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II.
Der begrabene Heiland

Im Schneesturm fuhr Nyland nach Süden. Es war drei Tage vor Weihnachten, und in den Augen der Menschen, unter denen er saß, brannte ein stilles Licht, in dessen Betrachtung er sich grübelnd verlor. Nach ein paar Stunden Fahrt stieg er aus, wo das hügelige Land begann, und fuhr auf Schneeschuhen durch brausende Wälder und stiebende Ebenen der Heimat zu. Spurlos, in Brandung und Dampf, schloß nur die Nähe sich auf vor seinem sturmgetriebenen Weg. Wälder, gebeugt, in weißen Strömen ertrinkend, stiegen jäh aus fahlem Grund, wölbten ihr donnerndes Dach über dämmernder Tiefe und versanken wie Häuser in der Nacht, wenn das Licht erlischt über letztem Ruf. Nur die Drähte dröhnten, spurweisend, in die Ferne hinaus.

In fallender Nacht stieg er über wehendes Feld zu einem Licht empor, das sich entzündete und erlosch, je nachdem das treibende Gewölk sich hob oder sank.

In der Tür stand die Bäuerin, den Körper wie eine Lauschende schmerzlich vorgebeugt, und spähte in seinen schneeverwischten Zügen.

»Frohe Weihnacht, Mutter!« sagte er leise. »Darf ich für die Nacht an Ihrem Herde sitzen und mich ausruhen?«

Das scharfe Licht in ihrem Antlitz erlosch und wich einer müden Dumpfheit.

»Ein anderer sollte es sein,« antwortete sie, über ihn hinwegsprechend, »aber Sie können auch bleiben.«

Er machte die Schneeschuhe los und blickte von unten zu ihr auf. »Auch Sie, Mutter,« sagte er traurig, »wie sie alle warten, immer noch!«

»Was wissen Sie? Wer sind Sie?« fragte sie erschreckt. »Und weshalb nennen Sie mich Mutter?«

»Zu meinem Heiland fahre ich. Begraben habe ich ihn, in der kalten Erde liegt er und lauscht in die Nacht, ob ich nicht komme … Solch einer bin ich, und deshalb bin ich müde. Und weshalb ich Sie Mutter nenne? Habt ihr nicht das größte Leid getragen? Wie soll man die nennen, die im Schneesturm stehen und lauschen, ob er noch einmal wiederkehrt? Ach, Mutter, auch ich habe zwei Jahre hinter dem Stacheldraht gestanden … lassen Sie mich ruhig Sie so nennen.«

Sie sah ihn bange an und fuhr sich mit der Hand über die Augen. Dann führte sie ihn in die Küche.

Der Bauer hob fragend sein zerfurchtes Gesicht von der Bibel. »Er will zu seinem Heiland,« sagte die Bäuerin, »den er begraben hat. Er will die Nacht am Herd bleiben, und er ist ein guter Mensch.«

»So … zu seinem Heiland … Sie werden ihn nicht aufwecken … aber bleiben Sie man. Sind Sie ein Heiliger?«

»Nein, ich bin Student. Pfarrer will ich werden.« Er sah nach dem Bett an der Fensterwand, aus dem ein blasses Mädchengesicht sich ihm zuwandte.

»Die Tochter ist krank,« sagte die Bäuerin, »gelähmt … die Aussteuer war schon angefangen. Da legte sie sich hin. Zwölf Wochen schon. Es wird nicht besser.«

»Gottes Hand ist groß, Herr Student. Er schlägt niemals einen Menschen, er trifft immer zwei. Zum wenigsten zwei, manchmal auch mehr.« Der Bauer legte die harte Hand auf das Buch und sah ihn grübelnd an.

»Ihr sollt Euch nicht Vorwürfe machen, Vater,« sagte das Mädchen gequält.

Nyland nahm ihre Hand und beugte sich über sie. Er erschrak vor der Tiefe der Augen, in denen eine kranke Flamme brannte. »Du trägst ein anderes Leid,« sagte er und verstummte vor der jähen Blässe, die über das junge Gesicht fiel. »Auch ich leide,« setzte er leise hinzu, »und gehe, um zu bekennen.«

»Ich habe nicht zu bekennen,« antwortete sie finster.

»Sie sollte heiraten,« sagte der Bauer, »und wollte nicht … Ich strafte sie, Kinder sollen gehorsam sein. Sie mußte waschen, zur Aussteuer, und im Graben stehen. Davon ist es gekommen.«

Nyland sah sich traurig um. »Was wir tun, ist böse,« seufzte er, »und was wir nicht tun, ist noch böser … es war gut, daß ich bei euch einkehrte.«

Er saß am Herdfeuer und wärmte seine Hände. Der Schnee rieselte an den Fenstern, und er sah den langen Weg durch die weiße Nacht gleiten, den er zu gehen hatte. Das Leid der Erde lag überall, wohin er blickte, und überall war er zu Hause. Er streichelte den Kopf des Hundes, der auf seinen Knien lag, und sah der Bäuerin zu, die das Essen auf den Tisch trug. »Wieviele haben Sie erwartet, Mutter?« fragte er in Gedanken.

