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Erster Teil


I.
Die Nacht der Tiere

Der Kandidat der Theologie Andreas Nyland hob sein blasses Antlitz lauschend aus dem Heulager des Schobers, in dem er seit Beginn der Dämmerung verborgen gelegen hatte, und blickte wie ein Tier aus der Dickung in die dunkle Oktobernacht hinaus. Seine Hände schlossen sich mit nervösem Zittern um den kühlen Eisenring, an dem die Last der vielen Schlüssel hing, die in die Schlösser der Käfige paßten, und seine Finger tasteten noch einmal über das vielgestaltige tote Metall, dessen feine Unterschiede ihm doch so vertraut waren wie die Gesichtszüge lebendiger Wesen.

Aus zerklüftetem Himmel, wo nur hin und wieder aus dem Bodenlosen ein blasser Glanz abnehmenden Mondes fiel, brachen die späten Stürme der Tag- und Nachtgleiche über die tote Erde, brausten in den Bäumen des Tiergartens und heulten in Draht und Eisengestänge der Käfige, in denen die Tiere unter dem schweren Rauschen erbebten, aus dem die dumpfe Ahnung von Heimat und Ferne rief.

Seltsam wild und lebendig war die Nacht. Licht und Menschen waren zerstoben und in die Häuser verweht, über denen die Dachziegel schrien wie über schlafenden Sälen, aber ein heißer Atem fremden Lebens ging über die feuchte Erde. Die Adler im großen Raubvogelhaus öffneten schlaflos die Schwingen, und der Schrei des Wanderfalken warf sich klagend gegen die hohe Wölbung, in der der Sturm sich fing. Verlor das große Brausen für Herzschlaglänge sich in der Schlucht am Ende des Gartens, so hörte man wohl das Wasser des Flusses ergreifend durch die Stille gehen und den Ruf der Wildgänse hoch und schnell über die Wipfel eilen. Dann bogen die hochschäftigen Fichten sich wieder nach Süden, und das trockene Laub schlug wie Metall an das Drahtnetz der Gitter.

Aber ununterbrochen und wilder und aufreizender als alle Sturmnacht brach in regelmäßigen Stößen der Schrei der Brunfthirsche durch den Lärm der Erde. Er zerschlug den Strom des Sturmes und die Wolkenbrandung. Wie aus springenden Fesseln und letzter Not schrie er durch Eisen und Pfahl nach Lösung und Blut, nach brausenden Wäldern unter Schatten und Licht, nach dunkler Erde unter federndem Lauf. Und der dampfende Atem floß in die Nacht. Er glitt von Käfig zu Käfig, von Haus zu Haus. Er rüttelte an den Stäben wie Menschenschrei in blutiger Nacht. Er riß den Schlaf von den Augen der Kreatur, und in dumpfer Qual rief es zurück von nah und fern.

Dem Lauschenden aber bedrängte es die Brust, und er legte die Hände auf sein Herz, weil es ihn traf wie der Schlag einer Faust. »Ich komme, ihr Brüder,« flüsterte er, »bald … bald.« Und ein versunkenes Lächeln fiel wie ein Fieberglanz über sein Gesicht. Eine Weile hingen seine Augen an den leuchtenden Zeigern seiner Uhr, drängten sich schmerzvoll an die beiden schimmernden Striche, gefesselt von der Qual unendlich langsamen Vorwärtsschreitens, und schlossen sich dann langsam zu, während sein Kopf wieder in das Heu zurücksank und eine schwere Falte leidvollen Grübelns seine breite Stirn zerschnitt.

Die Drähte klangen, und es klirrte im Dunkel wie Stacheldraht. Das Lager tauchte auf. » Stop, who's there?« »Sentry, on!« Sturm über französischem Land. Schritt der Wachen, schwer wie Schicksal, und ein fahles Antlitz, in den Zaun gepreßt, mit fiebernden Augen, die im Osten hingen. Korporal Jenkins' weiche Hand. » Ah, poor boy! Home-sick, I know … damn this war!« Und Frühjahr und Herbst, und Regen und Wind. Und Nächte, die in tausend Qualen zerfielen, und Tage, die gleich gelben Strömen sich wälzten. Und ferne, ferne brauste das Meer.

