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Folgeerscheinungen aus den Ereignissen a (Dr. Keiserling und Krauthenne), b (Lina und die geb. Pfeffer), c (Bln. Si. 23. 8. 29 19/38 und C. A. Runge), d (Wolf Wiltangel und Ilse Bierkandt):
a) Dr. Keiserling steht im Amtszimmer des Direktors. Seine Gesichtsfarbe ist blaß. Sein Bericht ist stockend, und er verzichtet auf unwesentliche Einzelheiten, wie z. B. den geöffneten Fensterflügel.
»Und … ›Saubock‹ sagen Sie, Herr Kollege?«
»Jawohl, Saubock!«
»Un…er…hört!«
Eine Gesamtkonferenz wird für den nächsten Tag, nachmittags sechzehn Uhr, einberufen. Der Schüler Krauthenne hat bis zur Entscheidung der Konferenz die Anstalt nicht zu betreten.
Der Schüler Krauthenne versucht im Laufe des Nachmittags dreimal vergeblich, seinen braunen Bruder zu erreichen. Er sitzt in Wolfs Zimmer, als dieser am Abend nach Hause kommt. Auch Krauthenne ist etwas blaß, auch Krauthennes Bericht ist stockend, aber er läßt keine Einzelheiten aus. »Jawohl«, sagt er. »Saubock! Nichts weiter.«
Wolf starrt ihn eine Weile an, und dann lacht er, bis er die Hände auf seinen Magen drücken muß. Alle Finsternis erlischt in seinem Gesicht. Nach zwei Minuten ist er kerngesund.
Krauthenne sieht ihn von der Seite an.
»Wollen mal überlegen«, sagt Wolf endlich. »Natürlich werden sie dich hoppgehen lassen … ja … Ist dein alter Herr mit der Leopille bekannt?«
»Natürlich. Lädt ihn zu den Jagden ein. Knallt alles vorbei.«
»Siehst du! Zweitens: gestern bist du gestürzt. Auf die Hirnterrine natürlich … Drittens: der Fensterspiegel … also, hör zu! Du nimmst dein Rad und braust zu deinem Alten ab. Gekniffen wird nicht. Bericht und so weiter. Der Alte morgen früh zur Leopille. Sturz, Fensterflügel und so weiter. Du bestehst darauf, vor der Konferenz vernommen zu werden. Du seist bereit, dich zu entschuldigen. Der Fensterflügel könnte in der Presse erscheinen, weit über die Grenzen der Provinz hinaus. In Ordnung? Ab, mein Junge! Eventuelle Maulschellen zu Hause werden ohne Wimpernzucken eingesteckt.«
b) Bis Mitternacht ist in dreiundvierzig Familien bekannt, daß Wolf Wiltangel, Hazienda San Juan, Republica Argentina, jede Nacht bei Lina schlafe. Selbstbezichtigung obgenannter Lina. In dreizehn Familien bekannt, daß Frau Amtsgerichtsrat Ewerling, geb. Pfeffer, von obenbesagter Lina auf offener Straße gröblich insultiert und mit Päckchen diversen Inhalts beworfen worden sei. Zeugen: die Einwohner der Fischerstraße und der Justizsekretär Schreyvogel. Beide Tatsachen sind auf dem Wege, die übrigen Häuser Riechenbergs in kürzester Zeit zu erreichen.
Während des Abendessens im Goldenen Adler meldet das Mädchen das Erscheinen Linas und ihre dringende Forderung, den jungen Herrn allein zu sprechen. Frau Wiltangel stellt den Griff der Teekanne im rechten Winkel zur Längsseite des Tisches und fragt, ob sie noch ein Gedeck auflegen lassen solle.
Wolf führt die in ein Umschlagetuch gehüllte Lina die Treppe hinauf in sein Zimmer, setzt sie in einen Lehnstuhl und bittet um Auskunft, was los sei.
