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Nach diesem Tage begann Andreas zu ordnen, was an seinem engen Dasein der Ordnung bedurfte. Darauf nahm er Abschied und ging zu seiner Heimkehr. Weit draußen stieg er noch einmal auf eine Halde, die sich schon mit jungen Birken begrünte, und sah auf die Stadt zurück. Ein Dampf stieg von ihr auf wie von einem feurigen Ofen. In der Höhe lag er als eine schwere Wolke über der frechen Drohung der Schornsteine, darunter aber ballte er sich zu düsterer Form, und in ihrem ständigen Wechsel blieb unverändert ein heller Fleck, ein versteintes Antlitz mit toten Augen, die groß aufgeschlagen über der Landschaft standen.
Andreas wollte sich von ihm wenden, weil er seine Glieder erstarren fühlte, gleich dem Weibe, das auf Sodom blickte; aber es war ihm, als balle der Schmerz dieser drei Jahre sich über seinem Scheitel und zwinge sein Antlitz, an jenen Augen zu hängen. Und wiewohl die Augen tot erschienen und weder eine Mahnung noch eine Drohung lebendiger Art enthielten, so glaubte Andreas doch, daß sie auf ihn gerichtet seien und hinter ihm hergehen würden, wo auch immer er sich verbürge.
Denn es waren Gottes Augen. Und ihnen war ohne Sinn oder Bedeutung, was die Erde im Umkreise trug. Alles das blickte zu ihnen auf wie zu einer Wolke, die aufstieg und verging. Der Tag trug keinen Schatten von ihr und die Nacht keine Verdunkelung. Aber er, Andreas Nyland, war unter sie getreten mit entblößtem Scheitel als ein Knecht Gottes, ihrem Strahle wie ihrem Segen willig bereit. Und nun trat er heraus aus ihrer Erwartung. Er wendete den Rücken, um ihrem Schatten zu entgehen. Er wollte in ein wolkenloses Land, wo die Last sich verlor. Wie ein ungetreuer Knecht stahl er sich heimlich vom Acker und ließ einen Zettel am Pfluge: ›Ich kann nicht mehr.‹ Die toten Augen aber standen über ihm, grau und erblindet, in furchtbarer Verlassenheit, und aus dem lärmenden Spiel der Erde hoben sich die Schornsteine gleich stumpfen Hölzchen, mit denen Kinder in kalter Neugier an ihre Erstorbenheit tasteten.
Als die Sonne höher stieg und der weiße Fleck verblaßte, schritt er die Halde hinunter und die Straße nach Osten entlang. Wenn er sich umwendete, sah er, daß er einen langen Schatten hinter sich herzog, und über dem versinkenden Horizont seiner Stätte, dessen Umrisse sich lösten und verloren, sah er immer noch zwei Augen ihm folgen, undeutlicher und gleichsam verhallend, wie ein Ruf verhallt, aber ungemindert in der Bedeutung des Blickes, der mühsam die wachsende Ferne überwand, wie die Augen eines Sterbenden, um den das Dunkel schon steigt und der an der letzten Grenze des Lichtes das letzte Antlitz verschwinden sieht, das sich über ihn hätte neigen können.
Er ging langsam, mit den vorsichtigen und heimlich tastenden Bewegungen, die ihm seit seinem Krankenlager eigen waren. Als ein aus der Erde Emporgestiegener versuchte er zunächst, die Blüte der Erde und die Teilnahme der Menschen wie ein Genesender aufzunehmen, um einen Weg zurückzufinden vom Felde einer verlorenen Schlacht. Aber schon am zweiten Abend verbarg er sich vor den Straßen, von einer schweren Traurigkeit erfüllt. Vom Waldrande sah er zum westlichen Himmel zurück, ob die Augen sich nicht geschlossen hätten im Lichte des Tages. Es war der Blick eines Geschlagenen, der rückwärts irrt zum Ort der Marter, und der Blick eines Tieres, der in die Runde gleitet, bevor der Sprung ins Dickicht es verbirgt. Dann hob er die Äste auf, und schweigend begrub der Wald ihm Schritte, Lager und Schlaf.
Wie weit die Gedanken ihm müde und dunkel wurden auf dieser Heimkehr, vermochte er nicht mit Klarheit zu fühlen. Die Schärfe blieb die gleiche, mit der die Dinge unter der Sonne in sein Auge traten, die Gesichter der Menschen, der Umriß der Bäume wie die wechselnden Linien der Erde, über die er schritt. Aber er saß wie ein müder Weber vor den Fäden, die unter seinen Händen glänzten. Stieß er an das Schiffchen, so verwirrten sich seine hilflosen Augen, und als ein Kind starrte er auf ein verdorbenes Gewebe.
