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VIII.
Das Meer

In der Erntezeit, die vier Wochen nach diesem Ereignis begann, sahen die Leute des Gutes täglich eine unbekannte Gestalt fern über die besonnten Felder gehen. Sie ging gebeugt und tastend, auf einen Stock gestützt wie ein Blinder. Sie trug fast immer einen dunklen Mantel, der im Winde lose um sie wehte, und einen breiten Hut, der tief in das Gesicht gezogen war. Niemals näherte sie sich einer Menschengruppe, vielmehr wich sie jeder Begegnung schon aus großer Ferne aus, wobei sie ihre Schritte beschleunigte und oftmals über die Schulter zurückblickte, ob man sie verfolge. Sie vermied die Täler und Senken und ging am liebsten auf den Bodenschwellen entlang nach den wenigen Höhen, die in den Feldern lagen. Hier stand sie still, beide Hände auf den Stock gestützt, und schaute Stunde um Stunde über das Land zu ihren Füßen, wo die Mähmaschinen schwerfällig die Erde entblößten oder die Erntewagen sich mit Garben beluden und der frohe Lärm schaffender Menschen die stille Luft belebte. Oder sie saß am Gebüsch der Ackerraine, die Hände langsam bewegend, als spiele sie mit hohen Grashalmen oder flechte einen Sommerblumenkranz.

Lange Zeit gelang es niemandem, das Geheimnis zu lösen, das die Gestalt umgab. Man sah sie aus dem Park heraustreten und wieder in ihn zurückkehren. Doch schwieg das weiße Haus auf Bulcks Befehl, als sähen die anderen ein Gespenst.

Bis der Hirte eines Abends, als sie um die Harmonika saßen, erzählte, daß es der junge Herr sei, der Pfarrer. Sie seien zusammengetroffen, wo keiner es gedacht hatte, und einer habe sich vor dem anderen erschreckt. »Nun, Alter,« habe er gesagt, »weißt du jetzt, was wir tun sollen? Ich weiß es: blind sollen wir werden, blind und stumm, weiter nichts.« »Unn hei kiek mi an as de Dod,« setzte er nachdenklich hinzu. »Aber trurig, as hefft hei de Sens verlure …«

Sie wußten nun, daß es nicht Wotan sei, der die Ernte segne, wie einer der Knechte, ein grüblerischer Mensch, behauptet hatte; aber ihre Teilnahme, still und rücksichtsvoll, noch aus den Zeiten des Menschenfestes rührend, umgab, ja bewachte ihn fast, so daß er noch einmal den Weg zum Menschen zurückzufinden schien. Er wußte nun, daß Gott ihn nicht vergessen hatte, daß er sich nicht in Erinnerung zu bringen brauchte. Aber er wußte nicht mehr, was Gott von ihm wollte. Er war selbst zu den Wartenden gegangen.

Ein dunkles Grauen hielt ihn lange von seinem Kinde zurück. Wenn es bei seiner Rückkehr von den Feldern auf der Terrasse saß, so schlich er heimlich in seine Nähe, kauerte sich auf dem Rasen nieder und sah es an. Er konnte nun, wie er zuerst gewollt hatte, nicht mehr daran zweifeln, daß es sein Kind sei, und nachdem er das Antlitz so in sich aufgenommen hatte, daß er es zu jeder Zeit vor seinen geschlossenen Augen erstehen lassen konnte, verglich er Linie um Linie dieser beschatteten Züge und versuchte, das Geheimnis der Spiegelung zu erraten, das in so dumpfer Verhüllung sich ihm darstellte.

»Weshalb sagtest du, daß es die Sünden der Väter trage?« fragte er Bulck an einem Abend nach dieser Zeit.

Die Frage traf wie ein Pfeil, lautlos und tief ins Leben, so daß Andreas sie reute. Er mußte die Augen abwenden, als er sah, daß Bulck errötete. Doch hob dieser dann nur die Hand und wies nach der Türe, hinter der das Gespenst gewohnt hatte. »Du hast ihn vergessen, Andreas,« sagte er, »sonst würdest du nicht gefragt haben. Auch er trug meine Sünde. Hier ist es hinübergeschlagen bis ins zweite Glied … ich habe mein Geschlecht vergiftet.«

Andreas schüttelte finster den Kopf. »Ich spreche dich los,« unterbrach er ihn. »Ich habe vergessen, daß ich eine Mutter hatte. Ich selbst war blind, als wir ihn weckten, und an ihm hat Gott die Blindheit nach außen gewendet und vor unsere Augen gehoben … Ich habe viel an ihm zu tun, bis die Erde ihm leicht wird. Als ein Narr bin ich durch die Länder gezogen und habe nicht gewußt, daß hier einer lebt, dem die Seele tiefer verschüttet ist als dem deutschen Lazarus.«

»Viele Kinder leben so auf der Erde, Andreas,« sagte Bulck mit leiser Mahnung. »Und vergiß nicht, daß Gott ihn dir geschickt hat in einer dunklen Stunde. Als einen Engel, wie sein Name lautet. Man soll sich nicht gegen Gott wehren.«

Seit diesem Gespräch blieb Andreas manchmal seinem gewohnten Gang über die Felder fern und saß neben seinem Kinde. Er sprach zu ihm, wie er zum kleinen Christian gesprochen hatte, und wie dieser hörte Johannes ihm schweigend zu. Man konnte von seinem Gesicht nicht lesen, ob er Freude empfinde oder Widerwillen. Es war wie ein matter Schleier, hinter dem das Unerkennbare stand. Ab und zu ging ein Wehen darüber, Linien formten sich und vergingen, Falten und schattendes Gewölk, aber immer unverändert blieb eine Traurigkeit, nicht wild oder verzweifelt, sondern still aber unauslöschlich, wie über einem Waldsee an einem Spätsommerabend, auf den aus unbewegten Wolken die großen Tropfen fallen.

