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Querverbindungen von a) bis d), Variationen und Permutationen. Brief des Direktors Birkenwald an Wolf Wiltangel:
Geehrter Herr Wiltangel!
Ein bedauerliches Vorkommnis in bezug auf die Disziplin meiner Anstalt läßt es notwendig erscheinen, über Ihre Beziehungen zu den Schülern meiner Anstalt mit Ihnen Rücksprache zu nehmen. Ich würde Ihnen verbunden sein, wenn Sie mich heute in meinem Arbeitszimmer zu dem oben angedeuteten Zweck aufsuchen wollten, Sprechstunde 11 bis 12.
Hochachtungsvoll
Dr. Birkenwald
Studiendirektor
Brief Wolf Wiltangels an Direktor Birkenwald:
Geehrter Herr Direktor!
Da ich seit einer geraumen Zeit nicht mehr den Vorzug habe, Schüler Ihrer geschätzten Anstalt zu sein, sehe ich keine Notwendigkeit, Ihrer freundlichen Aufforderung Folge zu leisten. Dagegen werde ich in meiner Sprechzeit, 10 bis 11, gern für Sie zu Hause sein.
Hochachtungsvoll
Wolf Wiltangel
Die geborene Pfeffer steht vor dem Schalter des Postamts. Fräulein Bierkandt, in einem ärmellosen Kleid, beendet die Zahlenreihen im Einzahlungsbuch. Die letzte Spalte rechnet sie zur Sicherheit noch einmal durch. Dann macht sie eine langsame Handbewegung zum Schalterfenster. »Morgen, gnädige Frau.«
»Morgen … meine Post bitte.«
Die geborene Pfeffer stellt fest, daß man Fräulein Bierkandts Knie unter dem kurzen Rock sehen kann. Ihre linke Hand liegt um das goldene Kreuz.
»Nur die Zeitung«, lächelt das Postfräulein, »und ein komischer Brief.«
Es ist Linas Brief. Die Buchstaben stürzen wie Balken übereinander. »Absenderin Lina Schönwald, Fischerstraße.«
Auch die geborene Pfeffer lächelt, in den Mundwinkeln. »Die Kebse«, sagt sie.
»Bitte?«
»Die Kebse Ihres Exoten, Fräulein!«
»Kebse? Was ist Kebse?
»Kebse, mein Fräulein, ist eine Person, bei der ›man‹, nach ihrer Aussage, allnächtlich besuchsweise verweilt … Exotische Gebräuche.«
Das kleine Fräulein erblaßt ein wenig, bückt sich nach einer heruntergefallenen Marke und lächelt fröhlich. »Warum nicht«, sagt sie unschuldig.
Schwein, denkt die geborene Pfeffer, drückt die Zeitung an die Stelle ihres Busens und verläßt den Schalterraum. –
Zwischen 12 und 14 findet ein Besuch Fräulein Bierkandts bei Lina Schönwald statt, verbunden mit einer herzlichen Aussprache. Lina sagt: »Dat kömmt fors Reichsgericht, Fräuleinchen!«
Fräulein Bierkandt singt leise vor sich hin, die ganze Fischerstraße zurück. –
Um 15.30 Uhr wird eine Telefonverbindung zwischen Frau Birkenwald und der geborenen Pfeffer hergestellt.
»Was Sie nicht sagen, Liebste! Das kommt wie gerufen zur Konferenz. Um 4 … ja … ›sehe ich keine Notwendigkeit, Ihrer freundlichen Aufforderung Folge zu leisten …‹ Erstklassig, wie? Leugnet? Solche Frauenzimmer leugnen immer … Natürlich muß der Bürgermeister einschreiten – ein Skandal … natürlich … und der Galan verseucht die ganze Anstalt … Bitte? … Ja, natürlich … ich rufe an, sobald ich etwas weiß … ja … auf Wiedersehn, Liebste.« –
Um 10.15 Uhr ertönt die Blechglocke im Goldenen Adler. Wolf hört ein Gespräch im Laden, Schritte auf der Treppe und gemessenes Klopfen. »Herein … ach, der Herr Direktor … bitte Platz zu nehmen … Revolution im Pennal?«
Birkenwald ist ein massiver Mann. Er hat volles Haar, eine goldgeränderte Brille, einen sogenannten Fußsack bis zum dritten Westenknopf.
»Über die internen Vorgänge an meiner Anstalt«, sagt er ernst, »ist hier des Redens wohl nicht der Ort. Ich hätte ja gedacht, daß ein ehemaliger Schüler der Anstalt den Weg zu meinem Amtszimmer hätte finden können, zumal bei meinem freundschaftlichen Verhältnis zu Ihrem Herrn Vater. Aber die jungen Herren sind ja stolz geworden heute, sehr stolz, ja, und so bin ich denn selbst gekommen.«
»Nett von Ihnen«, sagt Wolf.