Die toten Brüder trieben vorüber, Wasser und Tang in Haar und Augen. Und das Blut, das die Erde rötete, Tränen und Leid wie ein ewiger Strom … Ein Riegel klirrte, der Falke schrie wieder auf, und er hob sich bebend in die Knie, von der Nähe der wilden Tat geschüttelt. Wenn sie ausbrächen! Wenn sie sich aufschwängen! Alle! alle! Nach Süden zu, wo der Sturm über dem dunklen Forst in der Heimat lag … wie weich war die Erde, duftend nach moderndem Laub, nach Scholle und weitem Land … und unter klingendem Flügel rauschte die Luft … stöhnende Wipfel … Straße und Dorf … und über das Moor dröhnte der Schrei, weithinhallend und frei … vom Leide riß sich das Tier … nur der Mensch, ach, der Mensch …

Er stand am Gitter und blickte noch einmal hinauf. Dann fielen Sturm und Nacht über seinen lautlosen Weg. Nur die Schlüssel klirrten leise am weichenden Schloß, und raschelnd zerstob das Laub, wenn dunkel und schnell ein neuer Schatten mit der Erde verfloß. Die Fessel fiel, und ins Unendliche riß der Atem der Nacht das befreite Tier. Heisere Schreie durchbrachen den Sturm, taumelten über brausendem Geäst, stießen an Käfig und Gebüsch und vertieften das Fieber schwer lodernden Blutes, das aus flimmernden Augen glomm und aus federnder Unrast, die am Gitter auf- und niederstrich.

Kein Schwanken, kein Augenblick des Zögerns hemmte Nylands Weg. Wie im Licht der Sonne und guter Tat eilte er von Tür zu Tür, und eine tausendfach durchlaufene Reihe peinlich geordneter Vorstellungen lief lautlos ab wie Garn von makelloser Spindel. Verweilen gab es nur vor fremdem Tier und an den Raubtierhäusern. Er sah in die glühenden Lichter der Wölfe, und traurig sprach er ihnen zu, von den weiten Wäldern unter sinkendem Mond, vom Eulenruf über nebligem Moor und von den Zeiten, da der Mensch nicht mehr Käfige bauen würde, weil das Mitleid das Leid ertränkt haben würde. »Klagt nicht, was der Mensch euch angetan hat,« flüsterte er, »denn wieviel mehr tut der Mensch dem Menschen an!« Mühsam riß er sich los, und immer schwerer fiel die Last der Allmacht auf sein abwägendes Herz. Aber der Schrei der Hirsche trieb ihn weiter auf vorgezeichneter Bahn, und erst als der dampfende Atem über seine feuchte Stirne fuhr, als der rasende Sprung verklang im brechenden Geäst und es einander entgegenschrie, weiter und weiter verklingend in Dunkel und Sturm, lächelte er scheu, als sehe ein Kind erfüllt, was man ihm aufgetragen über seine Kraft.

Ein weißer Spalt brach im Osten aus düster geballtem Gewölk, als er zum Dach des Adlerhauses emporstieg. Der Schrei der Vögel schlug heiß an ihm empor, als seine Hände nach den Klammern tasteten, die er in der letzten Nacht um den zerschnittenen Kreis gelegt hatte. Der Sturm schlug wie eine Meereswelle auf ihn nieder, und er preßte den schmerzenden Körper eng an den federnden Draht, der unter den heulenden Stößen klirrte und sang. Und kaum riß er, die Linke in das Eisen gepreßt, mit der rechten Hand am gelösten Geflecht, als der Sturm es hob, aus brechenden Gelenken schleuderte und wie ein knatterndes Segel durch stiebende Wipfel in die leeren Räume fegte, aus denen gestaltlos eine matte Dämmerung stieg. Aus der dunklen Höhlung aber hob sich steil, mit jähem Schrei, der erste Vogel unter das jagende Gewölk und schoß, das Antlitz des Liegenden fast streifend, mit angezogenen Schwingen gleich dem Geschosse einer klingenden Sehne tönend in die Unendlichkeit hinaus.

Der Rausch der Entfesselung durchglühte Andreas Nyland. Über dem Abgrunde der Nacht lag er auf schwankendem Geflecht, Schwingenschlag und Schrei unter sich, Wolken und steigendes Licht zu seinen Häupten. Vor seiner fiebernden Seele donnerte der dunkle Forst der Kindheit, und er hing wieder im harzigen Geäst, über den Rand uralter Horste gebeugt, oder dem Zug der Wolken hingegeben, der mit Untergangsglut die Wipfel säumte.

