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VIII.
Der Kelch

Im November, als der erste Schnee schon gefallen war, wurde Andreas in der Dämmerung auf der kalten Treppe von Martha aufgehalten und zu einem kurzen Gespräch gezwungen, das ihm in seiner wahren Bedeutung zwar unklar blieb, das ihn aber mit einer dunklen Unruhe erfüllte.

Es war ihm wohl aufgefallen, daß seit dem Geburtstag ihres Vaters eine leise Veränderung mit ihr vorgegangen war, daß sie noch schweigsamer und müder geworden war, daß sie oft bei Tisch fehlte und daß aus ihren Blicken und Worten ihm gegenüber aller Hohn und alle verschleierte Wildheit und Gier geschwunden war. Doch fing er mitunter einen verhüllten Blick auf, der mit verzehrender Spannung über ihn hintastete, als erwarte er etwas und suche nach Gewißheit, ob das Erwartete eintreten werde. Doch hatte er es sich mit körperlichen Zuständen zu erklären versucht, die sich deutlich in ihrem veränderten Gesicht spiegelten und deren Ursache ihm fremd war, so daß er sie in der Eintönigkeit des herbstlichen Lebens und dem dumpfen Drucke suchte, der über dem Hause lastete.

Nun, in der Dämmerung des Treppenhauses, wo sie so dicht vor ihm stand, daß ihr Atem seine Lippen berührte, fühlte er, daß ihre Hand, die sie auf die seine legte, heiß und feucht war, und sah er auf dem Grunde ihrer nahen Augen durch alle Beherrschtheit hindurch eine leise Angst sich heben, die ihm mit geschlossenen Lippen entgegenschrie.

»Was ist Ihnen, Fräulein Martha?« fragte er unruhig.

Sie stützte sich mit der linken Hand auf das Geländer und öffnete die Lippen, aber es war nur ein tonloses Flüstern, und der gewollte Zug des Hochmuts erlosch mit erschreckender Schnelligkeit in ihrem weißen Antlitz.

»Es ist nichts,« sagte sie endlich mühsam, »keine Beichte, die Sie vielleicht erwarten … nur fragen wollte ich Sie etwas … wir haben lange nicht darüber gesprochen … wollen Sie noch das Kreuz tragen? Wollen Sie noch das Leid auslöschen, indem Sie leiden?«

»Gewiß will ich das,« antwortete er leise. »Sonst wäre ich doch schon längst fortgegangen.«

»Nein, nicht so, nicht nur durchs Leben und Dasein … sondern den Kelch nehmen und trinken … wie damals auf dem Felde oder nachher am Abend, als Sie tranken …«

»Ich werde nicht mehr trinken,« sagte er finster.

»Sie verstehen mich nicht … nicht diesen Kelch meine ich … sondern den, von dem im Garten von Gethsemane die Rede ist … ein fremdes Leid auf sich nehmen, um jemand anders zu erlösen … ob Sie das noch wollen?«

»Ja, das will ich.«

»Auch … auch wenn es … mein Leid wäre?«

»Auch dann wohl,« sagte er zögernd.

»Ich werde Sie erinnern,« flüsterte sie mit geschlossenen Augen. »Es könnte um Tod und Leben gehen … verstehen Sie? Um Tod und Leben!«

Dann stieg sie die Treppe hinab, ganz langsam und sich schwer auf das Geländer stützend.

Ein paar Tage später kam Bulck eines Abends aus der Stadt zurück, saß schweigsam bei Tisch, trank hastiger und mehr als sonst und betrachtete mit finsterer Eindringlichkeit die Gesichter seiner Hausgenossen.

»Sprachst du nicht einmal von einem Pfarrer Vierkandt, Andreas?« fragte er plötzlich, seinen starren Blick auf Kascheike richtend.

»Ja, es ist der, bei dem ich Weihnachten war, um das Kruzifix zurückzubringen.«

»Hatte er einen Sohn?«

»Ja.«

»Rothaarig.«

»Jawohl.«

»So … wieviel habt ihr verdient, Kascheike?«

Kascheike war bei den ersten Worten Bulcks erblaßt, aber er lächelte schon wieder, einen schiefen Blick auf Martha werfend.

»Das läßt sich nicht so schnell schätzen,« sagte er vorsichtig. »Man müßte es erst nach dem jeweiligen Dollarkurs umrechnen, aber es ist natürlich eine Lappalie …«

»Gewiß … bei der letzten Weizenlieferung waren es über tausend Mark … dämmert dir etwas, Karsubke? Nein? Eine sehr einfache Sache. Man fährt zur landwirtschaftlichen Genossenschaft, Karsubke. Da ist Vierkandt derjenige, welcher … Man liefert Weizen und bekommt das Geld, zum Kurs vom vorigen Tage. Man bucht es drei Tage später, was ungefähr das Doppelte ausmacht, und teilt. Wenn man kauft, Dünger zum Beispiel, geht es umgekehrt. In den Schaden teilen sich Genossenschaft und Herr Bulck, in den Profit Vierkandt und Kascheike. Eine Lappalie … Zweite Lappalie kann man mit Steuern machen. Man erwirkt Ermäßigung oder Stundung und bucht die ganze Summe. Wozu ist man Privatsekretär? Die weiteren Lappalien sind mir noch dunkel, aber sie werden sich schon aufhellen, wenn der Sekretär verschwunden ist, was morgen früh der Fall sein dürfte.«

Kascheike schenkte sich sorgfältig einen kurfürstlichen Magenbitter ein. »Erlauben Sie,« sagte er lächelnd.

»Bist du verrückt?« fragte Bulck langsam.