Lina beginnt zu weinen. »Ick hebb de geborne Peper vertellt … dat … dat … du jedwede Nacht … bi mi … slöppst …«
»Gottes Dunner!« sagt Wolf. »Bist du ganz von Gott verlassen?«
Er begreift langsam den Sachverhalt und beginnt zum zweiten Mal zu lachen. Ja, da sei schlecht was einzurenken. Hingehen werde sie ja nicht wollen. Höchstens könnte sie einen Brief schreiben, daß das nicht wahr sei. Ob sie das tun wolle? Na also, dann sei alles in Ordnung. Unsinn, keine Tränen. Von ihm würden noch ganz andere Dinge erzählt.
Er bringt sie in den Laden herunter. Als sie ihr Haar wieder mit dem Tuch verhüllt, streichelt er einmal über ihren Scheitel. »Wär' gar nicht so dumm, wenn es wahr wäre, was?«
Sie wird rot und behält seine Hand ein wenig zwischen ihren harten Fingern. »Dat jeiht ja nu woll nich mehr«, sagt sie still.
»Nein, das geht nun nicht mehr«, wiederholt er herzlich.
Linas Brief an Frau Amtsgerichtsrat Ewerling, geborne Pfeffer: »Wegen das dat es gar nich wahr is von den jungen Herrn Wiltangel. Un ich war man bloß falsch up de jnä Fru von wegen de Indianermädchens un de Vadderlandschen Paketen. Un en Herr wie de Herr Wiltangel brukt ganz wat anders in sin Bedd als mir oder de jnä Fru. Mit Hochachtung Lina Schönwald.«
c) Um 21.10 Uhr ertönt die Blechglocke über der Schwelle des Goldenen Adlers. C. A. Runge persönlich. Möchte dem jungen Herrn Wiltangel doch seine Gegenaufwartung machen. Verdammt unpassende Zeit, aber die Firma, die Zeiten und so weiter. Er wird die Treppe hinauf in Wolfs Zimmer geführt.
»Tag, Verehrtester. Ein bißchen spät. Anzug auch unkommentmäßig. Aber der Dienst. Wollte doch meine Aufwartung machen, ja.«
»Bitte Platz zu nehmen«, sagt Wolf höflich und sieht ihn von der Seite an. »Sehr freundlich von Ihnen.«
Das Gespräch, von Herrn Runge geführt, springt etwas nervös hin und her. Er lacht viel, ohne ersichtlichen Grund, und seine Hände sind zu unruhig. Wolf lächelt mit, ist höflich und wartet.
»Wissen Sie«, sagt Runge plötzlich, »das Kitsch … Kitschua, oder wie das Ding hieß, ist mir doch nicht aus dem Kopf gegangen. Schatz der Inka … allerhand! War ein Spaß, Lagerfeuergeschichte, was?«
»Es war durchaus kein Spaß«, erwidert Wolf ernst. Er steht langsam auf, öffnet seinen Koffer, zieht ein Fach heraus und nimmt behutsam das rot, blau, grün geknüpfte Gebilde heraus, dieses Geheimnis von Schnüren, so seltsam in Farbe, Form und Bedeutung. Er breitet es vorsichtig auf die Tischdecke und setzt sich wieder, den Kopf in eine Hand gestützt, die Augen nachdenklich auf den fremdartigen Gegenstand gerichtet.
C. A. Runge, vorgebeugt, starrt schweigend und verständnislos auf das Geflecht. Wolf kann sehen, daß seine Stirn mit kleinen Tropfen bedeckt ist. »Allerhand«, sagt Runge mit schiefem Lächeln. Sein Blick tastet unsicher über Wolfs verschlossenes Gesicht und kehrt verstört zu den Schnüren zurück. »Und was bedeutet es?« fragt er.
