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IV.
Tamara

Die Nacht des Amadeus blieb lange als ein dunkler Schatten über Nylands einsamem Leben. Seine Gedanken, deren Müdigkeit sie reif zum Vergleichen machte, spielten wider seinen Willen mit dem, was der Verlorene als das Fazit bezeichnet hatte. Die Begriffe der Masse, der Zweiheit, der Philosophie des einen Prinzips hafteten mit leisen Widerhaken in der »Rüstung«, und der Glaube an diese Rüstung hatte Stunden, wo er wankte.

Doch trat wenige Tage später ein Ereignis ein, das Andreas aus einem Lande jagte, in dem er verloren war, und ihn den Kreis der Not durchlaufen ließ, bevor ihm die Rückkehr zu dem Punkte beschieden war, wo Gott und Mensch sich scheiden.

Zu derselben Stunde, wo Andreas, der Beichte des Amadeus gedenkend, am Fenster seines Zimmers saß und den letzten Schimmer der Dämmerung im Hofe ertrinken sah, zündete Tamara zwei Kerzen zu beiden Seiten ihres Spiegels an, setzte sich, schon im Nachtkleid, davor, stützte den Kopf in beide Hände und starrte regungslos auf ihr weiß bestrahltes Bild. Ihre Augen, düsterer als je, glitten Linie für Linie an ihren Zügen entlang, von der niedrigen Stirn zum breiten Kinn und die Wangen hinauf über die Schläfen zum flachen Scheitel; ließen dann ab von allem Einzelnen und faßten das ganze Bild in sich auf; schlossen sich von Zeit zu Zeit schmerzhaft und öffneten sich mit jäher Bewegung, von einer irren Hoffnung erfüllt, als könnte inzwischen eine gnadenreiche Hand ändernd über das Bekannte geglitten sein.

Aber es blieb dasselbe. Nur daß das schwankende Licht der Kerzen mitunter einen Schatten über die Blässe huschen ließ, einen fremden Schein über den Spiegel der Augen. Es wurde ihr gar nicht bewußt, daß das Antlitz ihr gegenüber immer finsterer wurde, die Blässe immer bitterer, die Falten immer tiefer. Von ferne scholl der Lärm der Straße zu ihr herauf, als ein totes Geräusch, außerhalb ihres Seins. Sie wandte den Kopf zum Fenster, lauschte, ob im Hause sich etwas rege und streifte dann schnell das Nachthemd von ihren Schultern, wobei sie mit finster zusammengepreßten Lippen im Spiegel ihr Erröten bemerkte. Dann stellte sie das Glas etwas steiler und saß regungslos wie zuvor.

Aus ihrem stumpfen Gesicht war nichts zu lesen als ein düsterer Schmerz, der dem Haß näher stand als den Tränen. Wie ein eingekerkertes Tier starrte sie durch unsichtbare Stäbe auf eine Fremdheit, die ihr zuwider war, und wie ein solches begann sie plötzlich, den in die Hände gestützten Kopf langsam hin und her zu wiegen. Allmählich glitten ihre Schultern und ihr Oberkörper in den schläfrigen Rhythmus der sinnlosen Bewegung hinein, und dazu fing sie an, mit geschlossenen Lippen eine traurige, schleppende Melodie zu summen, fast nur um einen Ton sich hebend und senkend und von derselben Dumpfheit des Schmerzes erfüllt wie ihre sich langsam schließenden Augen.

Am nächsten Tage, einem Sonntage, klopfte sie in aller Frühe bei Andreas an. Sie bitte ihn, mit ihr zusammen einen Ausflug zu machen. Andreas willigte ohne Freude und Unlust ein, und schweigend gingen sie zu einem Vorortbahnhof.

Erst als sie um die Mittagszeit am Ufer eines Waldsees lagen und Tamara zu seinem Erstaunen ihren weißen Schleier so dicht um Antlitz und Stirne zu winden begann, daß nur ihre dunklen Augen wie die einer Maurin aus dem zarten Gespinst leuchteten, entsann er sich erschreckt der Worte, die Amadeus über ihre Liebe gesprochen hatte, und er vernahm mit Sorgen die unterdrückte Hast ihres Atems, der nicht im Gleichklang war mit dem ruhigen Rauschen der Wipfel und dem leisen Laut der Wellen im braunen Rohr.

