das Gitter ihres Kerkers zählte.

In den ersten fünf Minuten wußte er, daß sie nicht sprechen würde. Sie bat nicht, nicht zu fragen. Sie erzählte selbst die Geschehnisse. Sie brauchte das Wort »Vorgänge«. Er wußte, daß ihr Vater die Forstkasse gehabt hatte. Ja, und eines Tages sei er eben zu ihr gekommen und habe gesagt, daß fünftausend Mark in der Kasse fehlten. Und Runge sei gekommen und habe gesagt, daß er sie ersetzen wolle, bevor eine Revision erfolge. Sie sagte »Runge«, nicht »mein Mann«. Das sei vor sechs Jahren gewesen. Und mitunter erinnerte er sie daran, daß die Anzeige ja immer noch erfolgen könne. Nicht als eine Drohung, sondern nur so nebenbei.

Dies alles erzählte sie ohne sichtbaren Schmerz. Ihre Hand, die ihm Feuer reichte, zitterte nicht, und ihre Augen waren ruhig zu den seinen aufgeschlagen. Auf die Frage, wie sie lebe, erwiderte sie, daß es ihr gutgehe. Sie hätte zwei Mädchen und einen Chauffeur. Sie gäben drei Gesellschaften im Winter, und im Sommer verreise sie, ins Gebirge oder an die See.

Wie es ihr gehe, wollte er wissen.

Oh, sie sei körperlich ganz gesund. Etwas blutarm, sage der Doktor, aber das sei ja nichts Ernsthaftes.

Aber dazwischen legte sie leise ihre Hand auf die seine, bat wortlos um Verzeihung, erklärte wortlos, daß es nie anders werden könne, weil es nicht anders werden dürfe.

»Also kann ich morgen zurückfahren?« fragte er finster.

»Nein, das natürlich nicht. Du mußt doch hier sitzen und mit mir auf den See sehen. Das weißt du doch … der See ist so böse, wenn man allein vor ihm sitzt.«

Und dann bat sie ihn, von seiner Welt zu erzählen. Sie holte geographische Werke, eine ganze Reihe von Bänden, schlug die Abbildungen auf und fragte, ob es in Wirklichkeit so sei. Sie öffnete eine spanische Grammatik, las ein Lesestück über den Eskorial und fragte, ob die Aussprache richtig sei. Es sei nicht leicht, in Riechenberg Spanisch zu lernen.

Er schwieg, den Kopf in beide Hände gestützt, und starrte sie an. Pensée, dachte er plötzlich. So hatte er sie genannt, weil ihr Gesicht den dunklen Blüten der Stiefmütterchen ähnelte, mit dem verschlossenen Schimmer jener schweigenden Kelche, die man zu den Lippen heben und streicheln kann, ohne zu wissen, was in ihnen leuchtet und duftet. »Sprich, Pensée«, hatte er gebeten, wenn ihre Augen unter seinen Küssen fortfuhren, in die Ferne zu blicken, »sage, was du denkst.«

»Man kann nicht sagen, was man denkt«, hatte sie erwidert.

»Auch das Land dort ist so«, sagte er, in seiner Haltung verharrend. »Es blüht, es duftet, es scheint böse oder sanft. Aber man weiß nichts von ihm. Die Steppe schweigt, der Urwald, die Ströme, die Sterne. Du bist wie ein indianisches Mädchen. Es weint nicht, es lacht nicht. Man kann es schlagen oder lieben – es sieht durch dich durch, und man wird nie wissen, wohin es sieht …«

»Ja«, sagte sie leise, als beantworte sie eine Frage, und schloß die Grammatik. »Ich will dir nun das Haus zeigen. Runge wird bald wiederkommen. Er ist mit dem Wagen fort.«

»Ich will dann lieber gehen.«

Sie sah überrascht auf. »Aber das darfst du nicht, Wolf, hörst du? Das darf man hier nicht.«

»Wer befiehlt das?«

»Ich«, erwiderte sie ohne Nachdenken. »Das … das kleine bißchen Angst in mir, Wolf. Verstehst du nicht?« Auch jetzt gingen ihre Augen nicht zur Seite, aber sie tasteten einmal schnell in den leeren Raum rechts und links von ihm, und die bläulichen Adern auf ihren Lidern zuckten wieder wie bei der Begrüßung.