» Quod non … dieses nicht.«

»Du kannst auch mit dem Gendarm abspazieren, nur daß ich mich schäme, von dir übers Ohr gehauen zu sein.«

»Na also, teils dieserhalb, teils außerdem … es gibt noch andere Gründe, Bulckchen, ganz andre, höchst überraschende und zwingende, jawohl! Was meinst du, Martha?«

»Er ist verrückt,« flüsterte sie, »laß ihn hinauswerfen!«

»Ach nein,« lächelte er und blies mit gespitzten Lippen einen kunstvollen Rauchring über die Tafel, gerade auf Andreas hin. »Was meinst du, Andreas? Sollen wir dich als Kronzeugen anrufen?«

»Ich verstehe dich nicht,« antwortete dieser, während Marthas Blick ihn wie aus den Augen eines sterbenden Tieres traf. Mit diesem Blick zerrissen die Schleier des Nichtwissens vor seiner Seele, und das Antlitz der Wahrheit erschien mit steinerner Deutlichkeit im schwankenden Raum. Er griff nach Bulcks geballter Hand, als gelte es, sie vom Morde zurückzuhalten, und zog den Arm schnell wieder zurück, als sei er auf einem Verrat begriffen. »Lassen Sie die andern hinausgehen, Herr Bulck,« bat er.

Bulck starrte noch immer in Kascheikes lächelnde Augen. Seine schwere Hand spannte sich fest um den Griff seines Stockes, aber sein Antlitz blieb tot wie immer. »Geht hinaus!« sagte er leise. »Andreas will es, und er ist der einzige Mensch in diesem Zimmer.«

Als die Türe sich geschlossen hatte, erhob Kascheike sich und begann mit den Händen auf dem Rücken um den Tisch herumzugehen, die Zigarette zwischen den Lippen und die Stirne nachdenklich gesenkt. Andreas trat an eines der Fenster, das in den Garten führte, und blieb hier stehen, den Blick auf Martha gerichtet, die mit geschlossenen Augen in ihrem Stuhle saß.

Bulck ließ den schweren Blick nicht von Kascheike. »Die Zigarre, Martha … deine Hände zittern, meine Tochter … nun, Kascheike?«

»Tja,« sagte dieser und blieb am andern Ende des Tisches stehen, »dies ist nun keine Lappalie, Herr Bulck, sondern ein Objekt, wie ich es zu nennen pflege. Nyland kann bestätigen, daß ich den Ausdruck bereits brauchte, als ich zu Ihnen fuhr. Es ist eine Schwäche von mir, nach Ausdrücken zu suchen, die das Wesen einer Sache bezeichnen … das ist ja auch der Streit bei den Verdeutschungsversuchen in der Medizin. Sehen Sie, wenn ich ›Vorbeierinnern‹ sage, dann stellt jeder Mensch sich etwas andres darunter vor, der eine dies, der andre das … Aber wenn ich ›Paramnäsie‹ sage, dann …«

»Schweige!« schrie Bulck, mit der Faust auf den Tisch schlagend.

»Daß diese Agrarier doch nie fähig sind, philosophischen Gedanken zu folgen,« sagte Kascheike bekümmert. »Eine traurige Tatsache … und sie führen doch ein besinnliches Leben … ja, also das Objekt … Geduld, Geduld … das Objekt ist klein, Herr Bulck, räumlich eine Lappalie, aber in seiner ideellen Bedeutung von immenser Tragweite … ein Kind, Herr Bulck! Jawohl, ein Kind … ein Kind, das Ihre Tochter von mir unter dem Herzen trägt, und dem ich einen Vater und einen ehrlichen Namen geben will … ›Kascheike‹, das gefiel Ihnen damals schon sehr, Herr Bulck. Sie sehen, was Ahnungen bedeuten.«

Er legte ein Bein über die Lehne des Stuhles, vor dem er stand, steckte beide Hände in die Taschen und blickte teilnehmend in Bulcks Augen. Es war so still im Zimmer, daß sie die Atemzüge des Gespenstes durch die geschlossene Türe hörten.

»Wirst du ihn nicht endlich hinauswerfen lassen?« fragte schließlich Martha.

»Er lügt also?« flüsterte Bulck, während sein schwerer Kopf tief auf seine Brust sank. »Sage es, sonst muß ich euch totschlagen.«

Sie hob das weiße Gesicht zu Andreas, ohne ihn anzusehen. »Natürlich lügt er, genau so wie mit dem Mikroskop und mit der Befreiung der Tiere und mit seinem Namen … du wirst es gleich sehen. Durchpeitschen müßtest du ihn lassen.«

Kascheike lachte, leise, aber so herzlich, daß die schwarzen Haarsträhnen über seiner Stirn zitterten. »Es kam ihr unerwartet, Herr Bulck,« sagte er, mit dem Lachen kämpfend. »Ich machte ihr klar, daß mit meinen medizinischen Kenntnissen die Sache ganz unbedenklich sei. Sie hatte natürlich schon ihre Erfahrungen, aber meine Mittel siegten. Sie konnte natürlich nicht wissen, daß ich das Kind wollte, und dann war es eben zu spät … Eine Verführung lag übrigens nicht vor … ganz im Gegenteil, Herr Bulck … dies nur nebenbei.«

»Andreas!« schrie Martha, das Gesicht mit den Händen bedeckend.

Andreas verließ seinen Platz. Er ging sehr langsam, die Hände leise erhoben, als suche er nach einer Wand, an die er sich stützen könnte. Er sah aller Augen auf sich gerichtet, Kascheikes höhnische Befremdung, Bulcks Gespanntheit und Marthas dumpfe Erschöpfung. Aber er sah dies alles nur aus weiter Ferne in sich hineinmünden, weil seine Blicke mit einer schmerzlichen Inbrunst durch die Starrheit der Masken hindurchdrangen und in einem Punkte sich sammelten, wo das zuckende Leben durch einen Spalt der Verhüllung schien: weil er an Marthas vorwärtsgesenktem Halse, nicht berührt von Verstellung und harter Beherrschung, das rasende Beben der Schlagader erblickte und weil er in der unhörbaren Erschütterung der Haut das dumpfe Klopfen zu hören vermeinte, mit dem der erstickte Herzlaut unter den Espenwurzeln im Heimatswalde zehn Jahre lang nach ihm gerufen hatte.