»Was tun Sie denn da?« fragte er befremdet.

Sie lag nun auf der Seite, den einen Arm unter der Wange, und sah mit einem grübelnden Blick zu ihm auf. Nun, wo die Häßlichkeit des Antlitzes verhüllt war, mochte sie dem als ein begehrenswertes Bild weiblicher Lockung erscheinen, der die Züge unter dem Schleier niemals erblickt hatte, und wiewohl nichts Unziemliches in ihrer Kleidung oder Haltung lag, konnte Andreas nicht verhindern, daß eine Falte des Mißbehagens auf seiner Stirne erschien.

»Nein,« sagte sie nach langem Schweigen, und ihre freie Hand glitt mit einer entschiedenen Bewegung durch die Luft. »Man soll keine Rolle spielen, die einem nicht liegt …«

»Was für eine Rolle?«

»Die Rolle einer Nymphe oder eines Ladenmädchens … auch unter dem Schleier nicht … Sie verstehen schon, was ich sagen will, wenn Sie auch nicht alle Gründe kennen. Sie verstehen nur nicht, daß eine Frau bis an die Grenze der Selbstachtung, ja der Schamlosigkeit gehen kann, selbst darüber hinaus, wenn sie so häßlich ist wie ich und wenn sie … er hat Ihnen wohl erzählt von mir, ja?«

»Wenig.«

»Daß ich viel von Ihnen gesprochen habe?«

»Ja.«

»Daß ich Sie liebe?«

»Er … nahm es an.«

Sie schwieg, die Augen für eine Weile in die Kronen der Kiefern richtend.

»Sie müssen sich nicht quälen, Tamara,« sagte er schonend. »Sie wissen, daß ich allen Menschen gehöre. Sie wissen auch, daß ich meine Frau verlassen habe.«

»Ich weiß, ich weiß,« erwiderte sie ungeduldig. »Ich weiß vieles, was Sie nicht wissen. Ins Elend führen viele Straßen, und zwischen Gott und Weib stehen andere Brücken als zwischen Gott und Mann.«

»Werden Sie mich niemals lieben?« fragte sie nach einer Weile schroff. »Niemals und wenn ich dreißig Jahre um Sie diente? Und wenn ich mit Ihnen in die Hölle niederstiege?«

»Niemals so, wie Sie es wollen.«

»Auch nicht wenn es um meine … Erlösung geht?«

»Erlöserliebe ist anders, Tamara.«

Wieder glühte die jähe Feindseligkeit in ihren Augen auf. Aber sie schwieg. Sie zog die Hand unter der Wange hervor und legte den Kopf ins Moos, so daß sie gerade hinauf in den Himmel blicken konnte. Sie versuchte, zwei lange Grashalme zusammenzudrehen, und so, während ihre Hände in spielerischer Gebärde beschäftigt waren, begann sie in den hohen Raum emporzusprechen, mit eintöniger Stimme, die nichts Forderndes oder Klagendes mehr hatte.

»Ich muß Ihnen noch etwas erzählen,« sagte sie, »bevor ich in … die Neue Welt gehe. Es wird nicht so lang wie wahrscheinlich bei Amadeus, aber es ist doch wohl notwendig. Gestern abend habe ich eine Rechnung gemacht, und auch zu Christus kamen die Frauen … Wir hatten einen großen Besitz in Kurland, und ich war ein reiches und verwöhntes Kind. Ich war auch ein frommes Kind, denn alle Reichen sind dort oben fromm. Aber ich war auch ein trauriges Kind, und das ist dort nicht häufig. Meine Mutter war eine Russin, und sie hatte sicherlich mongolisches Blut. Davon kommt … das unter dem Schleier und manches andere. Ich erinnere mich an einen großen Wald, der zu unsren Gütern gehörte. Es war ein Fichtenwald, von einem Schweigen erfüllt, wie ich es nie mehr gekannt habe. An einem Sonntagnachmittag war ich aus dem Park gelaufen bis in den Wald hinein. Die Sonne schien auf die Wipfel, und das Harz tropfte auf die Erde. Ich saß auf einem gestürzten Baum, ganz still. Und da hörte ich den traurigen Vogel. Ich weiß noch heute nicht, wie er heißt, denn ich habe niemals danach gefragt. Es war ein kleines Tierchen, grau und unscheinbar, das still in den Zweigen saß. Und unaufhörlich, in kleinen Zwischenräumen ließ es seinen Ruf ertönen, einen klagenden, leise abwärts fallenden Ton, ein sanftes Pfeifen, aber von einer unendlichen Verlorenheit und Trauer.