»Beide, Herr Pfarrer, beide …«

Bevor sie aßen, sprach er den Gruß der Hirten auf dem Felde. Der Bauer lächelte bitter, aber seine Frau hielt die Hände gefaltet und sagte scheu: »Wie wenn Er bei uns eingekehrt ist … so ist mir …«

Nyland hob abwehrend die Hand. »So könnte es sein, Mutter, auf der ganzen Erde, immer, wenn einer einkehrt. Wenn es ein Bruder wäre und wenn er das Kreuz trüge … Alle sind von einer Mutter geboren, alle haben wir Kinderträume gehabt und sind im Paradiese gewesen, alle kehren wir zur Erde wieder, nackt und bloß, der Mörder wie der Heilige. Und doch, zwischen zwei Nächten, lärmen wir und vergießen Blut, bis die Lampe löscht. Und begraben Gott und wälzen einen Stein auf sein Grab, damit wir sein Rufen nicht hören.«

»Der Pfarrer,« sagte die Frau, »am Totensonntag hat er gepredigt, daß es der schönste Tod war, daß es Sünde ist, zu murren … sagen Sie, wie er war. War es der schönste? Das Herz tut mir weh, wenn ich an sie denke.«

Er senkte die Stirn vor ihren flehenden Augen. »Schwer war er, Mutter, bitter und schwer. Denn sie starben lange, drei, vier Jahre lang starben sie, bis das Eisen sie zerriß. Und wer darf vom Tode predigen, als wer mit ihm gerungen hat? Wir tragen nicht das Kreuz, Mutter. Wir reden vom Kreuz, aber wir tragen es nicht.«

»Herr, sehen Sie nicht, daß ich trage?«

»Ich sah Sie vor dem Hause stehen, Mutter, und nach meinen Augen spähen. Hatten Sie es getragen, dann würden Sie nicht mehr warten. Wir müssen es tragen, wie wir unser Alltagskleid tragen …«

»Und Sie, Herr Student?« fragte das Mädchen bitter. »Haben Sie keine Sonntagskleider?«

»Ich war zehn Jahre nicht in der Heimat, an der Stelle, wo es geschah,« antwortete er bedrückt. »Ich ging und kam nicht wieder. Ich redete zu mir vom Kreuze, viel habe ich gesprochen und mich an meinen Tränen berauscht, aber ich trug es nicht. Nun aber will ich mich beugen und will bekennen.«

»Und was wollen Sie bekennen?«

»Daß ich ein Mörder bin, daß ich Gott gestohlen habe und vergraben. Ist das nicht genug?«

»Ich verstehe nicht,« flüsterte sie erschreckt.

»Und dann, Herr Pfarrer?« fragte die Bäuerin scheu.

»Dann? Ich weiß noch nicht, Mutter … Sehen Sie, ich habe mir gedacht, wenn in einem Hause, in einer Familie ein paar gesund sind und viele krank, ein paar reich und viele arm, was sollen wir tun, die wir gesund und reich sind? Sollen wir die andern hungern und leiden lassen und fortgehen und sagen: ›Ich habe keine Zeit, ich muß für mich sorgen?‹ Oder sollen wir auch Hunger und Leid auf uns nehmen und zusammen hungern und leiden? Oder sollen wir die Kranken totschlagen, weil sie uns hindern oder das Haus in Brand stecken können? Es gibt nur zwei Straßen, Mutter. Die eine führt zum Knechte Christus, und sie heißt: ›Liebe deinen Bruder und stirb für ihn.‹ Die andre führt zum Herrn der Welt, und sie heißt: ›Prüfe deinen Bruder und töte ihn, wenn er böse ist.‹ Wenn alle wären wie Christus, gäbe es noch Tränen auf dieser Erde?«

»Aber er war Gottes Sohn, Herr Pfarrer.«

»Und seine Mutter war ein Mensch. Alle sind wir Gottes Kinder.«

Er bat um ein Lager am Herde und erhielt es. Langsam erlosch der Feuerschein und ertrank im dunkelnden Raum. Er lauschte auf den schweren Sturm, der draußen über die Erde ging, und auf die leisen Atemzüge des Mädchens. ›Woran mag sie tragen?‹ dachte er. ›Wenn man doch den Schlüssel fände, zu allem, nicht nur zu den Käfigen aus Eisen!‹

Über einer leisen Stimme erwachte er aus dunkel treibenden Träumen. Der Schnee leuchtete matt durch die Fenster, und er sah das Mädchen aufrecht im Bett sitzen und hörte seinen Ruf.