Einmal trank er um die Abendzeit aus einem Bach, wo zwischen Steinen ein dunkler Spiegel sein Antlitz fing. Er hielt im Trinken inne, so jäh, daß das Wasser in seinem Munde blieb, und blickte seinem Bilde in die erschreckten Augen. War es nicht ein krankes Tier, im Dämmern aus dem Gebüsch sich stehlend, das hier über den Quell sich beugte? Oder war es ein Mörder, vom Walde geschirmt, der die helle Fläche der Erde floh und schnell die Lippen netzte, bevor er das Blut von seinen Händen wusch? Und was von seiner Stirne brannte, war es nicht das Zeichen Kains? Und was durch die Wipfel ging, aufsprechend und verstummend, war es nicht die Frage des Wissenden: ›Wo ist dein Bruder Abel?‹ Er tastete mit den zitternden Händen über die Narbe und sah auf die Fingerspitzen, ob sie gerötet seien. Nichts. Alles wie sonst. Aber dort, in der Fichtenwand, da schimmerte ein heller Fleck … es mochte der Himmel sein, doch der Himmel mußte weiß sein, vom Widerschein der Abendröte sanft erfüllt. Dieses aber war grau, war stumpf und tot, wie leeres Glas. Und in der Leere war eine Richtung, eine gefrorene Achse, die abwärts geneigt war, zum Quell hinab, zum Knienden, der die Hände vor die Stirne hob. »Laß mich doch trinken,« flüsterte er, und seine Lippen verzerrten sich im Schmerze. »Mich dürstet … hörst du nicht, daß mich dürstet?«
Mitunter glitten die ganzen Jahre seit der Rückkehr aus dem Kriege unter sein Bewußtsein herab, einem Strudel gleich, der mit dem ziehenden Wasser talwärts fließt und dann plötzlich in die Tiefe sinkt, während über ihm die Wellen zusammenrinnen, als ob nichts geschehen und verloren sei. Dann stand er vor dem künftigen Tage wie damals, als er begonnen hatte, zu den Tieren zu gehen, und die Wiederholung eines Lebens erschien ihm als eine Sinnlosigkeit, von Grauen verzerrt. Denn es stand nirgends geschrieben, daß der Mensch zweimal am Kreuze hängen sollte.
Doch blieb ihm in zunehmender Verdüsterung das Bild der Heimat als etwas Unverrückbares im Zerrinnenden, ohne daß er zu sagen vermochte, wie dort geschehen sollte, was in der »Rüstung« nicht hatte geschehen können. Er wußte auch nicht, ob es Menschen waren, nach denen er verlangte, ob das Schweigen des Moores oder der Fichtenwald um Verlorenwalde, ob das große Bulcksche Haus mit seinen dunklen Gängen und Winkeln, in denen jede Stirne sich verbergen konnte, auch die gezeichnete. Er wußte nur, daß er dort ankommen mußte, bevor sie gestorben waren. Und sie konnten nicht sterben, weil sie auf ihn warteten.
Als er die Gutsgrenze überschritt, begann auf den weiten Feldern der Roggen schon zu reifen, und die sinkende Sonne hob den Duft des Brotes aus den geneigten Ähren. Er sah die Pappeln des Vorwerkes über den Horizont flammen, und mit einem Male, als habe sein Fuß den schlafenden Zauber geweckt, brach es auf ihn nieder, Ströme der Seligkeit und des Schmerzes, Schreie der Erinnerung, Klang des Blutes, Nächte und Tage, jenseits des Kreuzes, den Menschen gehörig. Versank nicht die Schlacht, erstarb nicht der Schmerz? Dort stand ein weißes Haus, da gab es ein Gartenzimmer mit grünem Licht und kühlen Bettüchern. Eine Schwester ging dort leise durch den Raum, ein Glas in der Hand, und wenn man trank, dann wurden die Lider schwer und das Selige kam, der Schlaf, das Vergessen, die Genesung.
Er saß auf dem Grenzrain, bis die Dämmerung kam. Leise, ganz leise begann es wieder zu bohren nach der ersten Erschütterung, der versunkene Schmerz, an dem man tasten mußte, ob er noch da sei, wie an einer vernarbenden Wunde. Es roch nach Brot, aber wie viele hatte er gespeist? Er hatte die Heimat, aber wie viele hatte er geborgen? Schweigen ging über die Felder, aber schrie es nicht hinter ihm im steigenden Nebel? Er lauschte und redete sich ein, daß niemand da schreie. Wer sollte hier wohl schreien am Sommerabend, wenn das Korn wuchs und die Sterne aufzogen? Selbst das Wild zog schweigend über die Felder und der Tau fiel lautlos auf alle Kreatur. Und doch, o Gott, sie schrien ja doch, in den Wäldern und zwischen den Dörfern … Hunderte schrien, Tausende, der Lazarus, den sie gebunden hatten mit Grabtüchern … Gott selbst, ja, Gott schrie nach ihm, daß er ihn nicht verlasse und verleugne und er sterben müsse ohne Knecht und Bruder, in dem brechenden Hause, wo das Gewürm aus den Ecken kroch, mit tausend Gliedern, näher, immer näher …
Gehetzt in Todesangst lief Andreas durch die Felder nach dem Hause, über dem die Parkwipfel ragten.