Wachsende Dämmerung schreckte ihn dann aus Träumen des Heimwehs und der Erschöpfung, so daß er am Gitter lautlos niederglitt, die Türe öffnete und mit verhaltenem Ruf die noch Zögernden in den Morgen scheuchte. Und Schmerz erfüllte ihm die Seele, als er sah, wie schwer die Könige aus langgetragenen Ketten sich lösten.

Zuletzt saß nur der Steinadler dicht unter dem geborstenen Dach, den dunklen Körper wagerecht gestreckt, die mächtigen Schwingen halb geöffnet und das stolze, breite Haupt spähend nach allen Seiten werfend. Die Hände im Gitter verschränkt, atemlos, sah Nyland zu ihm hinauf. »Empor, mein Bruder,« flüsterte er mit bleichen Lippen, »o hebe dich auf, bevor die Sonne kommt …« Der Adler schüttelte sein Gefieder, das der Sturm zerriß. Dann kam ein leiser, träumender Laut aus seiner Kehle, und plötzlich, daß die Stange bebte, stieg er aus dem leeren Haus, rüttelte eines Augenblicks Länge über dem klingenden Draht und gab sich dann weit geöffnet dem Atem des Sturmes hin, daß sein geballtes, jagendes Bild in die Wolken schoß und verging.

Ans Gitter gepreßt, die Arme über sich um das Eisen gelegt, stand Nyland und blickte ihm nach. Klarer stiegen die Fichtenwipfel ins wachsende Licht, heller schlugen die Zweige in den fahlen Morgenraum, und noch immer preßte er das bleiche Gesicht an die kühlen Stäbe, selbst einem ewig Gefangenen gleich. »Und ich?« flüsterte er erschauernd … »Und wir? …« Dann schloß er sorgsam die Tür hinter sich, sah im geöffneten Tor Tierfährten in weicher Erde nach außen ziehen und schleppte sich todmüde, mit erloschenen Augen, an verbleichenden Laternen vorbei dem Hause zu, in dem er wohnte.

Am Abend stand er vor dem Universitätsrichter. Seine Augen zuckten schmerzhaft in dem grellen Gaslicht des weiten Raumes, und seine gefalteten Hände, die viel zu lang und schmal aus dem zu engen Mantel hingen, hielten das schwere Bund mit der Unzahl rostiger Schlüssel. »Jawohl, Herr Geheimrat,« sagte er leise, »ich bin es gewesen.«

Der Geheimrat sah ihn schweigend an. Das strenge Gesicht hinter der spiegelnden Brille verlor seine scharfen, müden Linien und nahm den Ausdruck völliger Fassungslosigkeit an, die alle Härte verwischte.

»Sie,« antwortete er endlich langsam und erschreckt, »Sie sind …?«

»Jawohl, ich bin es gewesen,« wiederholte Nyland und legte das Schlüsselbund vorsichtig auf das grüne Tuch des Tisches.

»Ja aber … haben Sie denn den Verstand verloren?« brach der Richter plötzlich los.

Nyland schüttelte demütig den Kopf. »Ich will Ihnen alles erzählen,« sagte er traurig. »Nur … es ist eine lange Geschichte …«

Der Geheimrat sah ihn hilflos an. »Und … Theologe, sagten Sie? Kandidat der Theologie?«

Nyland nickte und ordnete wie abwesend die Schlüssel.

»Aber dies … die Schlüssel … wo haben Sie sie her?«

»Ich habe sie mir selbst angefertigt, nach Abdrücken … Korporal Jenkins hat es mich gelehrt, zum Spaß, gegen das Heimweh.«

»Jenkins? Wer ist Jenkins?«

»Im Gefangenenlager, im ersten … er war Büchsenmacher und mein Freund … gun-maker … er liebte mich … › Cheer up, poor boy,‹ sagte er, › we'll go to work … damn this war …‹ so kam es.« Er sah sich unruhig im Zimmer um, dessen Ecken im Dunkel lagen. Regen begann an die Scheiben zu klopfen.