»Was ist?« sagte er, ganz wach geworden.

Sie wartete, bis er vor ihr stand, und hob die gefalteten Hände.

»Lege deine Hand auf mich,« flüsterte sie, »und sprich: ›Stehe auf und wandle!‹«

»Was tust du?« fragte er erschreckt.

Sie hob die brennenden Augen zu seinem Gesicht. »Sprich es, ich bitte dich um Christi Blut! Sprich es, und ich will bekennen!«

»Du lästerst,« sagte er bekümmert.

»Ich lästere nicht, bei Gott, ich lästere nicht. Du wirst alles sehen. Aber sprichst du es nicht, dann werde ich nicht bekennen, weil ich mich fürchte. Sprich es um Christi Blut! Mit uns zusammen wolltest du es tragen, das Kreuz.«

Noch zögerte er, bis die Qual ihres Mundes ihn ergriff. Dann legte er die Hand auf ihren feuchten Scheitel. »Stehe auf und wandle!« flüsterte er scheu.

Sie warf die Decke um den Oberkörper, schlug das Bett zurück und stand neben ihm, taumelnd, in krampfhaftem Weinen. So ging sie bis zum Herde, kehrte zurück und fiel in die Kissen nieder, die er über sie deckte. Sie weinte leise weiter und zog ihn neben sich auf den Rand des Bettes, seine Hände umklammernd. »Fürchte dich nicht,« flüsterte sie, seine Starrheit begreifend. »Du bist nicht Christus, aber du hast mich erlöst. Ich lag, aber ich war nicht gelähmt.«

»Du warst …?«

»Ich war gesund, aber ich wollte das Kreuz nicht nehmen. Da legte ich mich hin und stellte mich krank.«

Nyland fuhr mit der Hand über seine verwirrte Stirn. »Wie konntest du?« fragte er ohne Fassung. Deine Eltern … was tatest du?«

»Ich bekenne,« sagte sie weinend. »Hör mir zu. Die Brüder blieben im Krieg. Der Vater ist alt, ich habe keine Geschwister. Da suchten sie mir einen Mann. Er wollte mich, denn er war gesund und jung und fröhlich. Und er sagte mir, daß ich hübsch bin, und daß er lange nach mir ausgewesen war, bevor ich es merkte. Aber ich wollte ihn nicht. Ich konnte ihn leiden, aber meine Seele war beim Herrn Jesus Christus und bei den armen Brüdern und Schwestern. Ich habe eine Freundin in der Stadt, und einmal nahm sie mich mit zur Heilsarmee. Sie war schon lange unter ihnen, und sie sagte, daß es etwas für mich wäre, weil ich von Kind an ein Mensch mit Liebe und Tränen und Begeisterung war.

Und gleich das erstemal hat es mich ins Herz getroffen, weil der Herr Jesus mich rief. Der Vater aber schlug mich, weil ich nicht seinen Willen tun wollte. Und als ich waschen mußte, im Graben, da wünschte ich mir, daß ich krank werden möchte, damit Gott ihn strafe. Aber es schadete mir nichts. Und da legte ich mich hin und sagte, daß ich krank bin. Und da sah ich, wie er sich quälte, und da hatte ich Angst, zu bekennen und auch, daß ich ihn nun doch heiraten müßte. Die Nächte habe ich geweint und nach dem Herrn Jesus gerufen, aber er kam nicht, weil ich schlecht war. Aber er schickte dich. Du gingst, um zu bekennen. Und da kam auch der Herr Jesus und sagte mir: ›Stehe auf und wandle.‹«

»Das Licht,« flüsterte Nyland, von Glück überwältigt, »es rief mich … meine Schwester, wie bin ich gesegnet auf meinem ersten Wege!« Er streichelte ihre Wangen, die noch von Tränen naß waren, bis seine Hände plötzlich innehielten. »Aber eins,« sagte er angstvoll, »ich vergaß … wenn er will, daß du heiratest … wirst du es tun? Wirst du es nehmen, dein Kreuz, gern, freudig?«

»Wenn du es sagst,« antwortete sie, sich tiefer beugend, »dann will ich es tun.«

Er erhob sich, die leuchtenden Augen durch das Fenster in die Nacht gerichtet. »Stehe auf,« bat er inbrünstig, »gleich stehe auf und gehe zu ihm! Knie nieder und bekenne, daß du gesündigt hast und dein Kreuz tragen willst. Und wenn er nicht vergibt, so sage, daß ich kommen werde und niederknien. Geh, gleich, sofort, bevor der neue Tag anbricht!«