»Solche Bedeutungen, Herr Runge«, erwidert Wolf, »pflegt man nicht im Kreisblatt zu eröffnen … Bis hierher ist es klar …« Er zeigt mit der Hand auf einen weißen Faden, der um einen Knoten der Schnüre gebunden ist. »Und das übrige wird klar werden.«
»Viel Geld, wirklich?«
»Sehr wahrscheinlich.«
Schweigen. Die Blechglocke schlägt unten an. Der Klang von Stimmen dringt gedämpft herauf. Fehlt nur noch die kleine Nymphe …, denkt Wolf.
Runges Zigarre ist ausgegangen. Er braucht drei Streichhölzer, um sie wieder anzuzünden. »Also, Herr Wiltangel«, sagt er plötzlich laut. »Wollen mal wie Männer reden. Ich brauche Geld. Viel Geld. Konkurs bei einer Bombenfirma, die mir hundertfünfzig Mille schuldet. Das Schwein ist verduftet. Sie scheinen ja so was wie ein Krösus zu sein, höhö. Was meinen Sie?«
»Ich meine, daß Konkurse bedauerlich sind«, erwiderte Wolf höflich.
Pause. Dann zerstampft Runge die Zigarre im Aschenbecher.
»Wieviel wollen Sie geben?« fragt er plump.
Wolf hebt nur die Augenbrauen.
»Hundertfünfzig?«
»Bitte?«
»Hundertfünfzig in vierzehn Tagen, und Sie können sie mitnehmen.«
»Was mitnehmen?«
»Donnerwetter, Mensch! Meine Frau. Was denn sonst?«
Wolf runzelt die Stirn. »Das sind … dreitausend Prozent?« sagt er. »Das scheint mir dem Wucherparagraphen zu unterliegen.«
»Dreitausend … was? Was heißt das?«
»Fünftausend gegen hundertfünfzigtausend. Sind es nicht dreitausend Prozent? Zinsrechnung war nie meine starke Seite.«
»Was wissen Sie von fünftausend?« fragt Runge leise. Sein Gesicht sieht nun nicht gut aus.
Wolf nickt ihm freundlich zu. »Ich weiß noch mehr. Aber ich überzahle nicht gern. Was man fangen kann, soll man nicht schießen.«
»Allerhand«, lächelt Herr Runge. »Aber die Rechnung geht nicht auf. Wie bei dem weißen Faden da. Sie kann nicht klagen, verstehen Sie? Denn da ist ein Knoten drin. Ein Fünftausendknoten, höhö. Vergessen, was?«
»Nicht vergessen. An der Aufknotung wird schon gearbeitet. Von mir aus natürlich. Sie müssen etwas Geduld haben. Ein kleines Kitschua. Riechenberger Muster … Noch etwas gefällig?« Er steht auf und legt die Knotenschrift in den Koffer zurück.
»Seien Sie nicht dumm«, sagt Runge; »könnten sich verkalkulieren.«
»Guten Abend … Vorsicht, da sind zwei Stufen …«
»Werden noch betteln kommen«, murmelt Runge auf der Treppe.
Wolf bleibt sehr nachdenklich zurück, raucht eine Papyros nach der andern, geht auf und ab, wartet auf den nächsten Besuch, schüttelt endlich den Kopf und macht seine horizontale Handbewegung.
d) Fräulein Bierkandt verbrennt in ihrem eisernen Ofen alte Briefe. Dann öffnet sie das Fenster, da der heißgewordene Anstrich des Ofens riecht, und entkleidet sich im Dunklen. Auf dem andern Ufer des Sees stehen die Wälder schwarz und formlos. Es riecht schon ein wenig nach Herbst, und sie sieht schon das graue Eis auf dem Wasser, Schneeflocken, die schlafende Stadt, das Schiff, das über die Ozeane hinweg nach dem Silberstrom stampft. Die Tränen wollen wieder kommen, aber dann schüttelt sie den Kopf, sehr energisch, schlüpft unter ihre Decke und lächelt zehn Minuten später im ersten Traum.