»Arme, kleine Barbara«, sagte er leise in ihre Augen hinein.

Während sie eine Radierung im Eßzimmer betrachteten, die den Hamburger Hafen darstellte – Barbara hatte sie von ihrer letzten Reise mitgebracht –, war Herr Runge plötzlich da, als habe er den ganzen Abend hinter dem Büfett gestanden und sei nun gerufen worden. »Der Exote!« rief er strahlend. »Die ganze Stadt spricht von ihm, alles ist entzückt, begeistert, gewissermaßen hypnotisiert. Der Ruf des Puma ertönt nächtlich in den nüchternen Mauern Riechenbergs. Und nur das Haus Runge wird gemieden von ihm, als wittere der Puma eine Falle. Aber endlich ist er da, betrachtet Radierungen des Hamburger Hafens, von wo die Ozeanriesen nach dem Silberstrom dampfen, sieht wie ein normaler Europäer aus und wundert sich etwas, daß ein Riechenberger Bürger fließend Deutsch sprechen kann, nicht wahr?«

Er stand am Rande des Teppichs, die Hände in den Hosentaschen, klein, rund, behaglich, wohlwollend, den dicken Kopf in den Nacken zurückgelegt, die Füße etwas einwärts gestellt, ein Kleinbürger, zu Wohlstand gelangt, der lebt und leben läßt, der den Stammtisch liebt, das Essen, die Frauen, das Bankbuch. Ein bequemer Gefährte, etwas laut, etwas kompakt, aber ohne Konflikte und Probleme.

Und doch war der Raum leise verwandelt, weil etwas Geducktes ihn betreten hatte, erkennbar in den Umrissen, aber verhüllt in Absicht, Weg, Mitteln und Bedeutung. Irgend etwas war nicht gut, veränderte die Luft, die Beleuchtung, den Atem.

»Tja … das Weltmeer, Herr Wiltangel, nicht wahr? … Herzlich willkommen … Die Jahre stürzen hinein … plumps … ein paar Kreise … den Jüngling bringt keines wieder … ja, es geht doch nichts über Schiller …« Er lachte einmal auf, trocken, aus einer unterirdischen Kammer, und schüttelte die ruhig dargebotene Hand wie zu einem feierlichen Vertrage.

»Ich wußte nicht, daß Sie fortgefahren waren«, sagte Wolf sehr höflich. »Sonst würde ich meinen Besuch verschoben haben.«

»Aber ich bitte Sie, Verehrtester … meine Sommerreise kommt erst später … verdammt knapp mit Loskommen, in diesen schlechten Zeiten …«

»Ich spreche nicht von Ihrer Sommerreise, sondern von heute.«

Die Schärfe war nicht mißzuverstehen, aber Herr Runge rieb sich vergnügt die Hände. »Aber, mein Lieber, alles in Ordnung … ein kleines Scherzchen … Der Herr Papa gesund? Gut verdient an mir den letzten Winter … fünfundsiebzig Prozent der Arbeiter Grippe … Aspirin … Gelonida … und so weiter … Wohin, meine Liebe? Wein? Schon kalt stellen lassen … bleib bitte hier … etwas ängstlich mit dem Conquistador allein … exotische Allüren … Melone und so … muß ulkig aussehen, Herr Wiltangel, wie?«

»Man muß lange üben dazu.«

»Tja, so ist es mit allem. Mit dem Geldverdienen, der Liebe, dem Bootfahren, der doppelten Buchführung … und so weiter … Auf die Veranda, meine Liebe … der Blick auf den See … Sterne in der Flut … der Nachen am Gestade … tja.«

Das Gespräch glitt auf der Veranda fort. Barbara saß unbewegt, die Hände im Schoß gefaltet. In jede der Pausen hinein stellte sie eine Frage. Nach dem Haus, nach seinen Pferden, wie es Weihnachten dort sei. Die Fragen waren ohne Zusammenhang mit dem, was Herr Runge zu berichten oder zu fragen für gut hielt. Er sah auf seine Zigarre, solange Wolf antwortete, und fuhr dann fort, wo er stehengeblieben war. Er war weder ungeduldig noch gekränkt. Er war nur unerschütterlich, wie sein Lächeln, das nicht von seinem Munde wich.