»Ich erzähle Ihnen das, weil es vielleicht das erschütterndste Erlebnis meiner Kindheit war und von tiefem Einfluß auf mein Leben. Nur eines noch war von gleicher Bedeutung. Es war der Augenblick, wo ich zum erstenmal mit Bewußtsein erkannte, daß ich häßlich war. So häßlich, daß die Menschen sich nach mir umwandten.

»Später, als ich erwachsen war und von den Beziehungen der Geschlechter wußte, versuchte ich mir einmal das Leben zu nehmen, weil ein Mädchen mir mit roher Offenheit gesagt hatte, daß niemand mich heiraten würde, auch wenn ich Millionen besäße. Sie riefen mich wieder ins Leben zurück, und ich ging auf einige Jahre ins Ausland. Nach meiner Rückkehr wartete ich auf den Tod meiner Eltern, um aus der Welt gehen zu können. Ich war so fromm wie als Kind, aber ich mußte die Sünde auf mich nehmen.

»Dann kam der Krieg und dann die Revolution. Meine Eltern wurden unter meinen Augen erschossen. Unter den Mördern war der Knecht eines unserer Höfe, ein Mensch, vor dem mir als Kind schon gegraut hatte. Er schleppte mich zur Nachtzeit auf seinen Hof … und tat mir Gewalt an. Gegen Morgen konnte ich fliehen. Ich verschloß das Haus und zündete es an. Im Walde traf ich auf den Buschwächter und seine Frau. Sie nahmen mich auf, und ich lebte bei ihnen in einer Art von Höhle, die sie mir gruben.

»Ich hätte nun aus der Welt gehen können, ja, ich hätte es müssen, und doch tat ich es nicht. Vielleicht dachte ich, daß der zweifache Mord die Grenze überschreite, vielleicht dachte ich gar nicht, sondern saß stumpf und brütend wie ein Tier. Mein Geist war wohl verwirrt, und ich weiß, daß ich meine Stirn gegen die Erde schlug, wenn ich an das Vergangene dachte. Genug, ich nahm mir nicht das Leben.

»Dann wurde es geboren, was nach meinem Glauben und dem Glauben meines Geschlechtes ein Geschenk Gottes war, ja sein Ebenbild mit seinem lebendigen Odem. Ich berührte es nicht, ich tränkte es nicht. Und in der Nacht habe ich es erwürgt. Ja, mit diesen Händen, die nun mit den Gräsern spielen. Ich habe es erwürgt …«

»Tamara!« rief Andreas und hob die Hand abwehrend gegen sie.

Sie lächelte unter ihrem Schleier, ein finsteres, hoffnungsloses Lächeln. »Ja,« fuhr sie im gleichen Tonfall fort, »so war es … Als die Buschwächterfrau die kleine Leiche in den Händen hielt, weinte sie. ›Du Gottesblume,‹ sagte sie, ›wo wird deine arme Seele bleiben?‹ Auf mich aber fiel der Fluch Gottes. Denn was ich vorher nicht gedacht und gewußt hatte, das wußte ich nun: daß ich Gott erwürgt hatte. Es gab gar keine Wehr dagegen. Ich wußte es eben, und auch Gott wußte es. Verstehen Sie jetzt, Andreas, weshalb ich Sie an jenem Abend anstarrte wie ein Gespenst? Sie waren meinesgleichen oder ich hielt Sie wenigstens dafür. Sie hatten Gott gestohlen und begraben, aber ich hatte ihn ermordet. Und wir wissen alle, daß Mord mehr ist als Diebstahl.