»Nun, nun,« sagte der Richter verwirrt, »kommen Sie, hier, nehmen Sie einen Stuhl. Es geht ja nicht ans Leben. Und nun erzählen Sie.«

Nyland stützte das Kinn in die fiebernden Hände, den schweren Blick seiner Augen ins Dunkel gerichtet. »Es ist dreierlei,« begann er müde, und eine schwere Falte spannte sich über seine blasse Stirn. »Dreierlei … die Mutter, und das alles … der Krieg und die Gefangenschaft … und … der Traum …« Er flüsterte das Letzte und schauderte zusammen.

Der Richter sah ihn unruhig an und schwieg.

»Ich bin aus dem Walde,« fuhr Nyland fort. »Oder aus den Wäldern. Sie sind sehr groß und weit. Wenn der Sturm in ihnen donnert, dann stehen die Toten auf, aus Jahrtausenden. Es ist ein dunkles Land, und die Menschen sind sehr still, und die Vögel singen trauriger als anderswo. Die Wälder schlagen uns tot da unten. Und sie sagen, daß meine Mutter nur die Passion gelesen habe, als sie mich erwartete. Nur die Passion, Tag und Nacht. Und ich sollte Pfarrer werden, um die Tränen zu trocknen. Meine Mutter sagte, niemand wisse, wieviel Tränen auf Erden fließen, und die Menschen würden wahnsinnig werden, wenn sie es wüßten. Aber sie wußte es, und sie lehrte mich, darauf zu lauschen, sehr früh schon. Oft saßen wir im Herbstwald unter den schweren Fichten, wenn es regnete, und hielten uns bei den Händen und lauschten, und meine Mutter sagte, es seien Tränen, die fielen … Sie starb einen schweren Tod und war umnachtet, bevor sie fortging.

Ich wurde wohl auch laut und wild wie meine Brüder, aber der Schleier blieb. Ich konnte ihn nicht zerreißen. Und ich habe nie ein Tier getötet oder gefangen. Sie verachteten mich. Mein Vater zerschlug die kleine Büchse, die er mir geschenkt hatte, und nannte mich einen Bibelhasen … ich habe viel geweint … davon mag es wohl auch kommen.«

Der Richter schrieb nicht mehr wie zu Anfang. Er spielte nur mit dem Bleistift und hob ab und zu den Blick zu den dunklen Augen, die anders waren als alle, die er sonst an dieser Stelle sah: weich und sanft, aber mit einem leisen Lodern, das plötzlich aus der Tiefe brach, und feucht und schwer wie Tieraugen, die hoffnungslos in die Ferne tauchen.

»Ja,« sagte Nyland zusammenschreckend, »das ist das eine … wozu darüber reden … Dann habe ich studiert, ganz allein, denn auch mein Vater starb und meine Brüder hatten mich so gut wie verstoßen. Ich hatte nur einen Hund, den ich auf der Straße fand. Er war häßlich und auf einem Auge blind, aber er liebte mich. Ich hatte niemand als ihn … Und dann zog ich in den Krieg …« Er fiel in dumpfes Brüten.

»Und dann?« fragte der Richter leise.

»Ja … so fragen sie alle. Sie fragen: ›Warst du verwundet? Warst du in Gefangenschaft? Welche Orden hast du?‹ Aber nach dem andern, da fragt niemand. ›Wo hast du das Blut gelassen? Und sind deine Augen nicht blind geworden?‹ Keiner fragt so. Ich tat meine Pflicht, Herr Geheimrat, so gut wie jeder. Aber es war eine Passion, wie bei meiner Mutter. Eine ganze Nacht lag ich bei einem Sterbenden, dem ein Splitter den Leib zerrissen hatte. Ein Engländer war es. › Oh, my brother!‹ rief er immerzu. › Oh, my brother!‹ bis er starb. Ich höre es immer noch. So rufen sie alle, auf der ganzen Erde, denen wir das Messer auf die Brust setzen. ›Mein Bruder!‹ rufen sie. Auch die Bösen, auch das Tier. Der Hund, den wir treten, der Vogel, den wir fangen, das Kind, das wir schlagen. Unser innerer Mensch, wenn wir den Gott in ihm kreuzigen, sie alle sehen uns an und sprechen dies leise, klagende Wort. Und wir wissen es alle, daß sie es sprechen, Sie auch, Herr Geheimrat. Sie selbst sagen es, diesen Augenblick. ›Mein Bruder,‹ sagen Sie, ›da sitzest du und bekennst deine Sünde. Tiere hast du befreit, die nicht dir gehören. Ein Unrecht hast du getan, aber wie soll ich dir zürnen? Liegt dein Herz nicht vor mir? Sehe ich nicht die Mächte, die dich treiben? Und nun soll ich dich strafen, weil das Leid dich bezwang?‹ Sie schütteln den Kopf? Ach nein, der Gekreuzigte in Ihnen schüttelt nicht den Kopf. Und Sie wissen es selbst …