Die Grenze zwischen zwei Lebensaltern, um so schärfer, als nur der Klang der Stimme über sie reichte, nicht der Blick lebendiger Augen, wich keiner Bemühung, und der Schrei jenes Sommermorgens, der für das Kind aus einem unbekannten Lande gekommen war, schien immer noch vor seinen Ohren zu klingen. Kein noch so leises Zeichen deutete an, daß das Blut zum Vater trieb, und wie ein nochmals Verstoßener wandte Andreas seine Augen über den Bezirk seines Lebens, ob irgendwo noch eine Türe stehe, an die er nicht geklopft, bevor das Gras hinter ihm aufstände.

So fand er denn den Weg zu Jons und Grita.

Die abendlichen Felder dampften hinter einem verrauschten Gewitter, und spätes Wetterleuchten flammte noch durch den Fichtenwald. Das Herz war ihm schwerer als bei irgendeiner anderen Rückkehr, aber als er unter den hohen Pappeln stand und auf die roten Malven an der weißen Hauswand blickte, als seine Gedanken zurückliefen zu der Wächterhütte am Strom, wo das Leben vor ihnen gelegen hatte wie ein dunkler Wald, da fühlte er zum ersten Male jene Lösung vom Menschen, die er im Jahre der Öde zu besitzen geglaubt hatte und die nichts als die Spiegelung eines noch fernen Lichtes gewesen war. Es war gut, daß hier und da ein Glück auf der Erde lebte, zu dem er geholfen hatte; daß der Acker Frucht trug unter harter und fleißiger Hand; daß Kinder aufwuchsen, für die Gott Linien in den Sand zeichnete. Aber er konnte dem nun zusehen, vom Wege aus und wehmütig lächelnd, die Stirn über eigner Not gesenkt. Denn einmal kam die Zeit, wo Gott aufhörte zu lächeln. Dann war die Stunde da, wo man sich mit ihm besprechen mußte. Dann zog man die Schuhe aus und trat auf seine Brücke, während weit hinten die roten Malven fortfuhren zu blühen, die an den weißen Häusern standen, wo die Menschen wohnten.

Grita saß auf der Bank vor der Türe, immer noch ein wenig müde und scheu, wie sie auf dem Holzplatz gesessen hatte, die Hände zusammengelegt, den Kopf geneigt. Als sie zu weinen begann, legte er seine Hand auf ihre Lippen, daß sie nicht fragen sollte, und saß dann schweigend an ihrer Seite, bis sie still geworden war.

»Wenn man um mich weinen müßte, Grita,« sagte er dann, »wäre ich nicht gekommen. Ich habe solange gewartet, bis es nicht mehr nötig ist. Du weißt wohl alles, und was gewesen ist, ist gut gewesen. Ich gehe noch einmal umher, um zu finden, was Gott mit mir will. Ich habe nur noch ein paar Türen zu öffnen, und dann weiß ich, daß ich in ein falsches Haus gegangen bin … du bist immer noch Grita, und das ist schön … wo ist Jons?«

»Nach den Wiesen gegangen. Er wollte sehen, ob das Heu verregnet ist … ach, Herr …«

»Still, Grita, still! Wir wollen ihm entgegengehen. Schlafen die Kinder schon?«

Sie nickte.

»Komm, ich möchte sie gerne sehen.«

Die beiden Ältesten lagen in ihrem Kinderbett, das Jüngste noch in der Wiege. Er beugte sich nahe über sie, ohne daß sie erwachten. »Wie warm und rein ihr Atem ist,« flüsterte er. »Wie ein Vogel auf dem Meer … sie sind nicht blind, nein? Keins von ihnen?«

»Herr!« sagte sie gequält.

Sie gingen am Walde entlang, lautlos auf feuchten Nadeln. Es tropfte von Zweig zu Zweig und fiel klopfend auf vergilbte Blätter. Rührte ein Wind leise über die Wipfel, so brach ein Schauer rauschend nieder und ging von ihnen fort ins Dunkel hinein, wo ein unbekanntes Leben flüsternd und lauschend stand.

Jons saß auf einem Grenzstein, die Füße schon im Nebel, und sang leise vor sich hin. Als er sie hörte, stand er auf und kam ihnen entgegen. »Nun, Andreas …« sagte er unbeholfen.

Sie blickten zusammen auf die Wiese. Der Wald tropfte noch immer, und mitunter tastete ein versinkendes Leuchten über die dunklen Wände.