Er setzte einen Fuß vor den andern, so langsam wie im Traume, aber nicht, weil ein Zweifel ihn hemmte oder eine schwere Scham, sondern weil er trunken war von dem unvermittelten Rausch der Erlösung, weil er durch alles Grauen vor der zusammengesunkenen Frauengestalt und den schweren, übereinander stürzenden Bildern der Zukunft den beseligenden Klang einer fernen Stimme vernahm: »Stehe auf und wandle!«

Er empfand nicht die Schamlosigkeit ihrer Sünde, nicht das Tierische ihrer Angst, nicht die Entwürdigung seines reinen Lebens zu einem beschmutzten Schleier fremder Gier. Er sah nur das zitternde Leiden der Kreatur, die die Hände nach ihm hob, und ohne der Lüge bewußt zu werden, gab er sich dem Rausch des Mitleidens hin, der schweren Sehnsucht nach Opfer und Außersichsein, ins Unendliche mündend wie ein gefesselter Strom ins abendglühende Meer.

So beugte er, an Marthas Platz angelangt, sich tief vor ihr, drückte den Ärmel ihres Kleides an seine Lippen und sprach, nun erst zu einem flüchtigen Bewußtsein seiner Tat erwachend: »Ich bekenne, daß ich schuldig bin … und daß es … mein Kind ist.«

Wieder lag das Schweigen im halbdunklen Raum, und nur Marthas erlöstes Weinen unterbrach es mit leisen Lauten.

»Du lügst, Andreas,« flüsterte Bulck.

Andreas richtete sich auf. »Ich lüge nicht, Herr Bulck. Sie hat Ihnen erzählt, damals, als ich in ihrem Zimmer war. Aber sie hat nicht alles erzählt. Die Sünde bezwang uns … und er, Sie erzählten es ihm, da machte er seinen Plan. Er war in meinem Zimmer, und er las es mir vom Gesicht … und neulich, als ich trinken mußte … er brachte mich nach oben … ich weiß nicht mehr, was ich gesagt habe … so ist es gekommen.«

Die Qual der Lüge entstellte sein Gesicht, und seine Augen glitten verzweiflungsvoll über Marthas geneigten Scheitel.

»Er lügt!« schrie Kascheike, den Stuhl zurückschleudernd. »Aus meinem Zimmer kam sie, als er bei ihr eintrat. Belauscht hat er uns, um dann zu predigen … er lügt!«

»Es ist genug,« sagte Martha aufstehend. »Wie lange soll ich dies noch hören?«

»Sie lügt!« wiederholte Kascheike rasend. »Beide lügen sie! Sie … sie soll sich ausziehen, hier am Tisch. Sie soll das Muttermal auf ihrer linken Hüfte zeigen. Ich reiße dir die Kleider herunter, du Frauenzimmer! Ihr sollt mich noch kennenlernen!«

Er brüllte, daß die Kerzenflammen schwankten, über den Tisch geworfen wie ein Raubtier, die Augen überfließend von grünlichem Schein.

»Du bist ein böser Mensch, Kascheike,« sagte Andreas ernst. »Ich war ein berauschtes Kind, als du mich nach oben brachtest. Du reiztest mich, daß ich prahlte. Von häßlichen Dingen sprachst du, die ihren Körper entstellen müßten. Ich aber vergaß der Scham und stammelte von der Schönheit ihres Leibes. Sie wird mir vergeben. Du aber lagst wie ein Tiger auf der Lauer, denn schon, als wir hierher fuhren, dachtest du nur an dies eine. Schon auf dem Ball, wo du sie kennen lerntest, hat sie dich ins Gesicht geschlagen, und das hattest du nicht vergessen. Ist es wahr, daß sie dich geschlagen hat?«

Kascheike schwieg, fassungslos in des anderen Antlitz starrend und mit bebenden Lippen nach Worten suchend.

»Du …« flüsterte er heiser, »du … Lump Gottes, du …«

Andreas tastete nach Marthas Schulter, um sich zu stützen, aber niemand sah sein weiß gewordenes Gesicht. Denn Bulck hatte, das klirrende Glas zur Seite stoßend, den schweren, geschmiedeten Leuchter ergriffen und über seinem Haupte erhoben. Aber im selben Augenblick, als er ihn in Kascheikes Gesicht schleudern wollte, brach ein gurgelndes Stöhnen aus seiner Brust, der Leuchter dröhnte zur Erde nieder, und sein halb aufgerichteter Körper brach im Sessel zusammen, als habe man ihm die Füße fortgerissen. Ein weißgezackter Blitz schien jäh verschwindend durch seine rechte Wange zu laufen, das rechte Lid schloß sich langsam über dem erblindenden Auge, und die scharfe Linie des Mundes krümmte sich zu schwerem Schmerze. Das linke Auge blieb geöffnet, mit furchtbarer Starrheit an Kascheike hängend, und die Finger der ungelähmten Hand stießen mit einer gespreizten Gebärde des Hasses gegen das Antlitz hinter dem Tisch, das aus der Versteinerung des Schreckens sich langsam zu Hohn und rasendem Jubel wandelte.