Er schlug die Decke um sie und führte sie zur Tür … Dann trat er hinaus in den leise dämmernden Morgen. Es wehte weniger stark, aber der Schnee trieb noch immer, und ein strahlendes Licht hob sich von der verhüllten Erde. Er rieb sich Gesicht und Hände mit dem kühlen Weiß, das ihn überschüttete, und breitete die Arme gegen den klingenden Wind. »Ich will zu ihm gehen,« murmelte er in wirrem Jubel, »und will ihn auferwecken und zu ihm sprechen. ›Mein Gott,‹ will ich sagen, ›ich habe gesündigt und will hinfort nicht mehr sündigen!‹ Und dann wird es stiller werden in mir, und ich werde an mein Tagewerk gehen als ein Knecht Gottes.«

Als er in die Küche zurücktrat, kamen sie ihm entgegen. Die Bäuerin weinte, und der Bauer neigte sich tief vor ihm.

»Herr Student,« sagte er, und seine Stimme war noch heiser, »Sie sind eingekehrt bei uns … der liebe Gott hat Sie geschickt … zum Knecht Christus muß man gehen, haben Sie gesagt … ich will gehen … sie ist aufgestanden und ist vor mir niedergekniet … alles soll sein, wie sie will …«

Nyland griff schon nach seiner Mütze. »Wie ich euch liebe,« sagte er hingegeben. »Danken wollt ihr mir, da muß ich fort, weil ich mich nicht schämen will … Nein, bittet nicht, daß ich noch bleibe; denkt daran, daß er im kalten Walde liegt und seine Augen dunkel sind von all der Erde, die über seinem Antlitz ruht. Bittet für mich, daß er mich erhört, wenn ich spreche: ›Stehe auf und wandle!‹«

Er nahm Abschied wie ein Trunkener, erschüttert von dem Hauch der Erlösung wie damals in der Sturmnacht an den Käfigen. Von der Straße winkte er noch einmal zurück, dann schlug der weiße Mantel sich verhüllend über ihn und bedeckte die schmale Spur, die er zog, daß er erschien wie ein Wanderer über einem weißen Meer.

Als die neue Dämmerung sank, glitt er durch den Heimatwald. Über der still gewordenen Welt stand das Abendrot. Aus blauem Licht hoben die Stämme sich zu den ersten Sternen auf. Unberührt glänzte die Straße vor seinem Fuß. Schauer des ersten Menschen durchdrangen seine Spur, Beben des Auferstandenen, der zum jüngsten Gerichte schritt, und wie eine Gnade war der Schlag des eigenen Herzens.

Dann kreuzte ein Reh das blaue Licht, sah in ruhevoller Fremdheit auf das Bild einer fernen Welt, das atemlos vor ihm verharrte, und trat schweigend hinter rieselndes Geäst, das sich schloß wie eines Auges ruhiges Lid. Für den Menschen aber blieb ein Glanz auf dem Weg wie von eines Kindes Antlitz oder von der Stirn einer Heiligen.

So stand er vor seinem Vaterhaus wie ein Pilger vor dem Dom. Nächte des Leidens, Blut und einsame Tränen fielen erinnerungsschwer in seine gefalteten Hände, brannten noch einmal die zuckende Haut und sanken, entkleidet ihrer Qual, in das verwehte Gestern zurück. Über die verglühenden Wälder hob sich der Kelch der Entsühnung, eine neue Erde gebar sich unter seinen müden Füßen, und die blauen Felder verklangen vor ihm als eine Gewißheit der Hirten, die über sie schreiten würden. Die Spur hinter ihm erlosch, die Fährte des Tieres schnitt sie entzwei. Im Moor versank das graue Haus, erstickte der Schrei. Noch einmal beugte das steinerne Antlitz der Welt sich lähmend über ihn, schlug die Rätsel in sein Herz und wandelte sich langsam zum Antlitz eines Kindes, dessen Lippen sich leise öffneten, um lächelnd zu sprechen: »Spiele mit mir und tu mir kein Leid.«

Noch blickte er eine Weile in das Licht, das aus den Fenstern fiel, und auf die fremden Schatten, die hinter den Scheiben sich bewegten. Dann glitt er auf die Felder hinaus, an der Hecke vorbei und den blauen Hang zum Fichtenhorst hinunter, der als dunkles Tor im Birkenwald stand.