Erst als er seines Schwiegervaters schweren Körper im Stuhl auf der Terrasse sah, den Stock über den Knien, das riesige Haupt gebeugt, als lausche oder warte er, versuchte er, seinen Herzschlag zu beruhigen und als ein Wanderer zu erscheinen, der zu einer Herberge kehrt. Doch konnte er der Erschütterung nicht gebieten, und er schwankte, als er die Treppen emporstieg.
»Da bist du ja, Andreas,« sagte Bulck, und der scheue, ferne Klang seiner Stimme traf den Heimkehrenden so trostreich wie aus der Tiefe eines grauenvollen Waldes. Der Mund lächelte, aber die Starrheit der rechten Seite verzog das Lächeln zu einer traurigen Gebärde. Andreas sah, wie ein leises Zittern über das halbgeschlossene Lid des gelähmten Auges lief, und ein Gram erfüllte ihn, tiefer als bei jedem Leide der letzten Jahre, daß dieser Mann umsonst gewartet hatte.
»Ja, ich bin da, Vater,« sagte er, auf der obersten Stufe sich niedersetzend, daß die Decke über den Knien Bulcks ihn noch berührte. »Du mußt mich schon … eine Weile hier behalten … ich … ich habe die Toten nicht auferweckt …«
»Ich weiß, Andreas, ich weiß … laß nur sein. Als du fortgingst, wußte ich es schon … Man durfte es dir nur nicht sagen. In die Rüstung gingst du damals, ich weiß noch jedes Wort.«
»Ja, und sie war aus Glas …«
»Alles ist aus Glas, Andreas, wenn Gott zuschlägt. Man braucht sich nicht zu schämen, daß man sterben muß. Weshalb wolltest du die Toten aufwecken? Laß sie doch schlafen. Es ist besser so, daß Kinder geboren werden, als daß die Toten aufstehen. Wehe uns, wenn unsre Toten aufständen! Sieh, ich habe fünf Jahre hier gesessen. Du weißt, daß ich nur wenig schlafe. Alle meine Toten sind aufgestanden und bei mir gewesen. Gott hat sie wohl geweckt. Es war bitter, Andreas … Bis das Kind hierherkam, da war es besser. Du hast es noch gar nicht gesehen.«
Er rückte mühsam den Stuhl zurück, und nun sah Andreas auf seiner anderen Seite es sitzen. Es war ein Knabe, vielleicht vier Jahre alt, in einem schwarzen Samtkittel. Er saß auf einer niedrigen Bank, ein Stöckchen über den Knien wie Bulck, und hob das Antlitz lauschend zu ihm. Es war ein hübsches Gesicht, zart und edel geschnitten, mit dunklem Haar, von einer leisen Traurigkeit beschattet wie Narzissen in einem verlassenen Garten um regenverhüllte Abendzeit. Aber dieses alles sah Andreas ohne Bewußtsein. Er sah nur die Augen, die auf ihn gerichtet waren, groß, von einer so hellen Bläue, daß sie im Dunkel leuchteten. Aber dieses Leuchten hatte einen milchhellen Schein, als liege eine Blende vor seinem Licht, eine dünne Haut, die man aus Erbarmen darüber gespannt. »Vater!« schrie Andreas, die Hände vor seinem Gesicht. »Auch hier … sie lassen mich nicht los … was ist das für ein Kind … Gott sieht mich an, wie über der Grube … bedecke sie! Bedecke sie!«
»Andreas!« Bulck beugte sich erschreckt über ihn. »Du darfst nicht so sprechen. Du hast es selbst gesagt, ohne es zu wissen: Gott sieht dich an. Willst du ihn verhüllen?«
»Die Augen,« flüsterte er. »Weshalb sind sie so tot wie dort, als ich ihn verließ? Kein Mensch kann solche Augen haben … ich entfloh ihm, und nun nimmt er andere Gestalt an, um mir zu folgen … weshalb sind sie so tot?«
»Weil sie blind sind, Andreas,« sagte Bulck leise.