Ja, und dann wurde ich gefangen, nicht aus Feigheit, o nein. Ich tötete, bevor sie mich bekamen. Und dann dauerte es noch zwei Jahre. Ein Jahr bei den Amerikanern, bei Korporal Jenkins, und dann ein Jahr bei den Franzosen. In der Hölle, ein Jahr in der Hölle. Menschen habe ich gesehen, Herr Geheimrat, ach, was für Menschen! Mit den Zähnen hätten sie sich zerrissen, wenn nicht der Draht gewesen wäre, und die Kugel, und die Peitschen.

So kam ich zurück. Am Kreuz hing das deutsche Herz, und das Blut floß über den Stamm. Niemand war da, es zu trocknen. Nach Wasser schrie es, nach Bruder und Gott. Aber sie gaben ihm Wahlrecht und Verfassung, und Tarife und Gleichheit. Steine gaben sie ihm und Papier.

Mich aber schauderte. Feige war ich. Wer wollte wohl leiden von uns? Da floh ich zum Tier. Ich kam hierher und lief zu meinem Hund. Ich fand ihn nicht. Die Leute waren fort. Der Mann war tot, gefallen, und die Frau war fortgezogen. Keiner wußte wohin. Aber der Hund war schon vorher weg. Sie haben gehungert, und man sagte mir, daß sie ihn wohl gegessen haben, in dem schweren Winter, als die Kinder weinten und starben. Sie lachten, als sie es mir erzählten. ›Er hatte ja auch bloß ein Auge,‹ sagten sie, um mich zu trösten.

In die Heimat ging ich nicht, weil ich feige war. Ich fürchtete mich … vor … vor etwas anderem. Meine Brüder waren tot, alle drei liegen sie auf dem Meeresgrund. Und was für Menschen, so stolz, so frei! Vaters Blut … Da ging ich zu den Tieren. Jeden Abend, wenn mein Kopf vom Arbeiten schmerzte, war ich bei ihnen. Ich kannte sie alle, ich kannte auch ihr Leid … Und so kam es. In den Nächten machte ich die Abdrücke, sehr sorgfältig, ich ließ mir Zeit. Und dann feilte ich die Schlüssel zu. Ich arbeitete auch in einer großen Fabrik, da fiel es nicht auf. Manchmal fragte ich leise: ›Was tust du? Ist dein Verstand hinter den Drähten geblieben?‹ Aber es half nichts. Der Adler sah mich an, als hoffe er nichts mehr von mir … Und dann kam der Traum, viermal, fünfmal, da mußte ich.«

Seine Augen irrten wieder durch die dunklen Ecken, und er zog den Stuhl näher an den Tisch, hinter dem der Geheimrat ihn teilnehmend betrachtete.

»Was für ein Traum, Herr Nyland? Wollen Sie ihn nicht erzählen?« Er sprach so zart wie zu einem Kinde.

»Jawohl, ich werde.« Er strich sich das helle Haar aus der feuchten Stirne und schloß die Augen. »Der Traum … ja … ich habe immer viel geträumt, weil die Dinge nicht außer mir waren, sondern in mir. Im Traum baut sich die zweite Welt, die innere, gefährliche. Der Schleier fällt, und schaudernd sehen wir die Spinne an unserem Schicksal weben … Aber das war es nicht, sondern daß er wiederkam, fast unverändert, und daß ich im Traume wußte, daß es derselbe ist, und daß er irgend etwas haben wollte, damit er nicht wiederzukehren brauchte … Zuerst ist es eine Öde, in Nebel ertrunken. Der Boden ist naß und schwankend, und Schilf rauscht irgendwo in schwarzem Wasser … Man kann nichts sehen, aber man glaubt, daß ein Wald irgendwo rausche, ein sehr dichter und unheimlicher Wald, ein Espenwald, das kann man hören. Und so ist das Ganze: unheimlich, fast grauenvoll. Kein Wesen ist da, nur Totenstille.