»Ein Gericht! Ein Gericht!« schrie Kascheike, die Arme zu wildem Tanze hebend. »Ein Gottesgericht, mein Alterchen … ein Wunder der himmlischen Allmacht … gelobt sei Gott Vater, Sohn und Heiliger Geist!«

Und während Martha schreiend zur Türe stürzte, begann er wie ein Wahnsinniger am anderen Ende des Tisches durch das Zimmer zu tanzen, die Hände zusammenschlagend, die Stühle über die Dielen schleudernd, während seine verzerrten Lippen in wildem Rhythmus immer dieselben Worte wiederholten: »Gott Vater … Sohn und … Heiliger Geist … Gott Vater … Sohn und … Heiliger Geist …«

Erst unter Karsubkes schwerer Faust, die ihn um den Nacken faßte, verstummte er, aber seine funkelnden Augen blieben noch in der Türe auf Bulcks verzerrten Zügen, und noch aus der Diele, sich windend unter Karsubkes Griff, schrie er mit gellender Stimme zurück: »Noch vier Monate, Alterchen! … Noch vier Monate! … Dann werdet ihr sehen, ob es Kascheike ist! …«

Bulck wurde mit Mühe zu Bett gebracht. Der Arzt kam, untersuchte, verordnete und fuhr wieder fort. Langsam kam das Haus zur Ruhe. Der Kranke gab zu erkennen, daß er niemanden bei sich behalten wolle als Andreas. Er lag still in den Kissen und bewegte nur hin und wieder mit dumpfen Lauten die Lippen, sich windend unter den Fesseln der Lähmung und jedesmal erschöpft zurücksinkend in die Ohnmacht des Schweigens. Nur sein Auge blieb die ganze Nacht unablässig auf Andreas gerichtet, und es bewirkte, daß diese Nacht sich in seiner Seele eingrub wie ein Feuermal. Er hatte diese Augen gefürchtet, seit er sie zuerst an dem kleinen Bahnhofsgebäude erblickt hatte, ihren starren, verschleierten Schein, ihre schläfrige Eindringlichkeit, ihr gefrorenes Licht, ihre schweren Lider, die sich träge aber unerbittlich schlossen, um sich ebenso träge wieder zu öffnen. Nun aber, in dem weiten, halbdunklen Raum, in dem tiefen Schweigen des großen Hauses, blickte dieses Auge als das einzige Lebendige des toten Körpers mit einer furchtbaren Frage aus dem weißen Gesicht. Es leuchtete gleich einem halb verschütteten Brunnen aus einem Unerkennbaren herauf, in einem toten Lande; es führte in irgendeine geheimnisvolle Tiefe, aus der die Kühle des Grauens emporwehte, und Andreas beugte sich zitternd über den Rand, ohne mehr zu sehen als gestaltlose Schatten in einer bodenlosen Tiefe.

Manchmal bedeckte er sein Gesicht mit den Händen, um eine andre Welt zu erschaffen und in der Hoffnung, das Auge würde sich schließen. Aber wenn er wieder aufblickte, sah er es unverändert auf sich gerichtet, starr, ohne Bewegung; er fühlte seinen Blick tief in sich hinabsteigen, durch den Schleier des Antlitzes dringen und sich in seine Seele hineingraben, und ob er sich mit gerungenen Händen dagegen aufbäumte: er vernahm zuletzt die Frage, die hinter der feuchten Wand sich schattenhaft regte und schrie: »Ist es wahr, Andreas? Ist es dein Kind?«

Und Andreas beugte sich über das fahle Gesicht und antwortete mit fester Stimme: »Ja, Herr Bulck, es ist mein Kind.«

Dann schloß das Auge sich und eine leise Entspannung glättete die Züge. Andreas aber verhüllte die Qual seiner Seele. Er sah das matte Schneelicht hinter den hohen Fenstern stehen, er hörte den Schlag der Uhr erbarmungslos zum Morgen gehen, und der kommende Tag erhob sich mit einer furchtbaren Frage vor seinen Augen, bodenloser noch als die Frage in Bulcks Antlitz. Und wieder fühlte er den toten Blick auf sich gerichtet, wieder fühlte er sein Leben wie auf den schwankenden Leitern des Traumhauses, und wieder flüsterte hinter den regungslosen Lippen die Frage: »Ist es wahr, Andreas?«

So verging die Nacht. Sie war länger als irgendeine Nacht hinter dem Stacheldraht des Lagers, sie war länger auch als die Nacht der Tiere, und sie überdauerte selbst die Nächte, in denen Andreas zwischen Sumpf und Rohr zu dem fensterlosen Hause sich geschleppt hatte, um aufzusteigen zu dem Raum, wo das Furchtbare geschah.

Als Martin in der Frühe das Zimmer betrat, schlich er hinaus. Bevor er den Griff seiner Türe niederdrückte, trat Martha unausgekleidet von der andern Seite auf den Gang. Ihre Blicke trafen sich und blieben stumm ineinander.

»Ich werde heute das Aufgebot bestellen,« sagte sie endlich finster.

Er nickte nur und öffnete die Türe.

Da riß sie ihn an den Schultern herum. »Bin ich ein Tier?« schrie sie mit funkelnden Augen. »Weshalb sprichst du nicht?«

Er bebte zurück vor ihrem lodernden Gesicht, und die schwere Angst jener Sommernacht überlief ihn mit verstärkter Gewalt.

›Das hatte ich ja nicht bedacht,‹ fuhr es ihm durch den Sinn, ›dieses, das noch dazu kommt … ihre Lippen, ihre Arme, dies alles … wohin werde ich gelangen … weshalb habe ich solche Angst?‹

Er sah sie an, wehrlos und erschüttert, bis sie lächelte. »Wie du dich fürchtest, Andreas,« sagte sie sanft. »Du fürchtest zu sterben … aber du wirst auferstehen … nun geh und schlafe …«

Sie strich mit der Hand über seine Stirn und ging lächelnd in ihr Zimmer zurück.

Bulcks starker Körper bezwang die Lähmung. Nach acht Tagen konnte er zum erstenmal das Bett verlassen und auf seinen Stock gestützt zu dem Sessel am Fenster gehen, von dem man den Hof überblicken konnte. Hier saß er, eine Decke über den Knien, und blickte hinaus. Die rechte Seite blieb geschwächt, aber man konnte verstehen, was er sprach. Doch war eine große Veränderung mit ihm vorgegangen. Stundenlang konnte er schweigend vor sich hinbrüten, die Menschen mit seinen Blicken nur streifend. Die wenigen Worte, die er leise sprach, waren nicht hart oder böse wie früher, aber auch ohne jede teilnehmende Freundlichkeit, sondern müde und ganz weit entfernt, fast scheu, als kämen sie aus einem andern Leben und als sei mit ihrer Äußerung irgendeine unbestimmte Gefahr verbunden. Selbst eine leise Trauer schien wider seinen Willen seine Augen zu erfüllen und eine bange Befremdung über das, was vor ihnen geschah. Wenn Martha wie gewöhnlich die Zigarre für ihn anzündete, beugte er sich vor, um auf ihre Hände zu sehen und versuchte dann erschreckt, sich zu vergewissern, ob die andern es gemerkt hätten. Sein Sohn durfte nicht mehr bei Tisch erscheinen. Er gab keine Gründe an, aber die Qual seines Antlitzes sprach so eindringlich, daß niemand mehr ein Wort darüber zu sprechen wagte.