»Blind … blind, sagst du … wann ist er erblindet? Vor zwei Monaten? Weißt du den Tag?«
»Er ist blind vom Mutterleibe an.«
Er atmete auf und strich sich das wirre Haar aus der feuchten Stirn. »So … vom Mutterleibe … so ist es von Menschen geboren … vergib mir, aber meine Füße sind wund, so haben sie mich gehetzt … was ist es für ein Kind?«
Bulck fuhr ihm sanft übers Haar und schob die Hand gleich unter die Decke, daß es vergessen sein sollte. »Morgen, Andreas,« erwiderte er mit freundlichem Zuspruch. »Der Tag ist heller, und ich glaube, daß du lange schlafen wirst. Es ist … aus unserem Kreise, weißt du. Es trägt die Sünden der Väter … ach nein, das ist wieder dumm … nun, morgen, Andreas, laß es für morgen.«
Er stand schwerfällig auf und stützte sich auf seinen Stock, und wie ein Schatten erhob sich das Kind, mit dem Stöckchen vor sich auf die Erde tastend. »Ja, wir beide …« sagte Bulck mit seinem schmerzlichen Lächeln. »Ist es nicht wirklich ein Gespensterhaus, Andreas? Der andre ist tot, der mein Sohn war, und nun ist das Kind da … ja … Aber nun haben wir wieder einen Flurhüter. Nun werden wir wieder schlafen können … Martin!«
Er erschien so lautlos wie früher, noch gebeugter und weißhaariger, als habe den Dienenden die Bürde einer großen Vergangenheit schwerer zu Boden gedrückt als den Herrn. Sein Blick streifte in wohlerzogener Zurückhaltung nur einmal flüchtig über den Fremden. »Der Flurhüter, Martin,« sagte Bulck. »Das alte Zimmer … und morgen sollen sie ein Kalb schlachten.«
»Der junge Herr!« flüsterte Martin.
Aber Andreas hob nur gequält die Hand.
Im Treppenhaus standen die Fenster offen, und sie hörten von ferne einen dumpfen Gesang, von regellosen Pausen unterbrochen. Es war ein schwermütiges Steigen und Fallen langgetragener Tonreihen, abbrechend und wieder einsetzend wie der Klang einer gesprungenen Glocke im verfallenen Gebälk, vom Winde gerührt statt von Menschenhand. Andreas blieb stehen, und die anderen warteten auf ihn, zur Seite blickend wie vor einem beschämenden Bilde. »Gespenster, Andreas,« sagte Bulck. »Habe ich nicht recht? Aber sie werden alle schweigen, wenn du da bist.«
»Reimarus,« murmelt Andreas. »Alle Toten stehen auf … ja, es ist Reimarus, ich weiß es. So sang er damals, als er mich erweckte. Wo ist er? Ich muß zu ihm. Laßt, ich finde schon in mein Zimmer nachher. Er saß bei mir auf der Brandstelle … auch er wird warten … gute Nacht. Auf morgen, Vater, auf morgen«.
Es war ein Zimmer im Inspektorhaus. Eine Kerze brannte in einem Silberleuchter auf dem Bücherschrank, und unter ihr saß Reimarus, die Arme auf den Tisch geworfen, den Blick auf die sich öffnende Tür gerichtet. Unter der dünnen Decke seines Antlitzes flackerte der Widerschein seiner einsamen Gespräche, und vor seinen Augen hing der Schleier aus Trunkenheit, Irrsinn und Qual. Sie starrten nach der Türe, als sei er soeben aus einem eingestürzten Keller emporgekrochen, Staub im Haar, das Kleid verwüstet, und als habe er dort unten Dinge gesehen, die die Zunge lähmten. Wer dort eintrat, war wohl ein Mensch, aber die Zeit war doch vorbei, wo Menschen lebten … dort im Keller, wo es im Finstern kroch und stöhnend sich regte, da vergaß man doch das Gewesene, die Form, das Lebendige … die Kinderzeit kam wohl wieder, Spuk und Traum, Bilder, die durch die Zimmer gingen, als lebten sie …
Die Kerze flackerte im Luftzug der geöffneten Tür und warf die Wände übereinander … die Decke schwankte … gleich würde es niederstürzen …
»Reimarus!« sagte Andreas. »Ich bin es …«
Der Pfarrer strich sich über die Augen und blickte zur Seite wie ein sicherndes Tier. Dann sah er noch einmal nach der Türe, wobei er den Kopf zurückwarf und wieder sinken ließ. Und dann begann er zu lachen, leise zuerst, fast unhörbar, wobei seine Hand eine übermütige Bewegung durch die Luft machte, als sei er soeben hinter den Sinn eines großartigen Scherzes gekommen.
»Reimarus!« rief Andreas, vom Grauen des Bildes angerührt.