»Bleibe bei uns, Andreas,« sagte Jons. »Wir wollen beide pflügen.«

»Und wer wird die Welt umstürzen?«

»Es ist nicht Zeit … laß uns man pflügen, daß das Korn wächst und die Kinder satt werden.«

»Ja, du hast recht, Jons. Aber ich wollte, daß jeder einen Pflug hat.«

»Es ist nicht Zeit,« wiederholte Jons. »Fahre über deine Stirn, und du wirst sehen, daß es nicht Zeit ist.«

Sie gingen zurück und saßen vor der Türe, bis der Mond über dem Walde war, und Andreas ließ sie erzählen, von Kindern, Ernte und Viehstand, und er duldete nicht, daß Grita anderen Wegen nachging. »Gott lächelt über eurem Leben,« sagte er, als er Abschied nahm. »Ich fürchtete schon, daß ihr einen Knecht brauchen würdet, aber nun gehe ich sehr froh von eurer Türe.«

Er saß noch ein paar Tage bei seinem Kinde, müßig wie dieses, und erwartete die Antwort auf einen Brief, den er geschrieben hatte. Als sie eintraf, kündete er an, daß er noch eine kleine Reise machen müsse. »Es ist mein Freund, Vater,« sagte er zu Bulck, »bei dem ich nach meinem Examen war, bevor ich herkam. Damals war er im Ausland, und jetzt hat er eine andere Stelle, in der Stadt, in der ich studiert habe. Er ist jetzt mit seiner Frau an der See, und ich muß ihn noch einmal sprechen. Vielleicht hat er eine Entdeckung gemacht, es sind ja ein paar Jahre vergangen.«

Andreas war als Student mitunter in jenem Seebad gewesen, doch beschwerte ihn kein frohes oder trauriges Gedenken, und er stieg langsam die Höhe zwischen der Haltestelle und dem Meere hinauf, die Hände auf dem Rücken und den Blick liebevoll auf die Landschaft gewendet, die mit jedem Schritt sich weitete. Oben saß er auf der Bank, als rännen auch ihm wie jedem Badegast die Stunden still und unbeschwert vom Morgen in den Abend. Er sah das graue Haff, auf dem die braunen Segel der Boote standen, und auf der anderen Seite das Meer, tiefgrün, vom weißen Strich der Brandung gesäumt. Dazwischen schoben sich die Felder, von später Ernte erfüllt, und die schweren Flächen hohen Waldes, von herbstlicher Farbe schon deutlich berührt.

Über allem dem stand die Luft schon in schmerzlicher Klarheit, das Wesen vom Schein trennend, und auf den tönenden Telegraphendrähten saßen schon die Schwalben in Reihen nebeneinander.

Er verweilte länger, als das Bild es erfordern mochte, an den Frieden sanft bestrahlter Erde wider Willen gefesselt, und als er endlich zum Meere abwärtsstieg, geschah es mit einer leisen Bedrückung, daß nun noch einmal das Menschliche in den Kreis der stillen Betrachtung treten sollte, das schmerzlich und ohne Lösung bleiben würde, während das Korn doch wuchs und reifte und geschnitten wurde und Kinder von seinem Brote aßen, ohne zu fragen, ob es gut oder böse sei.

Er fand ohne Mühe die stille Straße, wo die Häuser tief in den Gärten lagen. Der Herbstflieder blühte in flammenden Stauden, und die Klänge einer Geige standen aus einer versponnenen Ferne auf. ›Wie schön das ist,‹ dachte er, tief atmend, ›wie kummerlos schön …‹

Frau Wendling – so war der Name seines Freundes – lag in einer Hängematte unter den dunklen Rüstern, als er von der Straße hereintrat. Sie hatte die Hände im Nacken gefaltet und wandte nur die beschatteten Augen nach dem Laut seiner Schritte. Dann, ihn erkennend, lächelte sie und drehte ihm ihr Antlitz zu.

»Das ist hübsch,« sagte sie, als habe sie vor einer Stunde Abschied von ihm genommen. »Ich wußte, daß Sie heute kommen würden und habe mich in die Hängematte gelegt, um Sie zu erwarten und etwas auszuruhen. Heute abend ist wieder Reunion. Sie tanzen natürlich nicht?«

Er stand neben ihren Füßen, so daß sie ihren Kopf nicht mehr zu drehen brauchte, und blickte nachdenklich auf sie nieder. Er empfand plötzlich, stärker als bei vergangener menschlicher Berührung, das Sonderbare und auf einen einzigen Weg Beschränkte seines Lebens.

»Nein, ich tanze nicht,« sagte er, »und ich werde Ihnen wahrscheinlich ebensoviel Kummer machen wie damals.«

Sie lächelte mit leiser Nachsicht. »Ja, es war sehr komisch, wie Sie damals versuchten, höflich und teilnehmend zu sein … aber mein Mann freut sich sehr auf Sie. Er ist mit dem Jungen am Strand. Sie spielen beide. Ich bin natürlich eine schlechte Mutter … was haben Sie denn da für eine furchtbare Narbe auf der Stirn? Die hatten Sie damals nicht?«

»Das ist von einer Eisenstange, bei einem Streik im Bergwerk,« antwortete er finster.