»Von jener Stunde an hatte ich eine Idee. Ich hatte die Idee, daß Gott tot sei, seit ich sein Ebenbild getötet hatte. Seit Golgatha war eine solche Verruchtheit nicht auf der Erde gewesen. Gott war tot. Das furchtbarste Leid, das die Erde kennen kann, hatte ich ihr angetan.

»Ich verließ den Wald und das Land. Es war nicht leicht, aber es gelang mir. Und nun irrte ich von Stadt zu Stadt, um Gott zu suchen. Ganz weit in der Tiefe meines Bewußtseins lebte die Vorstellung, irr und feige, aber sie lebte, daß Gott doch irgendwo sein könnte, daß er vielleicht in vielerlei Gestalt die Erde erfülle und daß man ihn finden könnte. Als ich Sie traf, war diese Hoffnung nahezu tot in mir, und ich hatte beschlossen, in die Neue Welt zu gehen. Wenn man etwas verloren hat, greift man ja wie ein Kind nach solchen Dingen. Aber dieser Abend war eine neue Erleuchtung, oder eine neue Verfinsterung, wie Sie wollen. Erinnern Sie sich noch? Sie sprachen vom Sarge Gottes und sahen das Schwert nicht, das Sie mir ins Herz stießen. Aber Sie sprachen auch von Ihrem Hunde, von Anima. Das war das erste Licht. Und dann sagten Sie: ›Wenn er tot ist, dann würde er in mir wohnen. Wie weit muß man gehen und leiden, um in Wahrheit sagen zu können: Gott ist tot!‹ Das war es, und Sie waren ausgezogen, um ihn wieder lebendig zu machen in den Menschen … verstehen Sie schon, Andreas?«

Er schüttelte den Kopf.

Sie warf die zusammengedrehten Gräser von sich und legte die Hände ins Moos, den Kopf von ihm abwendend. »Wenn Gott, der in meinem Leibe war, getötet werden konnte,« fuhr sie flüsternd fort, »dann kann er auch … in meinem Leibe wiedererweckt werden … Wenn aus Haß … Liebe wird … und aus dem Tode Leben … dann kann der Fluch von mir genommen werden …«

»Andreas!« schrie sie plötzlich. »Hab' Erbarmen mit mir!« Sie bedeckte die Augen mit den Händen, und ihr Körper krümmte sich wie in den Schmerzen der Geburt.

»Tamara,« sagte er erschüttert. »Wir haben beide nicht gewußt, wie nahe Gott am Wahnsinn steht …«

Sie schleppte sich zu seinen Füßen und umklammerte sie mit ihren Armen. »Sprich nicht vom Wahnsinn,« bat sie. »Sieh mich nicht an, sieh nur Gott an in seinem Sarge und denke, daß ich ihn gemordet habe! Ich bin ja kein Weib, auch unter dem Schleier nicht. Wehe dir, wenn du denkst, daß ein Weib zu dir spricht! Niemand wird mich anblicken auf der Erde, um meiner zu begehren, in dem Gott lebendig ist. Nur einen Menschen gibt es in Alter und Neuer Welt, dem nicht grauen würde vor meinem Leibe, nur einen, der die Toten erwecken kann: den Knecht Gottes. Denn Knechtswerk ist es, Andreas, in Leiden versinkend, um das Leid auszulöschen. Bist du nicht gegangen zu den Häusern der Menschen, um anzuklopfen: ›Wohnt hier Jesus Christus?‹ ›Ja,‹ schreie ich, Andreas. ›Ja! Er wohnt in diesem Hause!‹ O weshalb wendest du dich und gehst vorüber?«

Sie drückte ihre verschleierten Züge an seine Füße und weinte mit wilden Lauten, die sein Herz erschütterten.