»Eine hübsche kleine Frau«, sagte er wohlwollend, als Barbara aufgestanden war, um sich einen Schal zu holen.

Aber die erste Unsicherheit war nun bei Wolf verflogen. Er saß tief in seinem Gartenstuhl, ein Bein über das andre geschlagen, sah auf die blasse Schwärze des Sees hinaus und drehte in Gedanken eine Zigarette in der rechten Hand.

»Lassen Sie doch dies Geschwätz«, erwiderte er, ohne den Blick zu wenden.

»Hö … hö …«, machte es in Herrn Runges unterirdischer Kammer. »Habe ich nicht gesagt … diese Conquistadoren …«

Barbara erschien in der Tür.

»Ich bitte jetzt, mich zu entlassen«, sagte Wolf. »Das nächste Mal bringe ich dir das Quichua mit.«

»Kitschua? Was ist denn das?« fragte Herr Runge.

»Das Quichua«, erwiderte Wolf über die Schulter, »ist die Knotenschrift der Aymara. Ich habe es gestohlen. Es ist eine Geheimschrift, die wahrscheinlich anzeigt, wo der Schatz der Inka vergraben ist, und ich möchte sie entziffern.«

»Sieh mal an … was wird es sein? Ein paar silberne Bratpfannen, was?«

»Es dürfte so viel sein, daß man Ihren Schornstein von oben bis unten mit Gold anfüllen kann.«

Herr Runge lachte, bis seine kleinen Augen von Tränen erfüllt waren. »Ach«, seufzte er. »Aktiengesellschaft zur Ausbeutung der Inkaschätze, was? Geniale Idee für Riechenberg.«

»Also bedenken Sie es, wieviel Anteile Sie zeichnen wollen«, sagte Wolf mit undurchdringlichem Gesicht.

»Wird gemacht … und nun wollen wir ihn zu seiner Gondel bringen.«

Ein klares System, dachte Wolf. Weiß, daß ich mit dem Boot gekommen bin. Weiß wahrscheinlich noch mehr … sollst dich noch wundern …

Etwas streifte leise über seine rechte Hand. Es konnte der lautlose Flug eines Falters gewesen sein. Es konnte eine Hand gewesen sein. Er sah in der Dämmerung in Barbaras Gesicht, die zu seiner Rechten ging, aber sie blickte geradeaus, und in dem Schimmer ihres Gesichtes war nichts zu lesen als ein pflanzenhaftes Schweigen.

Die Kette klirrte leise, das Wasser wich mit dumpfem Laut zur Seite. Der Sand des Grundes knirschte unter dem eingesetzten Ruder.

»Wiedersehen«, sagte Wolf und sah Barbara an.

»Wiedersehen.«

Herr Runge räusperte sich auf eine undeutliche Weise.

»Man weiß nichts von ihm, mein Junge«, sagte der Apotheker in seinem Tropenzimmer. »Er gilt als gerissen, und die Arbeiter machen einen Umweg, wenn sie ihn nach Feierabend treffen. Gerüchte erzählen, daß die Firma faul stehe, aber du kennst ja die Riechenberger Gerüchte.«

Wo ihr Vater jetzt wohne, fragte Wolf noch. Dann saß er eine Weile grübelnd da, bewegte die Finger einzeln, als ob er rechne, und beendete dann mit einer kurzen Handbewegung sein Schweigen.

»Wollen aufstellen«, sagte er und legte das Schachbrett auf den Tisch. »Spanische Eröffnung heute …«


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