Das Lachen verstummte, so jäh, daß die Falten des Gesichtes noch in ihrer alten Lage verharrten, als die Augen sich schon wieder verfinsterten und ganz auf ihrem Grunde ein wachsendes Entsetzen sich gebar. »Hosianna,« flüsterten seine zitternden Lippen. »Hosianna dem Sohne Davids … kehre ein bei deinem Sünder, Herr, denn ich bin nicht wie jener Zöllner …«
»Reimarus!« schrie Andreas zum dritten Male.
Die Gestalt des Pfarrers sank zusammen, und seine Hände hoben sich wie Kinderhände gegen einen Schlag. »Sage, ob du ein Gespenst bist,« flüsterte er, »oder in Wahrheit der Knecht Gottes … so viele kommen zu mir, die nicht von Fleisch und Blut sind … meine Augen sind alt geworden …«
»Ich bin es, Reimarus, Fleisch und Blut. Der Knecht Gottes Andreas Nyland, wie wir so schön zu sagen pflegten. Fasse mich an und sieh, daß ich es bin.« Er nahm seine kalte Greisenhand, die schwer war wie die eines Toten, und beugte sich über das zerrüttete Antlitz. Erst als er sah, daß das Entsetzen wich und die Scham begann, setzte er sich an den Tisch, dem Pfarrer gegenüber, stützte den Kopf in die Hände und sah ihm in die Augen.
»Sie haben dich geschlagen,« murmelte Reimarus, mit der Hand auf seine Narbe deutend. »Geschlagen und ins Gesicht gespien … das können sie gut … du hast die Welt wohl nicht erlöst, Andreas, wie?«
»Nein.«
»Siehst du, ich habe es doch gewußt. Denn wenn du sie erlöst hättest, dann wäre er verschwunden, der Dunkle, aber er ist nicht verschwunden, o nein.«
Er sah sich um, schnell und heimlich, und legte den Finger an die Lippen. »Du warst lange fort, Andreas,« flüsterte er. »Da kamen sie wieder über mich, wie die Philister über Gideon … aber nun … ja, nun werden uns wieder die Locken wachsen, nicht wahr? Oder wirst du auch ein Gespenst werden, Andreas? Das Blut haben sie dir getrunken wie mir, damit fängt es an. Und nun müssen wir den roten Wein trinken, verstehst du? ›Dies ist mein Blut …‹ weißt du noch? Du denkst, daß ich lästere, ach nein … warte, du bekommst den Silberbecher. Ich bekam ihn zu meiner Taufe, und es ist von symbolischer Bedeutung, wenn du daraus trinkst. Die Wiedergeburt, nicht wahr? Der alte Adam, ersäufet mit allen bösen Lüsten … auferstehen … ein neuer Mensch … und so weiter.«
Er holte den Becher aus einer dunklen Truhe, schwankend, mit den Händen sich an den Möbeln haltend, und füllte ihn. »Trinke, Andreas … auch der Heiland hat getrunken … trinke, daß … daß ich mich nicht zu schämen brauche …«
Andreas nahm den Becher in beide Hände und hielt ihn nahe vor die Augen. Es war eine edle Arbeit, feierlich in der Form, die matt schimmernden Flächen rein und ungestört, der Fuß von gehämmertem Rankenwerk umflochten. Er drehte ihn zwischen den Händen, des Inhaltes nicht achtend, bis er ihn näher an das Gesicht hob. »Was ist das?« fragte er fast unwillig. Über den reinen Glanz eines der ovalen Felder lief eine Reihe von Zeichen, roh aneinandergefügt, im schiefen Winkel zur Linie des Randes. Als ob sie mit einem eisernen Nagel von böser Hand in das edle Metall gekratzt worden wären.
Reimarus lächelte verlegen. »Es war in einer dunklen Stunde … es war kein leichtfertiger Scherz … du liebtest ja die Symbole so sehr …«
» In … hoc … signe …« las Andreas. Er hob den Arm, als wolle er den Becher in des anderen Gesicht schleudern, doch lief in diesem Augenblick ein jäher Schmerz durch seine Narbe wie oft in plötzlicher Erregung. Er starrte gleich einem Besessenen in die Augen des Pfarrers, die in fast nüchternem Ernst den Blick erwiderten. Dann hob er aufatmend den Becher an die Lippen und trank wie an der Quelle im Fichtenwald, durstig, sinnlos, wie ein Sterbender nach dem verbotenen Glase greift. »Fülle ihn wieder,« sagte er finster, »daß ich seine Augen nicht sehe.«
Sie tranken. Ein fernes Nachtgewitter warf seine bläulichen Blitze flammend über den Garten, daß die Wände aufbrannten und wieder ins Dunkel wichen. Schwerer Donner rollte über die Roggenfelder, nachdröhnend an unsichtbaren Wolkenbänken, und ein hohes Brausen stand über den Parkwipfeln, von steiler Regenwand oder von stoßendem Sturme.