Das Gespenst rächte sich auf seine Weise. Bei der ersten Mahlzeit, die sie im verkleinerten Kreise einnahmen, hörten sie plötzlich seine heisere Stimme durch die geschlossene Tür. »Mahlzeit, Alterchen!« rief es, bebend vor Wut und Hohn, »schmeckt es nicht mehr so schön wie früher, nein? Siehst du, ich habe immer gesagt, daß Vater und Sohn sich näherkommen, wenn sie älter werden … das ist der Anfang, das nächste Mal kommt das Rückenmark … dann sitzen wir uns gegenüber, jeder in seinem Stuhl, und blicken uns liebevoll an … zwei Gespenster, Alterchen, statt eines … habe ich nicht immer gesagt, daß dies ein Gespensterhaus ist? Wie still er ist … das ist ihm auf die Nerven gegangen, Karsubke, was? Auch mit dem Trinken scheint es vorbei zu sein … alles still … wie die Leichen sitzen sie da … nur das kommende Geschlecht regt schon leise die Glieder, nicht wahr, Schwesterlein? Prost, ihr Gespenster! Auf die schöne Zukunft!«

Andreas war aufgesprungen, aber Bulck hielt seine Hand fest. Er saß vorgebeugt, die traurigen Augen auf die Türe gerichtet, hinter der es sprach, und lauschte bewegungslos. Als die Stimme schwieg, blieb er noch immer in derselben Haltung, ohne Schrecken oder Qual in seinen Zügen, nur daß die bange Befremdung sich in ihnen vertiefte.

»Das ist mein Sohn, Andreas,« murmelte er nach einer Weile.

Sie schwiegen bedrückt.

Beim Abendessen blieb es still nebenan. Martha hatte das Gespenst in ein andres Zimmer bringen lassen. Bulck lauschte während des ganzen Essens hinüber, aber er fragte nicht.

Das Furchtbarste für Andreas waren die Stunden der Dämmerung, wenn er am Fenster des Arbeitszimmers Bulck gegenüber sitzen mußte. Die stumme Bitte in des Kranken Augen war so flehend, daß er keinen Widerstand leistete. Er las vor, was ihm gerade unter die Hände kam, selbst aus der Bibel, oder er sprach von seiner Jugendzeit und vom Kriege, oder er schwieg. Aber das Quälende war, daß er fühlte, wie gleichgültig Bulck alles dieses war, sein Lesen, sein Sprechen, sein Schweigen. Und daß er ihn nur bei sich haben wollte, um unter dem Schutz der Dämmerung und der die Stirne schützenden Hand ihn anzublicken. Und jedesmal, wenn Andreas unvermutet aufsah, hing der Blick der toten Augen regungslos an seinem Antlitz, und unter den schweren Lidern stand schweigend die Frage: »Ist es wahr, Andreas?«

Dann hörte er mitten im Satze auf, gelähmt von der scheuen Traurigkeit in des andren Gesicht und mit Mühe sich zurückhaltend von dem Verlangen, die Hände zu heben und alles zu bekennen. »Ich möchte jetzt gehen,« sagte er dann leise, blieb aber sitzen und bewegte die Lippen, als ob er sprechen wollte.

So saßen sie schweigend. Es wurde dunkel, und eine matte Laterne schwankte über den Hof. Eine Stalltür wurde zugeschlagen, und aus der Küche drangen die abgebrochenen Töne eines Liedes. Und es war ihnen, als hörten sie ihre beiden Herzen klopfen.

Stand Andreas dann endlich auf und ging auf Fußspitzen zur Türe, dann legte Bulck den Kopf an die Lehne seines Sessels zurück und sagte leise: »Bis morgen, Andreas.« Und es blieb verborgen, ob er das Vorlesen meinte oder etwas anderes.

In der ersten Adventwoche hatte Andreas eben sein Buch geschlossen, als Martha zu ihnen ins Zimmer trat. Sie setzte sich neben den Schreibtisch, spielte eine Weile mit ihrem Armband und sagte dann ruhig: »Ich habe heute mit Reimarus gesprochen. Wir dachten den heiligen Abend zur Trauung zu wählen, hier im Hause natürlich. Ich möchte gerne wissen, ob ihr einverstanden seid.«

»Du mußt Andreas fragen,« antwortete Bulck nach langem Schweigen.

»Ich bin einverstanden,« sagte Andreas so ruhig wie möglich.

»Dann möchte ich morgen verreisen, um die Möbel zu kaufen. Ist es euch recht?«

»Du mußt Andreas fragen,« wiederholte Bulck im gleichen Tonfall.

»Ich glaube, daß es Andreas so das liebste ist.«

»Gewiß,« sagte er gequält.

»Wenn ich zurück bin, können wir die Einzelheiten ja noch besprechen … ich werde etwa vierzehn Tage fort sein.«

Sie wartete noch ein paar Minuten, ob einer noch etwas zu sagen habe, und verabschiedete sich dann mit einem Kopfnicken.

»Wie wirst du leben?« fragte Bulck endlich.

»Ich weiß nicht,« flüsterte Andreas. »Unter dem Kreuz soll man nicht fragen.«

»Ich werde euch die Hälfte des Hauses geben und was ihr sonst braucht … vielleicht … vielleicht bleibst du bei uns, Andreas?«

Aber er antwortete nicht.