»Ach …« Sie stützte sich auf einen Arm und sah ihn prüfend an. »Ich finde, Sie haben viel erlebt seit damals, nicht?«

»Ja … einiges.«

»Sie müssen mir das erzählen, später … Sie bleiben doch ein paar Tage? Schön. Das ist interessanter als die Erlebnisse unserer Badegäste … sind Sie verheiratet?«

»Ja … oder vielmehr nein.«

Sie lachte leise, fast ohne die künstlich geröteten Lippen zu bewegen. »Mein Mann ist schon reichlich komisch, Herr Nyland, aber bei Ihnen gibt es, glaube ich, noch mehr liebenswürdige Seltsamkeiten … Nun, wir werden sehen. Jetzt wollen wir an den Strand zu unseren beiden Baumeistern. Sie bauen nämlich mit Sand, leidenschaftlich.«

»Sie bauen nicht?« fragte er, ihr zu spät beim Aufstehen helfend.

»Nein, ich baue nicht,« lachte sie und zog das Kleid über die Knie. »Bauen ist Männersache und Kindervergnügen … wir kommen immer erst zum Richtfest, wenn der Tanz beginnt.«

Sie holte das gestrickte Tuch aus der Laube, ließ es sich um die Schultern legen, und dann traten sie auf die Straße. Die Geige sang noch immer, und sorglose Menschen gingen langsam unter den Bäumen entlang.

Frau Wendling wurde viel gegrüßt, und Andreas merkte, daß man sich nach ihr umdrehte. »Sie gehen vielleicht lieber allein,« sagte er. »Ich bin Ihnen wohl etwas zu auffallend, aber ich habe diese Dinge vergessen …«

Sie lächelte wieder, als wisse sie viel mehr, als sie zu sagen für gut befinde. »Ach, ihr Propheten seid reizend,« erwiderte sie, als sie ein Stück weitergegangen waren. »So reizend seid ihr … besonders weil ihr es nicht wißt. Die anderen wissen es alle, die Künstler zum Beispiel … aber ihr seid wie Kinder, zum Abküssen.« Und sie lachte ihm ins Gesicht, auf dem eine müde Befremdung stand.

»Sie sind ein Kind, Frau Wendling,« sagte er ernst. »Genau so wie damals.«

»Auch zum Abküssen?«

»Fast alle Frauen, die ich gekannt habe, waren Kinder,« fuhr er fort, ohne ihre Frage zu beantworten. »Nur Tamara nicht …«

»Tamara … wer war das?«

»Sie nahm sich das Leben, ein paar Stunden, nachdem ich von ihr gegangen war.«

»Ihretwegen?«

»Gottes wegen … aber auch meinetwegen.«

»Sie war schön?« fragte sie nach einer Weile.

»Nein, eben nicht.«

Sie stiegen durch den Sand bis zum Wasser hinunter. Es war lange her, daß Andreas das Meer gesehen hatte, und nach den Jahren der Beugung und der Enge hob er mit einer selbstvergessenen Bewegung die geöffnete Hand über das Wasser hinaus. Das große Rauschen ging auslöschend über den nichtigen Lärm des schmalen Strandstreifens. Alles Gebrochene und vielfarbig Gemischte sonstigen Erdenlebens war hier zu einer sieghaften Klarheit von Form und Farbe gewandelt, und der dunkelgrüne, fast schwarze Strich des Horizontes trennte mit Unerbittlichkeit den Himmel von der Erde. Hier, mit dem Blick auf das Ungeheure der bewegten Fläche, mit dem lebendigen Atem, den Gott von jener dunklen Linie herüberblies, gab es kein kindliches Tasten um verschlungene Gewebe, kein Ausweichen und schonendes Verhüllen. Hier gab es nichts als Ja oder Nein, und alles andere war in Wahrheit vom Übel.

»Es ist gut, daß ich hierhergekommen bin,« sagte Andreas endlich. »Hier ist die Wüste noch einmal … wo ist Ihr Mann?«

Sie wies mit dem Schirm den Strand entlang und ging vor ihm her, wobei sie bemüht war, den Wellen auszuweichen, die bis zu ihren Füßen hinaufliefen.

Sie blieb erst stehen, als sie in die Höhe eines offenen Zeltes kamen, aus dem man mit Tüchern nach ihr winkte. »Dort,« sagte sie, »sehen Sie die beiden? Das sind sie, immer abseits von den anderen. Ich muß dort nach dem Zelt, wo man mich erwartet. Sie können mich nachher abholen … er würde doch bedrückt sein in meiner Gegenwart … und Sie vielleicht auch, nicht wahr?« Sie reichte ihm die Hand und hielt sie einen Augenblick fest. »War sie hübscher als ich?« fragte sie, plötzlich ernst werdend.

Er verstand sie nicht gleich. »Ach so …« Er lächelte gutmütig. »Nein, Sie sind viel hübscher, soviel ich davon verstehe … aber Sie dürften das nicht so wichtig nehmen.«

Sie zuckte leise mit den Schultern. »Das ist eben das Kindliche, von dem Sie sprachen, Sie neunmal Weiser,« erwiderte sie nicht ohne Spott. »Und nun gehen Sie zu ihm die Welträtsel lösen.«

Vater und Sohn lagen auf den Knien und bauten einen Damm vor einen tiefen Einschnitt, den das Meer in den Strandwall gerissen hatte. Andreas stand bei ihnen, ohne daß sie ihn bemerkten. Er erkannte, daß Wendling, von dem er nur die eine Hälfte des Gesichtes sah, den Weg nicht gefunden hatte, von dem sie damals gesprochen hatten. Er hatte keine Entdeckung gemacht. Sein Haar war grau, und die Schmerzlichkeit, mit der er sich dem Spiele hingab, zeigte an, daß viele Räder leer liefen in seinem Leben.