»Gott spricht,« murmelte Reimarus. »Er hat den Bogen des Friedens verloren …«
»Er sucht mich,« flüsterte Andreas, schon mit flackernden Augen. »Aber es ist dunkel hier, und er wird mich nicht finden … kannst du ihn noch sehen, Reimarus? Ich habe Blut über den Augen, seit sie mich geschlagen haben … nun muß ich es so zu Ende bringen …«
»Zu früh bist du gegangen, Andreas, zu früh, nicht zu spät. Es ist noch nicht an der Zeit, aus Gottes Hand zu essen. Deine Kindeskinder vielleicht, wenn es erfüllt sein wird. Ich habe hier gesessen und auf die Erde gesehen. Aber die Taube kam immer wieder, und an ihrem Schnabel war Blut …«
»Wer ist verworfener als einer, der sich vermißt und scheitert?« fragte Andreas finster. »Ehemals zog einer aus, eine Eselin zu suchen und fand ein Königreich … wo hast du die Königreiche gelassen, Reimarus?«
Der Pfarrer winkte mit der Hand. »Laß doch die Könige, Andreas. Bettler sind wir, Völker und Menschen, und suchen im Staub nach einer Münze des Trostes. Wer lächelt den Tod an? Nach den Sternen greifen sie, nach dem Geisterreich, nach den Geheimnissen der Chaldäer. Narren sie. In Gott stürzen wir wie ein Staub in die Sonne, aber es ist ein schwerer Sturz … hast du auch gemerkt, daß Gott unser müde ist, Andreas?«
»Ich sah ihn, wie er an die nächsten Welten dachte, und wir lärmten wie Kinder. Da schickte er mich fort … es ist ein dunkles Zimmer, und nun wird er mich vergessen … weshalb trinke ich, Reimarus?«
Der Pfarrer stand auf. »Komm einmal her, Andreas,« flüsterte er. Er stützte sich auf seine Schulter und führte ihn an den Bücherschrank. Seine Finger tasteten am Schloß, und bevor er es öffnete, sah er scheu nach dem Fenster. »Da liegt er, Andreas, verstehst du? Wenn er uns vergessen hat, dann bringt man sich in Erinnerung, ja? Es ist nicht artig, denn man streckt ihm die Zunge heraus, aber Kinder sind eben so.«
Vor der mittelsten Bücherreihe lag sauber zusammengerollt ein Strick. Sie blickten beide auf ihn nieder, ohne zu sprechen. »So,« sagte Andreas endlich mit schwerer Zunge. »So so … das hatte ich vergessen.«
Reimarus schloß den Schrank und kehrte an seinen Platz zurück. »Auch ich habe gedacht, Andreas, daß er vergessen könnte. Aber nun hat er dich geschickt, und nun weiß ich, daß er sich wieder erinnert hat.«
Andreas lachte vor sich hin, ein heimliches, wissendes, fast böses Lachen. Und dann begann er, von seinem Leben zu erzählen. Er sprach nicht traurig oder ruhig berichtend, sondern bitter, höhnisch, fast von Haß getrieben. Die Trunkenheit zerbrach die Klammern, die kein Leid gelöst hatte. Nun erzitterte das Gebäude, und wahllos griff er die Schätze seiner Seele und schleuderte sie dem andern vor die Füße. »Die Führer haben mir gesagt, daß ich ein Narr sei, Reimarus, und die Narren, daß ich ein Führer sei. Die Frauen haben mich verhöhnt, weil ich von ihnen soviel wisse wie ein Kind, und die Arbeiter haben gelacht, daß jedes Jahr einer komme, um sie zu erlösen. Ich aber ging ein Jahr in die Öde und dachte dann, daß ich der Messias sei. Gott nimmt die Menschen wie eine Blume und atmet darüber hin, um zu sehen, wie lange sie noch leben … Ich habe die Bibel nicht gelesen, Reimarus. Sonst hätte ich gewußt, daß Gott die Menschen erlöst und nicht der Mensch. Als ein Narr bin ich in die Windmühlen geritten, bis der Flügel mich in die Stirne traf. Die Mühle geht, und ich liege unten und höre ihre Arme sausen.«
»Du bist zu früh gegangen, Andreas, ich habe es dir doch gesagt. Du bist zu den Flügeln gegangen statt zum Winde. Hättest du gewartet, bis der Wind einschläft, dann hättest du die Flügel ergriffen. Gott war in deine Stube gekommen wie ein Vogel und glitt an den Wänden entlang. Und du stürztest dich auf ihn, um ihn zu fangen. Weshalb konntest du nicht warten, bis er müde an deinem Fenster saß? Du sagst jetzt auch: ›Was bin ich gegen so viele?‹ Aber du weißt nicht, daß die Menschen bald still sein werden, ganz still. Sie sind schon müde und verirrt. Sie rasen noch einmal gegen die Scheiben, sie machen Weltkriege und Wolkenkratzer, sie wollen zu den Sternen fliegen und den Astralleib sehen. Aber warte nur ein Weilchen, dann ist es so weit … Gott wird einmal über die Erde wischen, und das dritte Reich beginnt. Du hast wohl gedacht, daß du der Messias bist. Nein, Andreas, vielleicht bist du der Täufer, und einmal werden sie dir den Kopf abschlagen.«
»Jochanaan,« murmelte Andreas. »Wo ist sie geblieben?«
»Wer?«
»Salome … nein, Martha? Meine Frau?«
»Fort, weit fort. Sie ist international geworden, weißt du. Der letzte Brief war aus Kopenhagen. Sie schrieb, daß die blonden Länder für sie das Richtige seien. Aus Kontrastgründen. Einmal war sie hier und brachte das Kind.«
»Was für ein Kind? Ach so … das blinde … o selig, ein Kind noch zu sein.«
Reimarus sah ihn an, um ihm etwas zu sagen, aber seine Stimme versagte ihm plötzlich. »Gleich wird er kommen,« flüsterte er noch. Dann fiel seine Stirne auf das Tischtuch, und er schlief ein.