Bis zu Marthas Rückkehr verließ er das Haus nur, um im Dunkeln durch den Park zu gehen. Sonst saß er in dumpfem Brüten in seinem Zimmer und grübelte über Recht und Unrecht, ob das Leiden Größeres verlangen dürfe als die Wahrheit, ob Bulck wisse oder nicht wisse. Aber schwerer als alles war ein leiser, kaum fühlbarer und nie zu zergliedernder Reiz, der irgendwo aus dem Tasten in die Zukunft aufstand, der sich unmerklich mit dem Willen zum Leiden mischte und der den reinen Kelch vergiftete. Immer wieder kehrten die Gedanken, sobald er sie aus den Tiefen sittlichen Wägens müde entließ, zu Marthas Antlitz in jener Sommernacht zurück und zu ihren drohenden Worten: »Ich sage Ihnen, ja! Ja, sage ich Ihnen!«

Er erschrak über die Macht des heimlich kreisenden Strudels, der mit Grauen und Süße in den dunkelsten Kammern seiner Seele zu rauschen begann, und ob er die Hände vor die Ohren hielt, er hörte das leise Pochen einer fremden Hand, die einlaßfordernd an die Tore eines strengen und reinen Lebens schlug. ›Damals als ich es tat,‹ dachte er, mit aller Inbrunst sich rückerinnernd, ›lebte das schon in mir? Trieb es mich, mir unbewußt, mit an zu meinem Entschluß?‹ Aber er fand nichts, und für ein paar Stunden atmete er leichter. Saß er dann wieder bei Bulck, sah er in seine traurigen Augen, dann erhob es sich wieder, ganz, ganz leise, tastete an die Wände seiner Seele, verbarg sich erschreckt, bis es unvermutet ein böses Antlitz hob und deutlich vernehmbar sagte: »Ja!«

Endlich kam er zu einem Entschluß, der ihn ruhiger machte und der dem stillen Frager die Lippen schließen würde. Aber nachdem er ihn gefaßt hatte, bettete er ihn vorsichtig in einen dunklen Winkel seiner Seele, damit er dort liege bis zur Tat; denn ihm war immer noch, als könne er ihm zwischen den Fingern zerfallen wie ein altes Totenkleid.

Martha kam zurück, bleich und angegriffen, aber von Heiterkeit, selbst Ausgelassenheit erfüllt, und ihre Bewegungen und Gespräche zeigten die Sicherheit eines Menschen, der seine Überlegenheit aus einem noch verhüllten, aber bald zu eröffnenden Geheimnis schöpft.

Am Hochzeitstage fühlte Andreas eine müde, nach Stürmen still fallende Ruhe in seinem Wesen. Er hatte von seiner Zeit im Sägewerk geträumt und heiter mit Jons am Ufer des Stromes gesessen. Nun glänzten die reinen Bilder des Traumes in seinen Augen nach, und während des ganzen Morgens dachte er an den Pilger auf dem Floß, der die Sünde von seinen Füßen gewaschen hatte. Sein Koffer stand gepackt, und als sie zum Standesamt fuhren, sah er fast fröhlich über die Felder, auf die ein leiser Schnee herniederfiel.

Aber plötzlich, ohne Übergang und Anlaß, hörte er – Reimarus war schon gekommen – eine laute Stimme in seiner Brust. Sie sprach nicht vernehmbare Worte, sie war wie unter Decken erstickt, aber sie rief, drängend, beschwörend, hinter geschlossenen Fenstern, immer lauter und flehender, sie jammerte, sie schrie, so daß er in seinem Zimmer aufsprang, totenbleich, als rufe ein Sterbender nach ihm, die Türe aufriß, ob es auf dem Gang sei, weiter und weiter ging, durch das ganze Haus, an alle Türen, bis er erschöpft stehen blieb, erschüttert, fassungslos, die Hände ringend.

»Ich bin krank,« flüsterte er, »wie damals, als die Tiere riefen … als der Hund im Traume klagte … was tue ich bloß? Sie werden es hören … alle …«

Er öffnete die Tür zum Trauzimmer. Sein Blick fiel auf das weiße Kruzifix, das vom Altar in mattem Schimmer leuchtete, und in jäher Wendung, als stoße ihn Gottes Hand, kehrte er um, lief durch das Speisezimmer und die Diele, Martin beiseite drängend, und stürzte in Bulcks Arbeitszimmer. Er hörte sein Blut brausen und ein deutlich, mit eherner Schärfe erklingendes Wort; er sah im matten Fenster das dunkle Kreuz und Bulcks schwere Gestalt, die ihm den Rücken zuwandte und auf den Hof blickte, und ohne das Bewußtsein dessen, was er tat, stand er neben ihr und suchte die toten Augen mit ihrer schweigenden Frage.

Bulck hob die Hand zu einer unerwarteten Bewegung und ließ sie sanft, mit ergreifender Zartheit über Andreas' Wange gleiten. »Du willst es sagen, Andreas,« flüsterte er.

»Es ist nicht wahr!« rief Andreas atemlos. »Es ist nicht wahr … es ist nicht mein Kind!«

Bulck lehnte die Stirn an die Fensterscheibe. »Du kannst befehlen, wann dein Schlitten vorfahren soll,« sagte er nach langem Schweigen. »Ich will dir alles geben, was du haben willst … die Scheidung werde ich für dich besorgen … sie müssen allein feiern …«

Da lächelte Andreas. »Nein, Herr Bulck. So wollte ich es nicht. Nur die Lüge mußte ich bekennen. Nun kommen Sie … nun kann ich leiden.«

»Andreas,« murmelte Bulck, fassungslos in seinen Stuhl sinkend, »Andreas … gibt es denn … gibt es einen Gott?«

Dann verließen sie gemeinsam das Zimmer.