Es gibt eine ethische Einleitung, ohne captatio benevolentiae. Eine kurze Schilderung des »Falles«, mit Keiserlingschen Auslassungen. Mit erhobener Stimme folgt die Feststellung, daß seit Wiltangels Rückkehr der Geist der Rebellion in die Schule gefahren sei – zahlreiche Details –, und das höfliche wie nachdrückliche Ersuchen, sich fortan vom Umgang mit den Schülern der Anstalt fernzuhalten. Um so mehr, als die Stadt von dem Lebenswandel des Herrn Wiltangel seit gestern ausgiebig unterrichtet sei.
»Ich auch«, sagt Wolf. »Auch seit gestern, Herr Direktor. Also ich empfehle zunächst, im Strafgesetzbuch die Paragraphen 186 und 187 nachzulesen. Verleumdung und üble Nachrede. Kommentar bei der geborenen Pfeffer einzuholen. Das übrige, ja, wie denken Sie sich das? Vormundsgewalt üben Sie doch nicht aus über mich?«
Der Direktor schluckt zweimal, bis er die Paragraphen herunter hat. »Ich weiß sehr wohl, Herr Wiltangel«, erwidert er, »daß ich nicht das Recht habe … leider … Verbote über Sie zu verhängen. Aber im Falle Sie sich weigern, meinen … immerhin freundlichen Hinweis zu beachten, würde ich den Schülern meiner Anstalt kraft meiner Amtsbefugnisse jeden jedwie gearteten Verkehr mit Ihnen auf das strengste untersagen und im Übertretungsfalle zu den nötigen Konsequenzen schreiten … Weiteres hätte ich Ihnen nicht mitzuteilen.«
»Also schreiten Sie immerhin, Herr Direktor«, sagt Wolf und lächelt.
Birkenwald erhebt sich. »Das wäre alles, was Sie mir zu erwidern hätten? … Der Schüler Krauthenne fällt somit als erstes Opfer.«
»Stopp, stopp!« sagt Wolf. »Noch steht der Schüler Krauthenne. Und so Gott will, wird er noch eine ganze Weile stehen … Sollten ab und zu zu unserm Campfeuer kommen, Herr Direktor.«
Doch etwas zu alt, meint der Direktor mit frostigem Lächeln, für solche indianischen Allüren. –
Um 12.10 Uhr betritt der Rittergutsbesitzer Krauthenne das Gymnasium. Er trägt einen braunen Kamelhaarmantel, einen Hut mit Birkhahnspiegel und einen Stock. Schleichhase bemerkt: »Werden ihn schon durchbringen … Eine Treppe, bitte!«
Die Dauer der Unterredung im Amtszimmer beträgt 47 Minuten. Die Stimme des Herrn Krauthenne ertönt mitunter wie über ein Rübenfeld. »Amtlich vorgeschriebene Kontrolle nennen Sie das, Herr Direktor? Ich nenne das eine Schweinerei! Glauben Sie, daß ich mich hinter einen Busch stelle und aufpasse, ob meine Leute arbeiten? Natürlich hat er Maulschellen gekriegt … aber wenn er das Consilium kriegt, dann gibt es dicke Luft, das kann ich Ihnen flüstern!«
Birkenwald ist der Fensterflügel unangenehm, und Krauthenne spricht sehr laut. Und daß der Lümmel am Tage vorher gestürzt ist, macht die Sache auch nicht besser.
»Wir wollen sehen, Herr Krauthenne«, sagt er und knackt mit seinen Fingergelenken.
»Bitte sehr genau zu sehen!« erwiderte Krauthenne unversöhnlich. »Wann ist die Feme? Um vier? Also ich bin im Goldenen Löwen und bitte mich anzurufen! Der Junge ist in der Konferenz zu vernehmen! Bestehe drauf. Moin, Direktor!« –
Krauthenne wird vernommen. Er steht zwischen der Tür und dem unteren Ende des langen Tisches. Er sieht viele Dinge zwischen seinem Eintreten und der ersten Frage. Wie beim Ertrinken, denkt er noch schnell. Da sind die Gesichter, wohlbekannt. Feierlich wie beim Begräbnis. Das Licht spiegelt in den Brillen, die ihm zugewendet sind. Die Gesichter dahinter sind gefroren. Keiserling, zur Linken des Direktors, sieht als einziger geradeaus … Zehn Lampen in zwei Reihen zu fünf … wieviel Kerzen es wohl sein mögen … Ein Volt gleich … Quatsch … Grünes Tuch auf dem Tisch … Tintenflecken machen sie auch … Ich bedaure aufrichtig, Herr Doktor, daß … Schiet.
16.23 Uhr … die Boa trägt einen Eisenschlips … natürlich.
»Also, Krauthenne, die Konferenz hat Sie vorgeladen, um Ihnen Gelegenheit, sich zu verantworten, zu geben. Wollen Sie bitte äußern, was Sie zu Ihrer Entschuldigung vorbringen können, sofern von einer solchen überhaupt die Rede sein kann.«
Der Assessor taucht den Federhalter ein und schiebt die Protokollbogen zurecht.