Es wurde so still, daß Andreas sich umsah. Aber er erkannte nichts als Kerzen, die an den Wänden entlangglitten und wirre Zeichen in den schwankenden Raum schrieben. »Und schrieb … und schrieb …« flüsterte er, »mit weißer Hand … wo war das doch? Gewogen … gewogen und zu leicht befunden … siehst du, Knecht Gottes … von seinen Knechten umgebracht … jawohl!« Er richtete seinen Blick auf das Schloß des Bücherschrankes, aber es glitt an der Wand empor, und ein neues schimmerte an der alten Stelle. Auch dieses stieg geheimnisvoll bewegt, und eine Kette glänzender Schlösser glitt wie ein Band langsam und lautlos zur Decke hinauf. ›Das ist der goldene Überfluß,‹ dachte er, sinnlos lächelnd. ›Es waren ja auch drei Kreuze … zwei für die Schächer … und drüben in Frankreich, da waren es dreitausend … ach nein, viel mehr … wie über eine Leiter glitten sie, aber die Leiter schwankte … wo war das doch? Im Traumhaus. Natürlich … auch die Spinnen liefen über den Tisch.‹
Er trank und verschüttete den Wein an seinem Munde. » In hoc signe …« Gequält schloß er die Augen. Um die Stirne lag ihm ein Eisenreif oder eine Dornenkrone. Blut tröpfelte von seiner Narbe und fiel in seine geschlossenen Augen. Aber er hielt den Kelch. Er bat nicht, daß der vorübergehe. Die anderen schliefen. Könnt ihr denn nicht eine Stunde wachen? Herr, nicht wie ich will …
Er hob den Kopf und wischte das Blut aus den Augen. Da sah er ihn sitzen, neben Reimarus, die Arme ausgebreitet, daß die blassen Wundmale leuchteten. Regentropfen lagen auf dem dunklen Gewand und im schlichten Haar. Geruch der feuchten Wälder erfüllte das Gemach und erstickte den Dunst des Weines. Die Spinnen verschwanden, die Wände standen still.
Andreas sah ohne Entsetzen in die Augen, die ihn anblickten. Sie waren groß, von heller Bläue, mit einem milchweißen Schein darüber. »Ich komme ja schon,« sagte er, und er fühlte seine Stimme wie eine bittere Pflanze in seinem Munde. »Ich komme … weshalb holst du mich?«
Doch der aus den Wäldern schwieg.
»Du hast mich doch gefunden,« fuhr Andreas fort. »Ich hätte die Kerze löschen sollen … Aber ich gehe nicht mehr auf deine Schädelstätte, nein, ich gehe nicht mehr. Du willst nicht, daß der Mensch erlöst werde, ich weiß es. Ihr denkt schon an die nächste Welt. Ich möchte rückkehren in meiner Mutter Leib, aber ich kann das nicht. Ich muß weiter zurück, viel weiter. Gib mir ein Feld für meine Erlösung, und ich will bleiben. Aber du schweigst, du mußt schweigen. Es geht darum, Tote zu erwecken, du weißt es, und du hast es uns versagt. Du willst kein Ebenbild haben. Schächer willst du haben, aber kein Ebenbild. Du glaubst noch, daß du die Welt erlöst hast, aber du irrst. Du hast es nicht gekonnt und hast doch Tote erwecken können. Aber die Lebenden von heute kannst du nicht erwecken. Und nun gehst du durch die Wälder wie ich … hast du das Kind auf dem Berge gesehen? Es schrie zu dir, aber du warst so stumm wie jetzt. Ihr sitzt wie die Feldherren da oben und seht, wie wir die Schlacht verlieren. Der Rückzug hat begonnen, die Flucht, die Katastrophe. Kein Gott hält die Fliehenden auf.«
Der andre schwieg. Nur seine Wundmale begannen sich dunkler zu färben.