Er band die Schneeschuhe ab, mühsam die zitternden Hände zum Gehorsam zwingend, und trat, sich beugend, unter die Äste. Wie ein Grab tat die Kindheit sich auf, jeder Zweig tauchte in das Grauen der Erinnerung, und sein Herz schlug dumpf wie ein Hammer auf gefrorene Erde. Schnee zerschmolz auf seinem brennenden Gesicht, und mit geschlossenen Augen rang er sich auf nie vergessenem Pfade durch die Dickung, bis er die Lichtung fühlte. Dann sah er die silberne Rinde des Espenstammes und sank in die Knie, die Stirn an die Kühle des Baumes gelehnt, die bleichen Lippen bewegend. »O mein Heiland,« flüsterte er, »o mein begrabener Heiland! O sei nicht auferstanden, bis ich dich erwecke!«

Er senkte die Hände in den lockeren Schnee, bis er das Moos erreichte. Die Kühle der zarten Blätter durchschauerte ihn wie der Körper eines Toten, dessen Gewand er geöffnet hatte. Dann warf er sich mit den Armen in den Schnee und schleuderte ihn zur Seite, als könnte die Stunde verrauschen und der Zeiger fallen, bevor aus dem Grunde die Erlösung sich hob.

Er riß das Beil aus dem Rucksack und schlug ein Viereck in den Boden, durch den Frost hindurch. Dumpf klang es aus der Erde, und Schnee rieselte von den zitternden Zweigen. Er bebte vor Qual, als liege er über einem Erschlagenen. Aber dann tauchte er die Hände in die Erde, jäh und besinnungslos, während Angst ihm das Herz würgte, und grub und grub, durch Wurzeln und Moor, bis die Finger sich herumkrampften um das Eine und Einzige, an dem sein Leben hing, das Bekenntnis, die Sühne: bis er das silberne Kruzifix in den Händen hielt, bis er es heraufzog aus dem dunklen Grabe und die bebenden Lippen auf das kühle Erz preßte, das aus Schnee und Erde gnadenvoll schimmerte.

»Mein Herr und Heiland,« stammelte er, »mein geraubter, mein begrabener … vergib mir, was ich dir getan … gekommen bin ich, doch bin ich einmal gekommen … das Kreuz will ich auf mich nehmen, sühnen will ich meine Sünde … Angst habe ich gehabt, so viel Angst, zehn Jahre lang liegen lassen wollte ich dich in deinem kalten Grabe … gerufen hast du nach mir Tag und Nacht, daß ich komme, daß ich zu leiden anfange, bevor ich dein Kleid trage … nun bin ich gekommen, hintragen will ich dich, von wo ich dich genommen habe, bekennen will ich und knien vor dir, bis deine Lippen sprechen: ›Stehe auf und wandle!‹«

Er barg das Kruzifix an seiner bloßen Brust und eilte auf das Feld zurück. Dann fuhr er wieder der Straße zu, die leuchtende Stirn zu den Sternen erhoben, die klingende Seele durch das gewaltige Schweigen tragend, das wie eine dunkle Glocke reglos über ihm hing. Die bloßen Hände hielt er an seine Brust gepreßt, und gerade über seinem Herzen fühlte er den kühlen Querbalken des Kreuzes und den Kopf des Heilandes.

Still lag die Dorfstraße im Sternenlicht. Zwischen schweigenden Gehöften glitt Nyland der Straßenkreuzung zu und sah, um die letzte Hecke biegend, das Tor der Kirche offen stehen, das Schiff im Lichte aufwärtsragen und Kinder mit Tannenbäumen und frischem Grün durch das helle Viereck sich bewegen.

Im Dunkel hielt er, vor der Treppe, im Schatten des Schlittens, der noch voller Tannen lag. Durch die schneebedeckten Zweige starrte er in die Kirche hinein, den leeren Mittelgang entlang, gerade auf den verdämmernden Altar. Wie im Walde traf das Bild der Kindheit ihn mitten ins Herz. Da war die Stelle leer, da hinten, mitten zwischen den schimmernden Leuchtern, und das Kind, stand es nicht auf den roten Stufen und riß den Heiland von der heiligen Stätte? Schrie nicht die Orgel auf in wilder Klage, dröhnten die Fenster nicht, brachen die Wölbungen nicht im splitternden Raum?

Und das Kind … wessen war diese blasse, breite Stirn, wessen war der Blick des Tieres aus verstörten Augen? Und wie es rückwärts fiel vom Altar und an den Bänken entlangglitt, geduckt, gezeichnet, getrieben vom Flüstern des Luftzuges im Orgelgebälk, und nun schoß es hinaus aus dem Tor, und das gehetzte Antlitz sprang ihm entgegen, grauenvoll in seiner Ähnlichkeit und Qual.