Stunden und Stunden gehe ich, und es ist, als ob das Land mitgehe, die Gräben mit öligem Wasser, das Schilf, die gurgelnden Blasen, und das weite, unheimliche Rauschen. Auch die Gefahr geht mit, die Lähmung in den Gliedern. Und ich weiß, daß ich diesen Weg schon gegangen bin, ich weiß, daß etwas Furchtbares kommen wird, aber ich weiß nicht was. Und es ist so dunkel, daß man nicht weiß, wann es kommen kann.

Bis es dann da ist. Man muß über einen Graben springen, in dem riesige Spinnen sich auf das Spiegelbild stürzen. Dann ist ein breiter, sumpfiger Weg, und dann reckt es sich auf aus rieselndem Nebel: das Haus. Es ist schwer zu sagen, was so schrecklich an ihm ist, außer daß man es wiedererkennt, daß man das Dach nicht sehen kann, keine Fenster, keine Tür, nur abgeblätterten Putz in gelben, fast eitrigen Flecken; daß es schweigt, furchtbar schweigt, und daß man dann ohne Übergang von der Straße fort ist, vom Wasser, und mitten im grauen Hause steht.«

Er schwieg erschöpft, von neuem die Stirne trocknend. Sein bleiches Antlitz trug die Schatten tiefen Leides, und er blickte auf seinen Zuhörer, als beichte er einen Mord, dessen Blut noch an seinen Händen brenne.

»Sie haben zuviel gearbeitet,« sagte der Geheimrat und atmete tief auf. Die Uhr in der Halle schlug siebenmal, sehr langsam und schwer. Die Töne schwangen durch die Stille, bis in das Zimmer hinein, und erstarben bebend. Eine ferne Tür fiel donnernd zu, daß sie beide zusammenfuhren. Dann lag das große Haus in lautlosem Schweigen. Nur die Gasflamme sang wie ferne fallender Regen.

»Ja,« sagte Nyland, »ich habe viel gearbeitet. Im Frühjahr mache ich mein erstes Examen. Aber das ist es nicht. Ich bin nicht krank. Ich leide zu wenig, das ist es. Und deshalb führt es mich in das dunkle Haus. Dort muß ich emporsteigen, nicht Treppen, sondern Leitern, dünne, über Abgründen schwebende. Es gibt keine Treppen in jenem Haus, nur ein furchtbares Aufwärtsklimmen, wie über dunklen Wassern. Wenn man fiele, würde man in sie hineinstürzen. Man steigt und steigt, die halbe Nacht oder noch länger. Es gibt keine Zeit in dem Hause, keine Uhren, keinen Ton, nur Schweigen.

Und dann ist man unter dem Dach. Die Leiter fällt, langsam, taumelnd, ins Bodenlose. Und Kammer schließt sich an Kammer. Gebückt muß man gehen, Spinngewebe klebt an der nassen Stirn, Moder steigt auf, Gerümpel ballt sich bis an die Decke, Papier, alte Spinnrocken, weiße Laken. Die Türen klemmen und verschwinden hinter mir. Raum auf Raum, fahl, wirr und verflucht. Und das Herz weiß, daß es nun kommt. Alles erkennt es wieder, wenn es versunken ist, erst dann. Und nun kommt der letzte Raum, groß, verdämmernd, Balkengewirr und tiefe Nischen. Und hinten, ganz weit, auf der rechten Seite, da sitzt er, mein Hund mit dem blinden Auge …«

Er schlug die Hände vor das Gesicht und flüsterte nur noch.

»Den Kopf hält er schief, wie in seinem Leben. Er klagt ganz leise, und ich sehe von weitem ein hilfloses, verzweifeltes Flehen in seinem Auge, mit dem er mich zu sich ruft. Ich hebe den Fuß, um zu ihm zu laufen. Aber ich bin gelähmt. Ich will rufen, schreien, aber es würgt mich um meine Kehle, und ich bin stumm. Er winselt und schleppt sich zu mir, nur mit den Vorderläufen. Aber kaum bewegt er sich, da geschieht es, das wieder Bekannte, das namenlos Entsetzliche. Aus den tiefen Nischen fließt es heraus, lautlos, aber nicht zu bändigen, fahl, quellend, endlos, wie Eiter aus einer Wunde: die Ratten. Zuerst sind es Ströme, dann ein Meer, dann Haufen und Berge, wimmelnd, zergleitend, sich wälzend. Meine Füße versinken in ihnen, im Taumel werfe ich mich um einen Balken, von dem die Spinnen fliehen.