»Sieh deine Erde an,« sprach Andreas weiter. »Hörst du das Korn wachsen und den Wald atmen? Die Ströme rinnen und den Tau fallen? Wie schön ist sie, und was hast du aus ihr gemacht? Ist es nicht dein Wille, daß das Blut aus jenen Jahren noch einmal rinnt? Daß sie schreien vor Qual, daß sie hassen und töten? Weshalb schufest du sie so? Was ist das für ein Machwerk, das du laufen ließest? Hattet ihr nicht genug, daß ihr die Erstgeburt erschlugt damals? Und weißt du nicht, wie viele Kinder gemordet wurden, als man dich gebar? Weshalb löscht ihr uns nicht aus? Habt ihr Freude an unserm ewigen Scheiterhaufen? Weshalb sprichst du nicht, wenn ich dich anklage? Hörst du nicht?«
Aber der andere stand auf. Die Tropfen von seinen Händen fielen auf das Tischtuch und bildeten rote, verlaufende Flecken. Er sah nun mit tiefer Traurigkeit auf den Fragenden, doch bewegten sich seine Lippen nicht.
»Sprich!« schrie Andreas, am Tisch entlang sich zu ihm tastend.
Da öffneten sich die schmerzverzogenen Lippen, und ein schwacher Laut kam aus seinem Munde, leise, tot, wie seine Augen. Und Andreas, aufschreiend, sah das Grauenvolle der Verstümmelung: Christus war stumm.
Als er die Hände wieder von den Augen nahm, saß nur Reimarus im Raum, schlafend wie bisher. Die Kerze erlosch, und Sonne lag über dem Garten. Er öffnete den Bücherschrank, verbarg den Strick in seiner Tasche und verließ das Haus.
Zwischen Sträuchern, von denen der Tau fiel, erreichte er die Terrasse. Die Erde dröhnte unter seinem Fuß, und die Wände des Hauses schwankten auf und nieder. Doch lag alles dieses nur wie ein Hauch in seinem Gesichtsfeld. Dahinter stand ein matter Raum, von keiner Form begrenzt, und mitten in sein graues Licht schnitt sich in dunkler Schärfe die Linie eines Fensterkreuzes. Das Zimmer … wo war es, von dem er in das Wetterleuchten geblickt … das Treppenhaus lag im Dämmerlicht, das Geländer kroch wie eine bröckelnde Leiter empor … der Flur war da, die Tür, wo das Lachen gestorben war … nun kam die Schwelle des Flurhüters … vergib mir meine Sünde …
Ein leiser Laut zerbrach das Flackern seiner Gedanken. Eine Tür ging auf, und in der Schwelle stand das Kind, die Hand mit dem Stöckchen tastend vorgestreckt, die blinden Augen groß nach dem Schritt des Fremden aufgeschlagen.
»Wer ist da?« fragte es mit besorgter Stimme.
Erst als es die Frage ängstlicher wiederholte, vermochte Andreas zu antworten. »Ich bin es,« flüsterte er, »von gestern abend … fürchte dich nicht.«
›Weshalb ist es nicht stumm?‹ dachte er. ›Sind es nicht dieselben Augen? Kommt er noch einmal wieder?‹
»Wo gehst du hin?« fragte das Kind. »Niemand geht hier sonst als der Großvater und Martin?«
»Ich gehe … zu Gott,« murmelte Andreas. »Heim,« verbesserte er sich. »In mein Zimmer … ich habe früher hier gewohnt …«
Er lehnte sich gegen die Wand und sah in Grauen und Schmerz auf die toten Augen. »Wie heißest du?« fragte er sanft.
Das Kind neigte den Kopf zur Seite, als lausche es auf den fremden Klang. »Ich heiße Johannes Nyland,« sagte es, nunmehr ohne Scheu. »Aber der Großvater ruft mich Angelus … weshalb bist du so still?«
Ein Schrei gellte durch alle Räume des weiten Hauses, ein heiserer, aufspringender und jäh zerbrechender Schrei, von einem dumpfen Laut gefolgt. Dann klang das Weinen des Kindes durch das sich wieder schließende Schweigen.
Sie fanden ihn auf den Dielen des Ganges, besinnungslos, den Strick zusammengerollt in den Händen, und trugen ihn in sein altes Zimmer. Sein Antlitz sah aus, als habe eine furchtbare Erscheinung es mit kalter Hand berührt und für immer gezeichnet.