Trauung und Bescherung verliefen ohne Störung, getragen von der stillen Fröhlichkeit, mit der Andreas, allen unerwartet, die Wende seines Lebens entgegennahm, und von der heiteren Güte Bulcks, die nach der dumpfen Trauer der letzten Woche alle ergriff, die in seine veränderten Augen sahen. Da außerdem Reimarus sich nicht betrank und diese Zurückhaltung als ein maßgebendes Vorbild wirken ließ, so schien ein Schimmer wahren Glückes über diesem Abend zu liegen, um so mehr als Martha wie ein Kind vor dem Sonntag an der Schwelle der Zukunft stand, noch immer beflügelt von dem Wissen um ein Geheimnis und lächelnd bereit, es jederzeit zu enthüllen.

Erst als Reimarus aufbrach und sie sich zur Nacht trennten, mischte sich eine leise schattende Spannung in das Gleichmaß der Freude, und Bulck sah beim Gutenachtsagen eine nicht mehr zu bergende, schwere Sorge in Andreas' Augen sich erheben. Doch wagte er nicht mehr, daran zu rühren, so daß sie mit der für die Stunde üblichen verlegenen Herzlichkeit auseinandergingen.

Bevor Andreas die für ihn und Martha bestimmten Räume betrat, stand er noch eine Viertelstunde am Fenster seines alten Zimmers im Dunklen und blickte in den verschneiten Garten hinaus. Er atmete so leise, daß nicht ein Hauch auf dem Glas der Scheibe erschien, und sein Gesicht war so weiß und versteinert von innerem Leiden, daß es wie das Gesicht eines Toten erschien. Er sah das dunkle Netzwerk der Äste und die scharfen Schatten auf dem mondhellen Schnee, die Weite der bläulich schimmernden Felder und den kalten Glanz der vielen Sterne. Er sah lange versunkene Bilder aufsteigen und sich mischen mit der verzerrten Qual der letzten Monate. Er öffnete sorgsam die dunklen Kammern seiner Seele und hob den großen, verhüllten Entschluß der letzten Wochen aus den bergenden Decken. Er sah ihm fest in das wegweisende Antlitz und grub mit fiebernden Händen alles Fromme und Starke aus dem Acker seines Leben, das er in der Wirrheit der Stunde nur finden konnte; aber als er das Zimmer verließ und es hinter sich abschloß, zitterten seine Hände so, daß der Schlüssel ihnen entfiel und mit hartem Klang auf die Dielen schlug. Und wie in jener Sommernacht lehnte er die Stirn an das kühle Holz und sah die weiten Wälder vor den geschlossenen Augen und das dunkle Grün der tiefen Äste, hinter denen der Menschenschritt für ewig versank.

Die neuen Räume waren hell erleuchtet. Er stand eine Weile wie ein Fremder vor der schweren Pracht seines Arbeitszimmers, das er zum ersten Male sah, und verließ es bedrückt, um in das kleine Damenzimmer zu treten. Auf Tisch und Sesseln lagen hier die Geschenke. Dahinter, auf dem Sofa, mit sichtlicher Mühe wirksam aufgebaut, stand ein Bild, über das eine seidene Decke gebreitet war. Gedankenlos trat Andreas heran, sah mit matter Verwunderung einen Strohblumenkranz neben dem Rahmen liegen und schob den knisternden Stoff zur Seite.

Er stützte sich mit den rückwärts tastenden Händen auf die Kante des Tisches und fühlte bei aller Beherrschung seine Stirn sich röten. Das Bild war eine schlechte Vergrößerung und stellte Martha dar. Man sah deutlich, daß nur ein Kopfbild vorgelegen hatte und daß der übrige Körper in Handwerksmanier mit schwarzer Kreide ergänzt worden war. Dieser Körper war unbekleidet, das Ganze mit blassen Farben nachträglich ausgefüllt. Auf der linken Hüfte war mit roher und übertriebener Deutlichkeit ein Muttermal angebracht. Darunter lag ein Zettel in Kascheikes unverstellter Handschrift: »Der Besitzer – dem Nachfolger.«

Andreas überhörte Marthas Schritte. Erst bei ihrem leisen Lachen schrak er zusammen. »Eine liebenswürdige Aufmerksamkeit,« sagte sie mit fröhlichem Spott. »Für dich übrigens … es kam an deine Adresse, und ich wollte es dir nicht unterschlagen.«

Sie nahm in einem tiefen Sessel neben dem Ofen Platz und sah prüfend auf ihren Trauring. Sie trug noch die weißen Schuhe und die Seidenstrümpfe, hatte aber das Traukleid abgelegt und ein weißes, loses Nachtkleid übergeworfen. »Komm her, Andreas,« fuhr sie lächelnd fort. »Du siehst so aus, als ob du noch eine kleine Predigt halten wirst … und auch ich habe dir wohl noch etwas zu sagen.«

Er gehorchte schweigend, blickte noch eine Weile auf das Bild und betrachtete dann seine Frau, ohne die Scheu der bisherigen Fremdheit, aber auch ohne hinter seiner ernsten Verschlossenheit verbergen zu können, wie diese Stunde ihn ergriff.

Sie verschränkte die Arme im Nacken, schlug die Knie ohne besondere Vorsicht übereinander und gab sich so aus bequemer Haltung dem lächelnden Genuß seines Anblicks hin. Der Schlag der kleinen Pendeluhr öffnete die Decke des Schweigens über einem tiefen Grunde und schloß sie wieder, verhüllender als zuvor. »Wie dein Herz schlägt, Andreas!« sagte sie leise. »Ich höre es bis hier … nun werde ich deinen Mund küssen.«

Er schwieg und hob nur die Finger der rechten Hand mit einer unwillkürlichen Bewegung in die Richtung des Bildes.