Aber sie sehen mich nicht, die Ratten. Nur ihre Augen leuchten durch die Dämmerung wie rotes Lampenlicht. Und dann höre ich ihn. Ich drücke die Fäuste gegen die Ohren, aber ich muß ihn hören. Er winselt nicht mehr, er klagt nicht mehr, er schreit. Ja, anders kann man es nicht sagen: Wie ein Mensch, dem man langsam die Glieder aus dem Körper reißt, so schreit er, unaufhörlich, ohne Auf- und Abschwanken, ohne Wechsel, ein einziger, gleichbleibender, gräßlicher Schrei. Und sie sind über ihm, daß nur sein Kopf aus der grauen Flut heraussieht, und ich sehe das Blut an ihren weißen Zähnen, und wie sein Auge sich ersterbend schließt und noch im Tode mein Bild umfaßt …«

Der Geheimrat war aufgesprungen und streckte die zitternde Hand zur blinden Abwehr über den Tisch.

»Das ist … still … Sie sind wahnsinnig …«

Nyland sah verstört zu ihm auf. Er versuchte zu lächeln, aber seine Lippen verzerrten sich nur. »Nein, Herr Geheimrat,« flüsterte er, »nein … fürchten Sie sich nicht. So entsetzlich es auch ist, es ist ja nur ein Traum! Nur ein Traum.«

»Und dann?« murmelte der Richter. »Ist es nun zu Ende?«

»Ja, es ist zu Ende, beinahe. Denn ich tue nichts. Ich will mich zu ihm stürzen, ihn auf die Arme nehmen, ihm das Blut abwischen, aber ich tue es nicht. Ich kann nicht, aber ich kann nicht, weil ich zu feige bin. Ich bin mitleidig bis zur Vernichtung, aber ich leide nicht mit. Ich werfe mich nicht hinein in das graue Meer, neben ihn, sondern ich fliehe, langsam, gewaltsam, weil der Schrei mich gepackt hält, aber ich fliehe. Eine Tür öffnet sich, und ich fasse taumelnd nach der Leiter, die an der grauen Wand steil ins Bodenlose führt. Nun sehe ich auch das Land, Wasser und brodelndes Moor, und dahinter den schweren, rauschenden Wald, und an seinem Rande, da kniet jemand und gräbt mit den Händen in der Erde, und sieht sich um wie ein Tier über einer Leiche. ›Wer ist das?‹ denke ich, ›o Gott, wer ist das denn?‹

Die Leiter schwankt, Sprossen bröckeln in die Tiefe, ich hänge über Qual und Tod, und hinter der Wand des Hauses, hinter dem zerblätterten Putz, folgt mir der Schrei, nur leiser und leiser ersterbend, unter grauen Leibern, die im Blut sich röten.«

Er schwieg, sich krümmend unter dem toten Schweigen des Raumes.

»Und doch, Herr Geheimrat,« flüsterte er dann, die Augen hebend, »doch ist das alles nicht das Furchtbarste.« Er stand auf und ging um den Tisch herum, bis er neben dem Richter stand, der sich in leisem Grauen zurückbog. »Das Furchtbarste,« flüsterte er, die Hände krampfhaft gefaltet, »ist, daß das Antlitz des Tieres sich ändert. Es gibt so etwas im Traum, sinnlos und nicht zu erklären … Und hier, wenn nur der Kopf noch zu sehen ist, das brechende Auge … dann ist es nicht mehr das Haupt des Tieres … dann ist es … es ist Christi Haupt …«

»Und der Schrei,« fuhr er nach langem Schweigen fast unhörbar fort, »der Schrei, der durch die Wände dringt, ich verstehe seine Worte, und er heißt: ›Mein Bruder, mein Bruder … weshalb hast du mich begraben?‹ … So ist es gekommen, Herr Geheimrat, nicht anders.«

Er tastete sich nach seinem Stuhl zurück und saß nun wieder bescheiden, mit gefalteten Händen, wie zuvor.