Das Kind war Frau Wendlings Ebenbild in der Zartheit der Gestalt, den feinen Linien des Antlitzes und besonders in der unruhigen Schönheit der dunklen Augen. Doch über dem Weiblichen dieses Äußeren lag das Erbgut des Vaters als eine dünne, aber entscheidende Schicht: die Müdigkeit des früh erschöpften Suchers, die schmerzliche Güte, der Ernst der großen Dinge. So daß aus diesem Übereinanderklingen zweier Tonwelten sich etwas Fremdes ergab, etwas Zerfallendes oder zum mindesten mühsam Zusammengehaltenes, das, während es an einem Erwachsenen nur bedrückend gewesen wäre, an einem Kinde mit unwiderstehlicher Trauer erfüllte.

Sie hatten dicht hinter dem Strandwall, wo der Sand dunkel und feucht war, eine breite Mulde gegraben und Häuser in sie hineingebaut, eine ganze Stadt, von Straßen durchzogen, die an den Abhängen in die Höhe stieg. Selbst eine Kirche ragte aus der Vielheit der kleinen Sandhäuser in die Höhe, mit einem stumpfen Turm, den sie mit hellem Sande bestreut hatten. Anlagen und Parks aus Tang und Kiefernnadeln waren kunstvoll in das gleichförmige Bild gesetzt, und selbst das Bruchstück einer Stadtmauer mit Wall und Graben war vorhanden, so daß das Ganze sich als eine feste und wohlgegründete Bürgersiedlung in die Abendsonne hob, wo selbst der Schatten des Kirchturms nicht fehlte, der sich bis zur Stadtgemarkung streckte.

»Die richtigen Künstler seid ihr,« sagte Andreas. »Taub für die Welt, wie es sein muß.«

Wendling reichte ihm die feuchte Hand herauf, wobei er alles Lärmende plötzlichen Wiedersehens vermied. »Das ist schön, Andreas,« sagte er nur. »Sehr schön … ich habe sehr auf dich gewartet … hast du uns gleich gefunden?«

»Ich war schon bei deiner Frau, sie sitzt in dem Zelt dort. Wir sollen sie nachher abholen.«

»Meine Frau, ja … sie war sehr gespannt auf dich … nun, dann ist ja alles gut … sieh, das ist mein Kind, Wolf heißt er, aber er wird es nie werden … ja, wir spielen sehr gern miteinander. Komm, wollen wir noch eine Weile sitzen.«

Er sah in leiser Verlegenheit auf das stärker rauschende Meer und begann dann, um einen Übergang zu finden, von der Stadt zu sprechen, an der sie gebaut hatten. »Siehst du, das ist nun unsere Freude, Andreas. Das was die Menschen Sommerfrische nennen. Und da es keine Freude ohne folgende Zerstörung gibt, so haben wir auch dafür gesorgt. Aber nicht sinnlos, daß wir das alles etwa jeden Tag zertreten. O nein. Siehst du schon den Sinn des Lebens?«

»Nein.«

»Dann sieh dir mal unseren Damm an. Das ist unser Meeresdeich, und Wolf hier ist der Deichgraf. Du siehst, daß jede gewöhnliche Welle ihn bespült, und ab und zu reicht eine bis auf seine Krone. Da sehen wir nun zu oder wir nehmen den sogenannten Kampf gegen die Elemente auf. Einmal an jedem Tag bricht der Damm, manchmal auch zweimal, je nachdem wir gestimmt sind, und alles was du hier so hübsch aufgebaut siehst, wird dann allmählich eine Schlammwüste. Manchmal gibt es Sturmfluten, dann ist es wie eine Katastrophe. Zuletzt pflegt der Kirchturm zu stürzen. Kirchen waren immer eine solide Sache, das liegt an der Geistlichkeit … nun, und am Morgen fangen wir dann wieder an. Heute wollen wir sehen, ob unser Werk die Nacht überdauert. Kinder sind immer neugierig … ja, das ist also unser Vineta, Andreas, und in der Nacht, wenn wir aufwachen, dort hinten in unserem Haus, dann hören wir seine Glocken …«

Er sprach das alles lächelnd, die Hände um die Knie gefaltet, die Augen weit draußen auf dem glühenden Meer, über dem die Sonne sich senkte. Aber Andreas fühlte das andere, das hinter seinem Schauspiel stand, und er legte sich seufzend in den warmen Sand zurück und schloß die Augen. Das Kind grub schweigend an seinem Damm.

