Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Klar und hell dämmerte der Wahltag empor und ganz Roma war früh auf den Füßen, denn alles war aufs tiefste interessiert für das Ergebnis des Tages. Schon um sieben Uhr morgens waren die Wahlräume belebt und wurden immer mehr und mehr überfüllt, da Männlein und Weiblein ausschwärmten, um ihre Stimmzettel nach australischem Wahlrecht abzugeben. In der Geschichte der Stadt war es noch nie dagewesen, daß sich so viele Wähler die Mühe genommen hatten, sich an einer Gemeindewahl zu beteiligen.
Die Frauen hatten in sämtlichen Wahlbezirken Kaffeesäle eröffnet, und die Frauen und Töchter der angesehensten Männer der Stadt reichten den duftenden, dampfenden Trank unentgeltlich jedem, der während der Wahlstunden vorsprach. Natürlich achteten sie besonders darauf, daß kein Anhänger oder Mitglied des »Neuen städtischen Reformvereins« vernachlässigt wurde. Es wäre zu viel behauptet, wenn man sagen wollte, daß alle geistigen Getränke verbannt gewesen wären, aber wenigstens waren es die Damen des »Fortschrittlichen Frauenvereins«, die dafür sorgten, daß mancher Mann an diesem Tag nüchtern nach Hause kam und mancher in Versuchung Geratene gerettet wurde.
Die Führer der verschiedenen Parteien waren da und dort und überall und vertraten die Interessen ihrer Kandidaten bald plaudernd, bald überredend, bald zudringlich, oder aber, indem sie eine schwankende Stimme schlechtweg kauften, und gar früh am Tag machten die Frauen die Entdeckung, daß sie – falls sie es mit den Männern aufnehmen wollten – in den Wahllokalen bleiben mußten.
»Was sollen wir tun? Wie sollen wir unsre Streitkräfte verteilen?« fragten sie.
Eben trat Bailey Armstrong in das Kaffeelokal eines der wichtigsten Wahlbezirke.
»Na, jedenfalls etwas und irgendwie,« sagte er, »und zwar sofort. Sam Watts ist überall, dirigiert seinen Ausschuß und seine Kommissionen und kauft Stimmen auf. Auch Morgan und John Allingham sind fest an der Arbeit.«
»Dann ist Herr Allingham also imstande, auszugehen?« erkundigte sich Gertrud, die neben Bailey stand.
»Imstande oder nicht – aus ist er,« erwiderte Bailey, »und jedenfalls lassen sie kein Mittel unversucht, um Stimmen für sich zu gewinnen. Ich denke, Gertie, du solltest dich auch ein wenig selbst an die Arbeit machen.«
»Ja, Gertrud,« sagte Frau Bateman, »das mußt du. Ich werde dich auf der Runde begleiten.«
»Frau Stillman und ich gehen in den Bezirk VII,« sagte Frau Jewett. »Frau Mason und Frau Turner gehen in Bezirk III, und Frau Wenthwort mit Grace Tolman in Bezirk II. Außerdem werden wir auch noch einige andre veranlassen, mitzutun. Sie sind wohl unabkömmlich, Fräulein Snow?«
»Ich schreibe über den Anteil der Frauen an der heutigen Schlacht,« erwiderte Mary Snow. »Ich wollte gerne in jeden Wahlbezirk gehen und helfen, was ich kann – aber meine Zeitung darf ich nicht vernachlässigen. Der ›Atlas‹ will uns heute so viel Raum zur Verfügung stellen, wie wir füllen können.«
»Der ›Atlas‹ ist die ganze Zeit für uns eingetreten,« erklärte Gertrud, »und dadurch haben wir eine Zeitung für uns gehabt und zwar eine vornehme, auf die wir uns verlassen können.«
Es wurde ausgemacht, daß die Frauen sich zu zwei und zwei in jedes Abstimmungslokal begeben und daß diese Gruppen sich alle ein bis zwei Stunden ablösen sollten, so daß Gertrud Van Deusen in jedem Wahllokal gesehen würde.