Der Geheimrat ging zwischen Schreibtisch und Fenster auf und ab, die Hände auf dem Rücken, die Stirne gebeugt. »Sie müssen zum Arzt, Herr Nyland,« sagte er endlich heiser. »Vielleicht können wir Sie ein paar Monate fortschicken, ins Gebirge …«

»Ach nein, Herr Geheimrat, das ist es nicht. Ich habe jetzt erkannt, wo mein Weg ist und woran das alles liegt. Sie wollen, daß ich mich freue, aber ich will, daß ich leide, daß ich endlich anfange zu leiden, wenn kein anderer anfangen will.«

»Und weshalb wollen Sie leiden?«

»Damit ich das Leid auslösche. Ich will Pfarrer werden, Herr Geheimrat, das heißt, ich will Christi Nachfolger werden. Christi Nachfolger sein heißt aber leiden. Es heißt nicht ein Examen machen, mit ›gut‹ oder ›sehr gut‹ und dann hier und da wie ein Schauspieler auftreten und predigen, damit die Leute sagen: ›Diesen wollen wir haben.‹ Und dann sehen, ob die Stelle gut ist, ob die Tapeten neu gemacht werden, ob viele Trauungen und Begräbnisse sind. Das heißt nicht gut essen und trinken und zu den Hungernden sprechen: ›Murret nicht, Gott weiß schon, wozu es gut ist.‹ Das heißt leiden, Herr Geheimrat, nicht mitleiden, sondern leiden. Wenn ein Kind weint, so sage nicht: ›Still, kleines Dummchen, der Weihnachtsmann bringt dir eine neue Puppe,‹ sondern weine mit dem Kinde und es wird aufhören. Und wenn dein Volk ein Kreuz trägt, blutend und keuchend, so stelle dich nicht auf die Kanzel oder an den Schreibtisch und predige: ›Schwer liegt Gottes Hand auf uns, aber wir müssen zu ihm vertrauen,‹ sondern wirf dein Tagewerk von dir, dein Essen, dein Kleid, deine Liebe, und nimm ein anderes Kreuz und sage: ›So, nun wollen wir beide tragen.‹ Wenn in einer Gemeinde hundert Seelen sind, die leiden, Herr Geheimrat, und eine, die nicht leidet, so werden die hundert Gott und der Menschheit fluchen. Aber wenn auch die eine leidet, freiwillig leidet, dann wird das Leid aufhören, eine Qual und eine Geißel zu sein … Jetzt will ich leiden um des Tieres willen, und dann will ich leiden um der Menschen willen.«

»Um des Tieres willen?«

»Ja, werden Sie mich denn nicht ins Gefängnis schicken?«

»Ich glaube nicht, Herr Nyland. Sie werden mir versprechen, daß, wenn der Direktor der Nervenklinik Sie rufen läßt, Sie zu ihm gehen werden. Und dann werde ich mit den andern, mit … den Geschädigten sprechen, ich kenne den Direktor … und ich hoffe, daß es sich beschönigen läßt, wenn man alles so darstellt, wie es gewesen ist … Einen Teil hat man schon wieder eingefangen … die Vögel zwar, die sind verloren, aber nun …«

»Einmal will keiner opfern,« sagte Nyland müde, »und dann will keiner das Opfer …«

»Sie sagten selbst, Herr Nyland,« unterbrach der Geheimrat vorsichtig, »daß es noch anderes Leid gebe als das Leid im Tiergarten … und außerdem wollen Sie Pfarrer werden.«

»Ja, gewiß … anderes Leid … die Brüder, das deutsche Herz … der Heiland … ach, Herr Geheimrat, Sie sollten mich doch vielleicht ins Gefängnis schicken.« Er hob die gefalteten Hände.

»Lassen Sie sich etwas Zeit, Nyland,« sagte der Geheimrat leise. »Es sind genug Opfer gefallen. Auch Christus könnte nicht alle Tränen abwischen.«

Nyland stand auf und nahm seine Hand. »Ich danke Ihnen,« flüsterte er, indem er abwesend dem fernen Schlag der Uhr lauschte. »Nein, er kann sie nicht abwischen, denn er ist begraben … die Espen rauschen, aber keiner kommt … ich muß, ich muß!« schrie er verzweifelt. »Meine Sünde, ich muß sie bekennen! Nicht loskaufen mit Tier und Tränen, bekennen muß ich … in die Heimat gehen und bekennen … Ja, ich danke Ihnen,« flüsterte er wieder, »auch Sie haben geholfen. In die Heimat will ich gehen und mein Kreuz nehmen, damit will ich anfangen.«


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