»Du hast keine Entdeckung gemacht, Wendling,« sagte er langsam. »Mir war immer so, als könnte es doch sein. Wir glauben eben zu lange an das Wunder. Nun könnte ich eigentlich gleich zurückfahren, aber ich will doch ein paar Tage bleiben, wenn ich dich nicht störe. Ich bin selten an der See gewesen, und ich finde, daß der Atem hier leichter ist als zwischen den Wäldern. Es ist alles so klar hier, nichts verwischt, nichts zweideutig. Hier kann man gut Gericht halten und sein Urteil empfangen.«

»Doch, du mußt bleiben, Andreas, lange sogar. Wir werden zusammen bauen und den Sand durch die Finger laufen lassen. Das hat so etwas Beruhigendes zwischen all dem übrigen Leben. Und ich glaube, dir fehlt es auch … mir scheint, du hast einiges verloren und verspielt, seit wir dort am Strom saßen.«

»Ja, das ist wohl unvermeidlich … ist es immer so still, das Kind?«

»Wolf? Ja, immer. Das fehlende Leben bei uns muß meine Frau ersetzen.«

»Das wird sie wohl tun … du weißt nicht, daß ich ein Kind habe, nein, wie solltest du auch … aber es ist blind und noch stiller als dieses.«

»Andreas …«

»Nun, nachher … du gehst wohl nicht tanzen, dann können wir im Garten sitzen und erzählen.«

Sie warteten, bis die Sonne unterging. Das Kind stand vor ihnen auf dem Strandwall, auf seinen Spaten gelehnt, und sah schweigend zu, wie das Licht erlosch. Um seine dunkel erscheinende Gestalt floß der letzte Schein mit einer zarten Feuerlinie, stieg an ihm hinauf und sammelte sich noch einmal über seinem Scheitel zu einem sanften Glühen …

»Auch er wird das Kreuz tragen,« sagte Andreas leise, »wie wir … wann wird es aufhören?«

Aber Wendling antwortete nicht.

Frau Wendling war böse, daß sie nicht einmal zum Zusehen mitkamen, aber dann versprach sie, früher als sonst wiederzukommen.

Wendling brachte das Kind zu Bett, und dann saßen sie unter den Rüstern, in deren Wipfeln noch eine leise Bewegung war. Man hörte die Tanzmusik und mitunter ein Wort von der Straße, das beziehungslos über ihre Köpfe hinglitt. Und hinter dem gebeugten Wald an der Rückseite des Gartens stand das leise Brausen des Meeres wie eine tönende Wand, hinter der die fremden Götter wohnten.

»Ich wünschte, ich könnte dir mehr sagen, Andreas,« fuhr Wendling nach einer Pause ihres Gespräches fort. »Aber ich habe es dir schon damals gesagt, daß alles beim alten bleiben würde. Die Form ändert sich ein wenig: dort war es der Strom, hier ist es das Meer, die Menschen haben andere Gesichter, die Landschaft ist freundlicher. Aber sonst ist es dasselbe …«

»Und das Kind?«

»Ja, ich habe es auch gedacht, aber es ist ein Irrtum. Die Menschen haben die schöne Formel von der Unsterblichkeit erfunden, die ihnen durch ihre Kinder verbürgt werde. Aber muß Herr Plaukschties unsterblich sein? Oder Herr und Frau Wendling? Was berechtigt sie dazu? Daß sie gelacht und geweint haben? Es ist eine unglaubliche Arroganz in meinen Augen. Wenn einer ein Buch über die Klagelieder des Jeremias schreibt, so nimmt er nicht nur an, daß die Welt den Atem anhalte, sondern daß Gott einen goldenen Strich an seinen Namen mache, um ihn feierlich zu empfangen. Nein, ich denke, daß Gott ganz andere Dinge zu tun hat, wenn er überhaupt etwas zu tun hat. Kinder machen uns etwas Freude und etwas Schmerzen, und wenn wir tot sind, so sind sie ein bißchen traurig, und dann fangen sie selbst an, Kinder zu haben, und alles läuft weiter wie in einem Strom.«

»Du hast Gott nicht gesehen?« fragte Andreas unvermittelt.

»Vielleicht,« erwiderte Wendling nach langem Schweigen. »Vielleicht in Wolfs Augen, wenn sie sehr traurig sind. Aber auch das weiß ich nicht genau. Es ist dir ja bekannt, daß wir unser eigenes Antlitz sehen, wenn wir uns nahe über eines anderen Augen beugen.«

Die Musik, durch die Ferne ihrer Melodie beraubt, klang nun deutlich vernehmbar in der Eintönigkeit ihrer stoßenden und schiebenden Rhythmen zu ihnen herüber. Bei dem langsam wachsenden Brausen des Meeres und dem hohen Glanz der Sterne erschien sie wie der kraftlose und verzerrte Versuch einer Selbstbehauptung, mitunter einer Dämonenbeschwörung gleichend, in sinnlosem Tun um sinnlose Fetische kreisend.

»Weshalb mögen sie tanzen?« fragte Andreas lauschend.

Wendling zuckte die Achseln. »Das Erotische war immer der billigste Trost der Masse, Andreas. Schon deshalb, weil alle dafür empfänglich sind. Es ist die sogenannte Plattform. Und ich glaube, daß selbst diese Leute einen Trost brauchen. Selbst die Schöpfung Gottes wird den Menschen einmal langweilig. Unsereiner wird traurig, und sie tanzen. Im Grunde ist es vielleicht nur dasselbe … Aber nun wollen wir das lassen, Andreas. Du weißt doch, was mir das Wichtigste ist. Es ist jetzt dunkel genug, daß du anfangen kannst.«

Aber bevor Andreas beginnen konnte, kam Frau Elisabeth zurück, etwas erhitzt, etwas laut und verlegen, als ob sie sich des leisen Mißklanges bewußt sei, den sie in den Schatten der Rüstern bringe.

»Was ist denn mit dir?« fragte Wendling erstaunt.