Tief in die Weihnachtstannen drückte Nyland seine feuchte Stirn. ›Wenn ich hineinginge‹, dachte er, das Heilandsbild an sich pressend, ›niemand vielleicht würde mich sehen, und ich könnte es wieder hinlegen an seine Stätte … wäre es nicht gut?‹ »Würdest du zürnen?« flüsterte er, die Stirne tiefer in die Nadeln drückend, »würdest du lächeln? Aber sie, das Mädchen, hat sie nicht bekannt? O du Knecht Gottes, o du Elender!« Er glitt ins Dunkel der Kirchenwand, band die Schneeschuhe los und stieg schnell die Treppe zum Pfarrhaus in die Höhe.

Sie saßen in der großen Stube, deren Bild sich traumhaft in seiner Erinnerung erneute. Er blieb an der Türe stehen, die das Mädchen hinter ihm schloß, und blickte geblendet auf den hellen Kreis unter der Hängelampe. Des Pfarrers hohe Stirn unter dem weißen Haar hielt seine Augen wie das Antlitz eines Richters, und nur im Nebel erfaßte er all das andere, das runde Gesicht der Pfarrerin, noch ebenso erhitzt und atemlos wie zu seiner Kinderzeit; die drei Töchter, die ihn geneckt und ihm Äpfel zugesteckt hatten; den blassen, rothaarigen Kopf des Sohnes, vor dem ihm gegraut hatte wie vor einer Spinne; eine schwarzgekleidete Gestalt mit sanft gescheiteltem Haar und roten Händen, der Vikar wahrscheinlich; Mädchen, Schleifen, Armbänder, Christbaumschmuck, an dem sie arbeiteten: es verfloß zu einem großen Glanz von Reinheit und Schweigen, das sich zurückbog vor der beschmutzten Wildheit, die eben durch die Türe getreten war, Schnee im nassen Haar und Erde an den gefalteten Händen.

»Was wünschen Sie?« fragte der Pfarrer, aufstehend. »Wer sind Sie?«

Der Klang seiner Stimme durchfuhr Nyland, so daß er nur tonlos die Lippen bewegen konnte.

»Was ist denn mit Ihnen? Sind Sie krank?« Er schob seinen Stuhl zurück und trat langsam auf ihn zu, während er die Stirne faltete, um dies schmerzliche Antlitz mit den lodernden Augen wiederzufinden in seiner Erinnerung.

Aber Nyland streckte abwehrend die Hand nach ihm aus, sah noch einmal hinter sich wie ein gehetztes Tier, und sank dann in die Knie, den Christus aus seiner Brust reißend und mit gefalteten Händen an die gebeugte Stirn drückend.

»Ich bin Andreas Nyland,« sagte er leise, aber deutlich vernehmbar, »und ich bekenne, daß ich dies Christusbild vor zehn Jahren aus der Kirche entwen … gestohlen habe und im Walde vergraben habe, wo es gelegen hat bis heute.«

Er hörte schreien vor sich, und ihm war vor den geschlossenen Augen, als rausche das Zimmer entsetzt vor ihm zurück, so daß er auf der bloßen Erde kniee, aber er hörte es nur wie das Rauschen eines Flusses im Traum. Denn der Winterwald stand über seinem gebeugten Haupte, er fühlte den Glanz der Sterne durch die Espenzweige dringen, aus der schwarzen Höhle stieg der Heiland empor, die Arme ausgebreitet, die Erde fiel von den Augenlidern, und lächelnd sprach er wie nach der Frage eines Kindes: »Stehe auf und wandle!«

So daß Nyland die Füße des Heilandsbildes küßte, während seine Tränen die Erde vom Leib des Gekreuzigten wuschen.

»Andreas!« Der Pfarrer hob ihn auf. »Komm, fasse dich … sieh, ich sage noch immer du zu dir … ganz wirr hast du mich gemacht … welche Weihnachtstat … komm, erzähle, du bist ja kein Dieb, Andreas … da ist irgendetwas anderes dabei.« Er führte ihn zu seinem Platz und setzte sich neben ihn … »Sieh, Andreas, kennst du sie noch wieder? Fast alle sind sie noch aus deiner Zeit … aber erst erzähle, daß deine Seele ganz leicht wird.« Er streichelte das Heilandsbild, noch immer verwirrt von der Erregung, die in den stillen Abend eingebrochen war.

Nyland aber blickte sie alle an wie ein Auferstandener. Sein Antlitz war erschöpft, noch immer nachbebend in den Qualen seiner Kreuzigung, aber es leuchtete, so daß er nicht wie ein Gerichteter unter ihnen saß, sondern vielmehr, als wollte er das Abendmahl unter sie austeilen, bevor er wieder hinausging in das Schweigen der großen Wälder.