»Nichts, Herr Direktor«, sagt Krauthenne.
»Nichts? Wollen Sie damit sagen, daß Sie vorsätzlich, kalten Blutes, eine so ungeheuerliche Beschimpfung ausgestoßen haben?«
»Nein, ich will sagen, daß ich nichts weiß.«
»Sie fühlten sich nicht wohl?«
»Nein.«
»Sie waren gestürzt?«
»Nein, die ›Rühr-mich-nicht-an‹ stürzte, und da kam ich mit auf den Boden.«
»Die Rühr-mich-nicht-an? Das ist das Pferd?«
»Ja.«
»Also Sie stürzten beide?«
»Ja.«
»Auf den Kopf?«
»Verloren Sie die Besinnung?«
»Einen Augenblick.«
»Na, das ist ja wohl auch kein Spaß, so von oben runter. Fix ging es wohl auch?«
»Es war das Finish.«
»So … das Finish … ja … Und am nächsten Morgen nun?«
Birkenwald fragt, und Krauthenne antwortet. Er paßt auf. Er heftet seine Augen auf Birkenwalds Fußsack. Es geht um die Wurst, denkt er zwischendurch.
Nach siebenundzwanzig Minuten ist festgestellt, daß der Schüler Krauthenne nach einem schweren Sturz am vorhergehenden Tage, mit folgender Besinnungslosigkeit, psychisch erheblich erschüttert zur Schule gekommen sei; daß die überraschende Entdeckung seines Täuschungsversuches ihn plötzlich aus dem Gleichgewicht geschleudert – »Bitte, schreiben Sie ›geschleudert‹, Herr Kollege« – habe; und daß er glaube, sich erinnern zu können, in einer momentanen Geistesabwesenheit das inkriminierte Wort gesagt zu haben. Gründe könne er nicht angeben. Auch sei das Wort sonst seinem Sprachgebrauch fremd. Er bedauere das Geschehene von Herzen und sei bereit, sich in jeder Hinsicht zu entschuldigen.
»Ja, dann wäre wohl alles geklärt … oder sollte einer der Herren … möglicherweise … noch eine Frage zu stellen haben?«
Ja, Boas hatte noch eine Frage zu stellen. Boas hob zu diesem Behuf den Blick langsam von unten herauf, bis er Krauthennes Augen erreicht hatte. Alles übrige blieb bewegungslos an ihm. Es sah aus, als ob die Schere eines Hummers sich bewege. Es sah unorganisch aus, als könne er den Kopf auch abnehmen und auf den Tisch stellen. Und auch seine Stimme war unorganisch, eine ferne, mechanische Stimme wie aus einem Grammophon.
Ob der Schüler Krauthenne vielleicht Umgang mit einem gewissen Herrn Wiltangel habe?
Ja, natürlich.
Das »Natürlich« sei ein Urteil, das über die strikte Beantwortung der Frage hinausgehe. Also ja. Ob im Umgang mit besagtem Herrn Wiltangel vielleicht das Wort »Saubock« eine nicht unhäufige Rolle spiele? Da die Zoologie Europas diesen Begriff nicht kenne, sei er vielleicht ein exotischer Begriff?
Nein, dieses Wort sei niemals gefallen. Das wisse er genau.
So, so, meinte Boas langsam. Woher er denn das Wort habe? So, so – von den Gespannknechten. Noch einige schmale Bewegungen der Lippen. Gespräche bei den Lagerfeuern? Aufreizung zum Schulhaß, ja?
Ergebnislos. Krauthenne ist ganz wach und auf dem Posten.
Der Direktor räuspert sich. »Also Sie können gehen, Krauthenne, und in Ihrer Klasse warten.«
Um 18.07 Uhr fällt der Antrag des Ordinarius auf Erteilung des Consiliums, da er nicht die notwendige Dreiviertelmehrheit erhält.
Um 18.09 wird der Untersekundaner Krauthenne mit der Androhung des Consiliums bestraft, wobei nach Maßgabe der amtlichen Bestimmungen die ausgesprochne Androhung erlischt, sobald der Schüler Krauthenne sich ein Jahr tadelfrei geführt hat. Begründung: Da der Untersekundaner Krauthenne und so weiter … Das Protokoll wird verlesen, genehmigt und unterschrieben.
»Ich danke, meine Herren.«
Um 18.17 Uhr wird Herr Krauthenne an den Fernsprecher des Goldenen Löwen gebeten. »Androhung? Was heißt Androhung … so … na, das ist denn noch mal gut gegangen … für beide Teile, jawohl! … Also, Direktor, den Rotspon habe ich warm stellen lassen … na, natürlich … halbe Stunde? Schönchen … Wiedersehn.«