»Tamara,« sagte er sanft, die Hände auf ihren feuchten Scheitel legend. »Nicht, Schwester … Gott hat nicht gewollt, daß der Mensch … ihn so erwecke … du irrst in deinem verwirrten Herzen. Er ist nicht tot in dir, und deine Hände sind rein von seinem Blut. Du mußt es auf dich nehmen, was gesündigt worden ist. Du mußt dein Kreuz nehmen, vor dem du geflohen bist. In die Heimat mußt du gehen und bekennen. Glaube mir, auch ich habe geweint und mich mit Tränen berauscht, und als ich kniete und bekannte, war es zur Gnade geworden. Ich will mit dir gehen, wenn du dich fürchtest, aber man darf Gott nicht ausweichen, niemals.«

Sie war still geworden unter seinen Worten und lag nun, die Wange immer noch an seinen Füßen, die nassen Augen von ihm fort in die Ferne gerichtet. »Ich hätte es wissen können,« sagte sie müde. »Ich wußte es auch. Das Recht lebt in euch, das Menschenrecht, nicht das Gottesrecht. Beim Alltäglichen geht ihr zu Gott, beim Ungeheuren aber geht ihr zum Recht. Und wenn der Tod mit dem Tode gesühnt wird, was ist das für ein Recht? Ich wollte ihn mit einem neuen Leben sühnen, und du hast mich verstoßen. Auch dich wird Gott verstoßen, weil du mit Menschenhänden nach ihm greifst, wie die Pfarrer dich gelehrt haben. Glaube mir: die neue Erde wird einen neuen Gott brauchen. Ihr aber werdet Gott und Erde verlieren und ärmer sein als zuvor.«

»Richte nicht, Tamara,« bat er bedrückt.

»Ich richte nicht. Ich bin hinter den Richtern. Aber das Herz tut mir weh. Zu den Verschütteten willst du gehen, so hast du damals erzählt. Was weißt du von den Verschütteten, Andreas? Graben wirst du und graben, und am Ende wird Gott dich verschütten. Als du deine Frau verließest, hast du Gott verlassen, den lebendigen, Andreas, der in ihrem Leibe schlief, um nach dem toten zu suchen, dem Gott der Begriffe oder der Idee oder was du sonst aus ihm gemacht hast …«

»Er wird mich nicht verschütten,« sagte er finster.

»Er wird mit dir tun, was du mit ihm getan hast. Auch er wird zum Recht greifen wie du. Denn du weißt noch nicht, was die einfachste Magd in jedem Lande weiß, daß keine Brücke zu Gott fester ist als das Kind. Und erst wenn diese Brücke zerbrochen ist, dann darf der Mensch von sich sagen, daß er leide … und nun geh, ich will bei mir bleiben.«

»Ich möchte, daß du mitkommst,« sagte er unruhig.

»Nicht einmal das verstehst du,« antwortete sie mit bitterem Lächeln, »daß ich dich nicht mehr ansehen kann. Nicht einmal das.«

»Willst du nicht den Schleier abnehmen, Tamara? Er kränkt mich.«

»Nein,« sagte sie hart. »Vor Gott werde ich mich entschleiern, nicht vor den Menschen … leb' wohl.«

Er stand noch unschlüssig und ging dann langsam in den Wald hinein. »Ich werde auf dich warten,« rief er zurück. Aber sie antwortete nicht.

Die Sonne stand schon in ihrem Rücken, als sie sich aufrichtete und den Schleier von ihrem Antlitz löste. Sie griff in ihre Handtasche, zog einen Spiegel heraus und sah lange hinein. Dann hob sie plötzlich den Arm und schleuderte das Glas weit hinaus über das helle Wasser. Sie sah es aufblitzen und die dünnen Kreise bis ans Ufer laufen. Dann seufzte sie einmal schwer auf, schloß die Augen, und leise begann sie wieder das Lied vom vergangenen Abend, wobei ihr Kopf wieder sanft mitzuwiegen anhob, hin und her, wie der Kopf eines betäubten Tieres.

Über einem hellen Vogelschrei verstummte sie. Sie blickte scheu umher, wobei ein Ausdruck leiser Verzerrung über ihr Antlitz glitt, nahm aus der Tasche einen kleinen Trinkbecher und stand auf, um ihn am Ufer zu füllen. Darauf setzte sie sich an der alten Stelle nieder, schüttete ein weißes Pulver vorsichtig in das Wasser und griff behutsam nach den zusammengedrehten Grashalmen, die neben ihr lagen. Sie rührte das Wasser mit den grünen Stengeln um, sorgfältig und lange, hob es an die Lippen und trank es langsam aus.

Dann streckte sie sich auf das Moos zurück, legte die Füße zusammen und faltete die Hände über der Brust, um zu sterben.