»Man sollte eigentlich meinen, daß nachgerade Urgroßeltern, Vater, Mutter und Kind auswendig wüßten, wie ich aussehe,« sagte sie lachend in dem Gedanken an ihr ständiges Auftreten auf der Rednerbühne während des Wahlkampfes. »Trotzdem behaupten sie in einigen der entlegeneren Bezirke, die Wähler hätten mein Gesicht noch nie vor Augen gesehen. Nun, jetzt soll ihnen also die Gelegenheit dazu geboten werden.«
Wäre es nicht um die Gertrud von ihrem Vater anererbte und anerzogene Freude an Kampf und Streit gewesen – so hätte Gertrud schon mehr als genug gehabt von Politikern und Politik, und die große, schwache Menschenmasse, die sich bearbeiten ließ wie der Ton in der Hand des Töpfers, machte ihr ganz übel. Denn trotz der wahren, lebhaften und einsichtigeren Bürgerschaft waren doch auch die Schmarotzer und das Gesindel, das blindlings einer Partei folgte, vorhanden – Männer, die keinen Bürgersinn, nicht das leiseste Pflichtgefühl hatten und sich ganz ohne Kraft und Saft dahintreiben ließen, – Männer, die es als ganz selbstverständlich ansahen, daß sie ihre Stimme öffentlich verkauften.
»Was wollt ihr Weiber mir zahlen, wenn ich für euch stimme?« fragte eines dieser moralischen Wracks Frau Bateman. »Burkes Bande hat mir zwei Dollars gegeben, wenn Sie aber drei sagen, so stimme ich für Ihre Kandidatin.«
»Wir kaufen keine Stimmen, mein Herr,« erwiderte die Gattin des Richters. »Wir haben keine Achtung vor einem Mann, der seine Stimme verkauft. Aber als Entgelt für Ihre Stimme bieten wir Ihnen das Bewußtsein, daß Sie ein wahrer Mann unter Männern sind, daß Sie das einzig Rechte und Ehrenhafte tun und dazu helfen, eine unbestechliche, ehrenhafte Stadtverwaltung in Roma zu begründen. Ist Ihre – Mannesehre Ihnen nicht mehr wert als zwei oder drei Dollars?«
»Wohl,« sagte der Mann nach einem Augenblick der Sprachlosigkeit, »ich will verdammt sein, wenn sie's nicht ist! So oder so – ich werde jetzt meine Stimme für Ihre Kandidatin abgeben,« was er auch tat, wenn auch in einer etwas angetrunkenen und weinerlichen Weise.
Im Wahlbezirk III standen sich Miß Van Deusen und John Allingham plötzlich von Angesicht zu Angesicht gegenüber. Es war natürlich für beide ein Augenblick der Verlegenheit. Gertrud wurde wohl rot, aber sie trug den Kopf hoch und sagte mit so viel Herzlichkeit: »Guten Morgen!«, daß Allingham mehr in Verlegenheit geriet als je zuvor.
Die ganze Nacht hatte er nur mit Unterbrechung geschlafen und sich in den durchwachten Stunden mit Selbstvorwürfen überhäuft, daß er seinen Namen zu dieser Wahl hergegeben hatte. Wenn er schlief, fuhr er wieder an Gertruds Seite durch die herrliche Winternacht und Gertrud Van Deusen sprach mit ihrer melodischen Stimme über Dinge, die von Roma und seiner schmutzigen Politik weit entfernt waren. Ihre beweglichen Züge, ihre wie Sterne leuchtenden Augen, der zarte Duft, der sie umschwebte, verließen ihn nicht, und wenn er dann erwachte, kam es ihn hart an, die liebe Erinnerung beiseite zu schieben und seine Gedanken zu sammeln für den Kampf, den er heute gegen sie bestehen mußte. An der Stellung war ihm an und für sich gar nichts gelegen, aber mehr wie je wünschte er, daß sie sie nicht erlangen sollte. Dies schöne und anmutige Weib, wie er bei sich selber dachte, mit solch seltenen Gaben des Geistes und der Seele ausgestattet – sie mußte daran verhindert werden, sich mit der schmutzigen Maschinerie von Romas Stadtverwaltung zu besudeln. Sie war mißleitet, war von den andern Frauen, unweiblichen Stimmrechtlerinnen, zur Annahme der Kandidatur gedrängt worden. War es nicht seine Pflicht, hinauszutreten in die Öffentlichkeit und an ihrer Niederlage zu arbeiten?