»Ach, laß doch deine Hemmungen,« fuhr sie ruhig fort. »Kascheike ist tot und kehrt nicht wieder.«

Er lauschte erst dem Klang und Sinn der Worte nach, bevor er mit ernster Bedeutung sagte: »Aber das Kind … ist nicht tot!«

Er sah, wie ihre Augen aufflammten und wie sie die Lider schloß, um einen nur ihr bewußten Jubel noch für sich zu genießen. Dann beugte sie sich langsam zu ihm. »Doch, Andreas,« antwortete sie mit derselben Bedeutung. »Auch das Kind … ist tot.«

Er starrte ihr fassungslos in das nahe Gesicht. »Tot … dann … hat er gelogen?«

Sie lachte leise auf. »Wie dumm du bist, Andreas … nein, er hat nicht gelogen … es war da, aber nun ist es nicht mehr da … verstehst du?«

»Martha?« flüsterte er. »Was hast du …?«

Sie lehnte sich ungeduldig zurück. »Mein Gott, glaubst du, ich brauche vierzehn Tage, um diesen Kram zu kaufen?«

»Ein Mord ist das,« stöhnte er, die Hände faltend.

»Ja, ein Mord nach Gritas Art, mein Lieber.«

»Sie mordet nicht mehr, seit sie verheiratet ist.«

»Auch ich gedenke es nicht mehr zu tun,« antwortete sie, schon wieder lächelnd.

»Weshalb tatest du es denn?« schrie er plötzlich in jäher Erkenntnis. »Das mit mir? Wenn du es töten wolltest, was brauchtest du denn mich?«

Sie stand langsam auf, trat an seine Seite und ließ sich unerwartet auf seine Knie nieder. »Weil ich dich liebe!« flüsterte sie, die brennenden Augen über ihn senkend. »Weil ich dich haben will, so blaß und bebend wie in jener Nacht … und weil ich dich anders nicht bekommen konnte.«

»Du bekommst mich nicht!« schrie er, die Herrschaft verlierend. »Erlösen wollte ich dich, aber du … deine Gier willst du an mir stillen wie an dem andern … bekannt habe ich, heute vor der Trauung … alles weiß er, und er bot mir an fortzugehen. Ich Narr, hätte ich gewußt … mein Leben hast du verstrickt … für Gott ist es, nicht für deine Lust … fort, laß mich los …«

»Bekannt hast du … so …« keuchte sie, mit ihm ringend. »Bekenne, soviel du willst. Schreie es aus, aber deinen Mund will ich küssen …«

Er fühlte ihre brennenden Lippen und stieß sie so hart von sich, daß sie auf die Knie fiel. »Es war beschlossen,« sprach er mühsam, nach Fassung ringend, »als ich hier eintrat. Noch bevor ich wußte. Keine Nacht nach deinen Träumen. Nun hast du es mir leichter gemacht. Ich gehe fort, noch diese Stunde, zu Reimarus, in mein Amt. Wenn ich eine Stelle habe, dann kannst du zu mir kommen. Dann werden wir büßen, wir beide, für die Lüge und für das andre. Büßen, verstehst du? Nicht in Rausch und Sünde leben.«

Sie strich sich das gelöste Haar aus dem Gesicht. »Andreas,« flüsterte sie, »was sprichst du? Eine Schande löschst du aus und gibst mir eine neue … hörst du nicht, daß ich dich liebe, Andreas? Ein Kind bist du, mein Liebster, was fürchtest du dich? Schenken will ich dir, was noch niemand so bekam … Büßen wollen wir, beide, auf Knien, aber morgen erst, nicht diese Nacht … diese Nacht sollst du …«

Sie verstummte, denn er stand schon an der Türe. Aber bevor er die Hand an den Drücker legen konnte, riß sie ihn zurück. »Ich … ermorde dich,« flüsterte sie heiser. »Bist du wahnsinnig? Ich wecke den Vater … das ganze Haus … alles ist mir gleich … alles …«

Er taumelte vor der Wildheit ihres Körpers, aber in seiner blassen Stirn löschte die schwere Falte nicht aus. Er hob sie in seine Arme, duldend, daß ihre Lippen sich sinnlos auf seinen Mund preßten, und trug sie bis in das Schlafzimmer, das nur einen Ausgang hatte. Hier drückte er sie mit hartem Griff in den ersten Stuhl und beugte sich noch einmal über sie … »Einen Knecht kannst du in dein Bett zwingen,« sagte er finster. »Nicht mich.« Dann schloß er die Tür hinter sich und ging nach oben. Er nahm den Brief an Bulck aus seiner Brusttasche, legte ihn auf den Tisch, zog den Mantel an und verließ das Haus.

Überwältigend fiel der Sternenhimmel in seine zerwühlte Seele. Wie ein Spukschloß versanken Haus und Hof. Die sanft sich überschneidenden Linien der Felder schwangen himmelwärts, und das tiefe Schweigen trug in verborgenen Gründen einen leisen, gleichmäßigen Ton, wie von dem lang gehaltenen Bogenstrich auf einer gedämpften Saite.

Mit entblößtem Haupte ging Andreas durch die Nacht, langsam, wie auf einer neuen Fahrt zu Gott. Stufen eines dunklen Gewölbes blieben hinter ihm, dumpf verklingender Widerhall an feuchter Wand, bröckelndes Gemäuer und erstickter Schrei. Aber auch dort war Christus gewesen, gefesselter Heiland und lastendes Kreuz. Und im erloschenen Haus schwang eine Stimme, aufwärts sich ringend aus verschütteter Brust: »Gibt es … gibt es einen Gott?«

Als Andreas unfern der Gutsgrenze auf seinem Acker stand und das Licht in den Fenstern des Hauses sah, in dem Jons und Grita nun saßen, lächelte er nach Monaten wieder mit kindlichen Lippen. ›Im Frühjahr,‹ dachte er, ›wenn ich zur Stadt zurückkehre, werden sie haben, was sie brauchen, sie und wir alle: den Pflug, das Beet mit schwarzer Erde und das Lächeln eines Kindes … wie ein Bettler kam ich her, und wie ein König gehe ich davon …‹

Und fröhlich klopfte er an die niedrige Tür.


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