Zwei Tage später erhielt Andreas ein Zeitungsblatt im Kreuzband von unbekannter Hand. Er las die mit Rotstift bezeichnete Stelle. Der letzte Satz lautete: »Die Tote ist nach dem Leichenschauhaus gebracht worden.«

Als Andreas in dem grauen Saal stand und der Beamte das Tuch vom Antlitz der Toten zurückschlug, mußte er sich auf das Holz des Schragens stützen. Das Gesicht war nicht entstellt, aber nun da die dunklen Augen geschlossen waren, hatte die Dumpfheit der Züge etwas Grauenvolles. Was da, vom schwarzen Haar umrahmt, lag und schwieg, sah einem erschlagenen Tiere gleich, traurig, wild, einer anderen Erde angehörig. »Mein Gott,« flüsterte Andreas. »Mein Gott!« schrie er voller Verzweiflung, und er kniete am Fußende nieder, schlug die Decke zurück und legte seine Stirn an die nackten Füße der Toten. Und erst als die Kälte des leblosen Körpers sich um seine schmerzenden Augen breitete, erinnerte er sich, daß er die Gebärde wiederholte, mit der Tamara um die Erlösung gefleht hatte.

»Sie müssen jetzt aufstehen,« sagte der Beamte nach einer Weile mit freundlicher Mahnung.

Er wurde in ein Zimmer mit Aktenschränken geführt und gab seine Aussage zu Protokoll. Er ließ durch den Fernsprecher bei der Polizei die Wohnung der Toten erfragen und verließ dann das Haus.

Er ließ sich bei der Dienstherrin Tamaras anmelden und wurde empfangen. Es war Frau Winterberg, die Gattin des Generaldirektors. Sie bemerkte sein Erstaunen nicht, lud ihn mit einer Handbewegung ein, Platz zu nehmen und wartete.

»Ich wußte nicht, daß Sie es sind,« sagte er müde. »Aber nun ist es ja gleich … Ich komme eben von ihr … sie hat sich vergiftet … Tamara …«

»Also doch … ich las es, aber …«

Er achtete gar nicht auf ihre Worte. »Sie wollte in die Neue Welt gehen,« fuhr er abwesend fort. »Ich wußte nicht, daß es so weit war … wo werden Sie sie begraben? Ich wollte nur das wissen.«

Sie verhehlte nicht, daß sie unangenehm berührt war von seiner Selbstverständlichkeit. »Mein Mann ist verreist,« sagte sie kalt. »Und ich weiß überhaupt nicht, ob eine … Verpflichtung … von unsrer Seite … sie war nur Gesellschafterin bei uns …«

»Weshalb haben Sie sie in Ihren Dienst genommen?« fragte er unvermutet, als ob er das andere nicht gehört habe.

»O … sie war so häßlich … und sie sprach so gut Französisch,« erwiderte sie mit unwillkürlichem Lächeln.

»So,« wiederholte er, »sie war so häßlich … ja …« Dann stand er so plötzlich auf, daß sie erschreckt die beringte Hand hob. Er trat langsam an ihren Sessel und beugte sich über sie. Seine Augen waren so finster wie über einer häßlichen, ja widerwärtigen Erscheinung. »Weshalb sterbt ihr nicht?« fragte er grübelnd, ihr Gesicht mit düsterer Eindringlichkeit betrachtend. »Weshalb irrt sich der Tod? Weshalb geht er zu den Lebenden statt zu den Toten? Weshalb antworten Sie nicht? Nein, auch Sie wissen es nicht.«

Er wandte sich ab und ging zur Türe. »Sie werden sie begraben wie eine Heilige, hören Sie?« sagte er drohend. »Wie eine Heilige!«

Dann verließ Andreas die Stadt. Er ging nach Westen, wo noch ein blasser Schein den Himmel erhellte, schnell und ohne sich umzublicken. Wenn ein Vogel über der Straße schrie, zuckte er schreckhaft zusammen. Doch mäßigte er seinen Schritt nicht, und als die Sonne in seinem Rücken aufging, hob er nur die Augen, um auf seinen Schatten zu blicken, der unabsehbar vor ihm auf der Straße lag.


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