»Ja, ich will erzählen,« sagte er, »wie in einen Kelch will ich es ausgießen, alle Qual dieser Jahre, daß wir ihn ausgießen in die Winternacht, wenn die Hirten auf dem Felde singen, damit auch ihm Friede werde, und dann könnt ihr mich fortführen, ins Gefängnis oder wohin ihr wollt …

Sie kannten meine Mutter, Herr Pfarrer. Sie war eine arme Frau, und ich war ihr liebstes Kind. Sie sagten, daß sie den ganzen Weg nach Golgatha gegangen sei, bevor sie mich gebar. Wenn ich zurückdenke, so ist mir, als sehe ich ihre Dornenkrone. Wir weinten zusammen, und ich weiß, daß ich mich hätte kreuzigen lassen für ein Lächeln von ihrem Munde. Ach, wie schwer und traurig war unsere Welt. Wenn der Wald brauste, wenn die Vögel zogen, wenn das Eis donnerte: wie drängte sich mein Herz nach etwas, das ich nicht kannte. Wenn ich nachdenke, ob einmal die Sonne geschienen hat über einem grasbewachsenen Weg: ich weiß es nicht.

Heute weiß ich, daß sie krank war. Sie hätten mich fortbringen sollen, weit, weit fort. Aber ich war ihnen ja nur eine welke Pflanze. Ich lebte nicht, ich träumte nur, schwere Träume träumte ich. Christus war mein Bruder, beide weinten wir, beide bluteten wir, beide hingen wir am Kreuz.

Und einmal, ich war schon auf der Schule, da waren wir in der Kirche gewesen. Und als die Menschen fort waren, da knieten wir vor dem Altar und sahen auf dies Christusbild. Und meine Mutter drückte mich an ihre Brust und flüsterte: ›Sieh', das ist der, der alle Tränen abwischen kann. Wenn du ihn hast, dann hast du alles.‹

Damit fing es an, Herr Pfarrer. Ich war ein Kind, wirr von Leiden, und als wir gingen, drehte ich mich um. Er sah mich an, die Kerzen brannten noch, und ich sah, wie er die Lippen bewegte und zu mir sprach. Ich versank in diesen Gedanken wie in einem Netz. Ich grübelte, ich fragte, ich lauschte, und von Tag zu Tag wurde es gewisser in mir, daß er meiner Mutter Tränen abwischen würde, wenn ich ihn hätte, ihn besäße als mein eigenes Heiligtum.

Ich war ein Kind, Herr Pfarrer, aber es war eine dunkle Stimme in mir, die mich warnte, ja die mich schmähte und mich zu den Verworfenen stieß, sobald ich daran dachte. Aber das andre war stärker, und eine andre Stimme sprach leise aus dem Untergrunde, wenn diese mich verstieß. ›Mörder,‹ sprach sie ganz leise, ›Muttermörder du!‹

Lange Zeit ging das, Herr Pfarrer, vielleicht ein Jahr, vielleicht zwei Jahre. Die Sonne war ausgelöscht, und alles war Schatten und Nebel. Ich schlich um die Kirche, viele Nächte lang, ich drückte die Stirn an die kalte Mauer, ich kniete am geschlossenen Tor: alles umsonst. Die Stimmen wurden immer lauter, und ich fühlte, wie sie mich zerrissen.

Und dann tat ich es. Hinter der Orgel war ich geblieben, und in der Nacht tat ich es. Und lief nach Hause, gehetzt, in Tränen gebadet, und die eine Stimme war tot. Aber die andre schrie, aus den Bäumen, aus dem Moor, von den Sternen, wie Posaunenklang. ›Dieb!‹ schrie sie. ›Heilandsdieb! Hei … lands … dieb!‹

Ich schlich zu meiner Mutter ins Zimmer, den Christus unter dem Kleid wie heute, um ihre Tränen abzuwischen. Und da … da sah ich … Vater saß an ihrem Bett. Sie hatten ihr die Hände mit einem Handtuch gebunden. Sie erkannte mich nicht. Ihre Augen waren groß, wild, voller Grauen, und mit verzerrten Lippen schrie sie: ›Jesus, mein Heiland, mein Geliebter … den Stein haben sie fortgewälzt … gestohlen haben sie dich … das Schweißtuch … wo bist du? Wo bist du?‹

Sie trugen mich fort, aber meine Arme konnten sie nicht von der Brust lösen, so daß sie den Heiland nicht fanden. Als ich erwachte, war die Mutter schon fort, und das Bild starrte mich an wie ein Kind, das man zu Unrecht straft.

Damals, Herr Pfarrer, vergrub ich es im Zorne. Kinder haben solchen Zorn, wenn ein Wunder nicht eintrifft, wie junge Völker. Aber schon als ich die Erde feststampfte, floß ein tiefes Leid in mich, ein Gram der Enttäuschung und der Hoffnungslosigkeit, und eine schwere Angst, daß ich einem die Heimat nahm, der sich nicht wehren konnte. Als hätte ich eine Hütte verbrannt und die Obdachlosen ins Elend gejagt.