»O … es war langweilig,« sagte sie gedehnt. »Es sind immer dieselben Menschen … und es war heiß und staubig. Die Hauptsache werdet ihr euch ja nun erzählt haben, und vom Nachtisch möchte ich auch noch etwas haben.«

»Andreas hat noch gar nicht angefangen,« bemerkte Wendling, und es blieb unbestimmt, ob seine Worte eine Mahnung oder nur eine Erklärung enthielten.

»Bin ich denn wirklich ein so untergeordnetes Geschöpf, Herr Nyland?« fragte sie, und ihrer Stimme war anzuhören, daß sie weinen wollte.

»Elisabeth!« bat Wendling.

Aber Andreas bewegte die Hand, als entferne er ohne Mühe eine Wolke. »Sie sollen ruhig bei uns bleiben, Frau Wendling,« sagte er. »Beichten ist etwas Häufiges bei mir, denn die Beichte steht hinter der Sünde, und manchmal glaube ich noch, daß sie vor der Gnade steht.«

Und dann führte er sie durch das Haus seines Lebens.

Als er zu Ende war, stand die Nacht so dunkel über den Bäumen, daß keiner des anderen Gesicht erkennen konnte. Lichter und Klänge waren um sie erloschen, nur das Meer brauste hinter dem Walde und erfüllte die Nacht mit dem steigenden und fallenden Donner seiner Stimme. »Du hörst nun auch,« sagte Andreas, das Antlitz wieder zu Wendling kehrend, »daß es eine Ewigkeit gibt. Nur ob wir in ihr oder außer ihr sind, das weiß keiner von uns.«

Dann gingen sie schweigend ins Haus und trennten sich.

»Schlafen Sie wohl,« sagte Frau Elisabeth leise.

Andreas blieb fast eine Woche. Er wußte, daß dahinter der letzte Abschied stand und daß er nun an keine Türe mehr zu klopfen brauche. Er fühlte, daß sie beide ihn zurückzuhalten suchten, wenn auch aus verschiedenen Gründen, und zumal Wendling bemühte sich, ihn zu überreden, in das Pfarramt zurückzukehren. »Sieh, Andreas, es ist doch gleich,« sagte er, »ob du nun Wälder kaufst und zerschneidest oder jeden Sonntag auf der Kanzel stehst. Ewig ist keines von beiden. Aber beides ist in unserer Zeit noch notwendig. Es wäre schöner, einen Wald über die ganze Erde zu pflanzen oder das deutsche Volk zu erlösen. Aber beides ist unmöglich. Und das Unmögliche kann nur Gott, so steht es wenigstens geschrieben. So pflanzen wir eben ein paar Obstbäume in einem gekauften Garten und machen zwei oder drei Menschen das Leben und Sterben leichter. Das Debet bleibt zwar immer größer als das Kredit, aber für die paar Jahre hält man sich schon über.«

Doch Andreas schüttelte den Kopf. »Irgendwo steht geschrieben: ›Wer Jehova siehet, stirbt.‹ Aber die Pfarrer leben alle. Sie werden sogar alt und sehen ganz behaglich aus. Also kann das nicht der Weg zu Gott sein.«

An einem stillen Nachmittag, wo große Wolken unbeweglich über dem grauen Meere standen, war Wendling mit Wolf in die Stadt gefahren, und Andreas lag weit draußen im Sande. Der Strand war leer, und eine tiefe Traurigkeit hing über dem weiten Wasser und der bleich gefärbten Küste. Eine große Möwe glitt schwerfällig an Andreas vorüber, kehrte wieder und umkreiste lautlos sein Haupt. ›Sie glaubt, daß ich tot sei,‹ dachte Andreas. ›Und wenn ich es wäre, dann würde sie sich auf meiner Brust niederlassen, die Flügel zusammenlegen und nach meinen Augen hacken. Das Meer aber würde weiter rauschen, Welle um Welle, und der Sand würde rieseln und der Wald sich färben … Gott aber würde zusehen, schweigend, mit seinen furchtbaren Augen, wie er mir jetzt zusieht. Er rückt den Zeiger nicht, auch wenn ich am Kreuze bluten will. Und nicht bevor die Stunde gekommen ist, fällt der Schlag über die Erde … zu früh hat meine Mutter mich geboren …‹

Er richtete sich auf, daß der Vogel erschreckt sich zur Seite warf und mit heiserem Schrei die Küste verließ. Und so tot und schwerflüssig war das Meer, daß es kein Bild zurückwarf, obwohl es wie eine geschliffene Erzplatte sich dehnte und die Flügelspitzen der Möwe fast in das Wasser tauchten.

Dann knirschte der Sand hinter Andreas, und Frau Elisabeth stand neben ihm. Sie hatte den Bademantel über dem Arm und die Kappe noch in der Hand. »Wollen Sie heute nicht baden, Herr Nyland?«

Er schüttelte stumm den Kopf.

»Aber wenn ich hinausschwimme und um Hilfe rufe, werden Sie mich dann holen?«

Er wiederholte die Bewegung.

Sie saß neben ihm im Sande und streute gedankenlos die weißen Körner über ihr schwarzes Trikot. In der düsteren Weite der Landschaft sah ihr schmaler Körper hilfloser und zerbrechlicher aus als im Gewohnten des Lichtes und der Kleidung.

»Sie wollen, daß ich hier bleibe?« fragte Andreas. Er hatte sich auf einen Arm gestützt und sah nachdenklich in ihre angstvollen Augen.