Von da ab trug ich erst das wahre Leid, Herr Pfarrer. Das Leid des Menschen, der seinen Gott begräbt. Jetzt erst erkannte ich, was ich getan. Kirchenraub, das war so, als hätte ich meine Mutter gemordet. Ich hätte es zurückbringen können, aber mir graute, als müßte ich eine Leiche ausgraben. So dunkel war meine Seele, so voll finsterer Wahnideen, daß ich glaubte, der Heiland würde schreien, wenn ich ihn ausgrübe, mich halten und schreien, bis das ganze Land gekommen wäre, um den Mörder zu sehen. Ich konnte nicht, Herr Pfarrer, auch später nicht; denn ein paar Jahre später wußte ich, daß es nicht mehr genügte, zurückzugeben, sondern daß man bekennen mußte.

All das andre, erlassen Sie es mir, Herr Pfarrer. Ich habe viel gebüßt. Nun aber, nach Krieg und Gefangenschaft, nach dem Traum, in den all das Grauen hineingeflossen war, da mußte ich kommen. Einmal dachte ich, die Tiere, wenn ich sie losließe, es würde auch mich erlösen. Aber es war ein Irrtum. Und wie sollte ich Pfarrer werden, wie sollte ich Christum predigen, wenn ich ihn begraben hatte und begraben ließ? So bin ich gekommen, und schon unterwegs wußte ich, daß es der rechte Weg war, denn es gelang mir, einen Menschen vom Leide zu lösen. Nun weiß ich nicht, was Sie tun werden, aber ich werde gehorsam sein und das Kreuz tragen.«

Er schwieg und sah sie alle an, und das Kindliche der Sündenlosigkeit, das von seiner Stirne leuchtete, schuf aus den Bildern des Leidens und des verwirrten Dunkels einen leisen Strom des Friedens, der sie alle umfloß.

Nur der Rotköpfige beugte sich vor über den Tisch, zog den Mund zu einem schiefen Lächeln und sagte mit seiner brüchigen Stimme: »Das sieht dir ganz ähnlich, Nyland … ein bißchen mehr erblich belastet als die andern warst du immer schon. Und unsre gesegneten Vorfahren, die ersten ›Kreuzträger‹, sie haben ja auch den Heiland gestohlen, zum Zwecke des Auferstehungszaubers, nicht wahr? Atavismus, mein Lieber, aber ein interessanter Fall.«

»Schweig!« sagte der Pfarrer hart. »Ich wäre froh, wenn du den Heiland gestohlen hattest, statt deine andren Geschichten zu machen … du aber, Andreas, eine große Freude hast du mir bereitet. Wie ein verlorener Sohn bist du zu deinem Heiland gekommen, ein Kind bist du geblieben, sein Kind, keine Verzeihung brauchst du mehr. Und was du vom Gefängnis sagst … du bist reich an Torheiten, Andreas, an edlen Torheiten, und auch dies ist eine. Erstens ist es längst verjährt, und dann, glaubst du wirklich, du fändest einen Richter, der dich deswegen verurteilte? Ach nein, Andreas, aber ein guter Hirte des Herrn wirst du werden. Und nur vor einem mußt du dich hüten, Andreas, daß du zu nahe am Kreuze stehst, damit sie dich nicht kreuzigen. Denn du bist einer von denen, die die Hände ausstrecken nach den Nägeln und die Stirne nach der Dornenkrone, und das ist nicht gut.«

»Ja, leiden will ich, Herr Pfarrer, und nach diesem, was jetzt gewesen ist, da ist mir, als könnte ich nun erst anfangen, für die andern zu leiden. Losgebunden bin ich jetzt, und jetzt kann ich, wie Sie sagen, meine Hände nach den Nägeln ausstrecken. Ich danke Ihnen, Herr Pfarrer, auch dafür danke ich Ihnen.«

Er stand auf und wandte sich zum Gehen. Sie drängten sich um ihn und griffen nach seinen Händen, als fühlten sie, daß ein schöner Glanz von seiner Gegenwart in ihre Weihnacht fallen müßte, aber er machte sich liebevoll frei.

»Noch nicht,« sagte er glücklich, »noch nicht. Wie sollte ich ein Recht haben, fröhlich unter euch zu sein, wo soviel Jammer auf der Erde liegt? Stark seid ihr in eurem Glück, Hände habt ihr, um zu tun, was zu tun ist. Ihr braucht keinen Knecht. Nur die Einsamen brauchen einen Knecht, die Müden, die neben ihrer Last stehen, und nichts andres will ich fortan sein als ein Knecht Gottes … lebt alle wohl!«


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