»Ja,« flüsterte sie.

»Und dann wollen Sie, daß wir beide ihn betrügen, ja?«

Ihre Mundwinkel zuckten im beginnenden Weinen, aber sie nickte.

»Es wäre das erstemal, obwohl … obwohl Sie oft dicht davor gestanden haben?«

Das Blut stieg ihr langsam bis in die mit Tränen gefüllten Augen, aber sie nickte wieder.

»Und weshalb?« fragte er weiter. »Weshalb gerade ich?«

Sie sah auf das Meer hinaus, wobei ihr Antlitz sich langsam mit dem Widerschein des dunklen Wassers zu füllen schien. »So wie das ist es,« sagte sie bitter, »Tag und Nacht, Jahr um Jahr … manchmal kommt ein Schiff an, aber es steigen immer nur dieselben aus … und dann kommt ein Boot an, da sitzt ein andrer drin … der kommt aus einem unbekannten Land … er hat eine Narbe über der Stirn und ist aus der Tiefe aufgestiegen … die Wellen haben mit ihm gespielt, und ich … ich möchte soviel Erbarmen mit ihm haben.«

»Ich weiß wohl,« erwiderte er, »daß dieses der Weg ist, auf dem die Frauen erlösen wollen. Aber sie verschweigen, daß sie sich damit selbst am meisten erlösen. Wer am Fleische leidet, mag wohl daran denken können, aber wer am Geiste leidet … nein, ihr tut die Sünde, aber ihr wißt nichts von ihr.«

»Sie werden niemals wiederkommen,« flüsterte sie. »Ich weiß es … Sie steigen in einen Schacht hinein, immer tiefer. Ich sehe Ihnen nach, über den Rand gebeugt, und wenn Sie meine Stimme nicht mehr hören, dann … Sie sollen nicht fortgehen. Ist es nicht furchtbar hier an solch einem Abend?«

Andreas richtete sich auf und blickte hinaus. Die Wolken waren zu langen Streifen zusammengeflossen, die in flachen Bögen von Horizont zu Horizont sich spannten. Dicht über der düsteren Kimmung war ein schmaler Spalt zwischen ihnen geöffnet, und aus ihm brach ein gedämpfter Glanz gleich einer Schwertklinge. In der bedrückenden Öde des ungeheuren Raumes stand dieses Glühen gleich einem Licht im Walde, unbekannt, aber trostvoll und verheißend. Und obwohl die Wolken sich wieder schlossen, sah das suchende Auge immer noch das dunkle Nachbild des versunkenen Glanzes über dem bewegungslosen Wasser.

»Haben Sie es gesehen?« fragte Andreas. »Sie nennen es furchtbar, aber ich nenne es den Trost der Erde … Ich danke Ihnen, Frau Elisabeth. Ich kam zu Ihrem Mann, um zu erfahren, ob er es gefunden hätte, wonach wir suchen. Es war der letzte Weg, und er war umsonst. Und am Ende dieses Weges haben Sie noch ein Wort gesprochen, ohne daß ich es erwartete. Ich weiß nun, daß Mann und Weib auf der Erde leben, ohne den Weg zu Gott zu wissen. Ich scheide mich jetzt von ihnen, zum letztenmal. Mir bleiben nur noch ein paar Sprossen auf meiner Leiter in die Tiefe, und um sie muß ich jetzt die Hände legen …«

»Und wer … ist die nächste Sprosse?«

»Ich habe ein Kind zu Hause, und es ist blind. Aber in seinen Augen lebt vielleicht, was wir nicht finden können. Ich habe vergessen, daß geschrieben steht: ›Denn ihrer ist das Reich Gottes.‹ Und auch Sie haben es vergessen. Nun aber haben wir uns erinnert …«

»Ich nicht,« unterbrach sie ihn bitter. »Sie sprechen immer wie ein Prophet, aber Tamara hatte wohl recht.«

Er nahm ihre Hand und half ihr beim Aufstehen, ohne daß sie es schon gewollt hätte.

»Wenn Sie sich nicht erinnern, Frau Elisabeth,« sagte er gütig, »dann kommen Sie nach Hause. Ich will Sie vor die Augen Ihres Kindes führen. Dort weiß man am besten, was gut und böse ist.«

Andreas sprach mit Wendling nicht über diesen Nachmittag. Nur als sie ihn alle zum Bahnhof begleiteten, sagte er leise zu ihm: »Und sieh zu, daß die Menschen dir nicht entgleiten über dem Grübeln um das Menschliche. Auch die nicht, die dir am nächsten stehen.«

Frau Elisabeth bat ihn, wiederzukommen, und der Ton ihrer Stimme verriet ihm, daß das Unerfüllbare noch als eine verzweifelte Hoffnung vor ihr stand.

Das Kind schwieg, und in seinen traurigen Augen war nicht zu lesen, ob der Fremde, der jetzt fortfuhr, jemals den Rand seiner Erde betreten hatte.

Dann begannen die Räder sich zu drehen, und Andreas, der zu den Winkenden zurückblickte, wußte, daß es die Lösung vom Menschen war, die ihn ergriff, und daß Gott vernehmlich zu ihm gesprochen hatte: »Gehe aus deinem Vaterlande und aus deiner Freundschaft in ein Land, das ich dir zeigen will.«


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