Und so stand er denn auf und kleidete sich an und ging aus trotz des kläglichen Widerspruchs seiner weiblichen Angehörigen, die ihn mindestens eine Woche im Bett halten und pflegen wollten – er schritt hinaus, die Stirne schön bepflastert und das Herz ein Spielball der widerstreitendsten Gefühle.
»Hat Ihnen die Fahrt gar nicht geschadet?« fragte er Gertrud. »Sind Sie sicher ganz unverletzt?«
»Ganz unverletzt,« gab Gertrud lachend zurück, »nicht die kleinste Schramme ist an mir zu entdecken. – Aber Sie – Ihre Verletzungen müssen Ihnen doch noch weh tun, denn man hat Ihnen gestern nacht übel mitgespielt. Dürfen Sie denn eigentlich ausgehen?« Und dann errötete sie tief, weil ihr plötzlich wieder einfiel, daß er ja doch nur ausgegangen war, um sie zu bekämpfen.
»O, es geht mir ganz ordentlich,« erwiderte er, »nur diese Pflaster sind schuld daran, daß es schlimmer aussieht, als es in Wahrheit ist. Sobald diese Wahl vorüber ist, werde ich aber herauszubringen suchen, wer eigentlich hinter diesem teuflischen Anschlag steckte.«
»Das wirst du nie herausbringen,« warf Bailey Armstrong ein, der in diesem Augenblick zufällig herantrat. »Das ist wieder mal eine von Burkes schmutzigen Geschichten, aber die Kerls haben ihre Spuren ausgezeichnet verwischt. Ich habe schon heute früh Erkundigungen eingezogen – es gibt in der ganzen Stadt keinen einzigen Autotaxameter.«
»Dann sind die Wagen von Bonborough oder Plattsville herübergekommen,« meinte Allingham, »dort gibt's eine Menge.«
»Ja, das wohl,« gab Armstrong zu, »aber die Wahrheit werden wir doch nie erfahren, denn der Streich war so vorzüglich vorbereitet, daß es für die Verbrecher eine Kleinigkeit ist, sich vor Entdeckung zu schützen.«
Ein Schwarm Wähler, der eben eintrat, bereitete der Unterhaltung ein jähes Ende, und Gertrud sah ihren Widersacher den ganzen Tag nicht mehr.
Um sechs Uhr abends lag sie auf dem Ruhebett in ihrem eigenen Zimmer, zu Tode erschöpft von den Erfahrungen des Tages, denn obgleich sie geglaubt hatte, in politischen Dingen ganz auf dem Laufenden zu sein, hatte ihr dieser Tag doch manche neue Enthüllung gebracht.
»Weißt du, Jessie,« sagte sie zu ihrer Cousine, »ich denke, wir werden wohl noch erfahren, wie es um mich steht, ehe wir zu Bett gehen. Ich habe heute aber so viel gesehen und gehört über den Zustand unsrer Stadtverwaltung, daß ich – dir will ich es im Vertrauen gestehen – von ganzem Herzen und in allem Ernst hoffe, geschlagen zu werden. Mag John Allingham Bürgermeister werden – meinen Segen hat er dazu. Ich habe genug davon gesehen, und ich gestehe dir ehrlich, daß es mir ganz übel davon geworden ist.«
»Und wenn nun Barnaby Burke als Sieger aus dem Wahlkampf hervorgeht?« fragte Jessica.
»Nein, um dies zu wünschen, bin ich doch nicht entmutigt genug,« erwiderte Gertrud. »Aber doch – unter uns gesagt – verlangt mich nicht mehr nach dieser Sisyphusarbeit. Aber selbst wenn ich durchfalle, wird es mir immer eine angenehme Erinnerung sein, wie all die armen Leute für mich eingetreten sind, und ebenso, daß ich jetzt weiß, welche von meines Vaters alten Freunden ich auch für die meinigen halten darf. Und jetzt muß ich vor dem Essen noch ein kleines Nickerchen machen.«
Im »Neuen Reformverein« warteten Richter Bateman und seine Freunde auf das Ergebnis der Zählung, und ihnen hatten sich auch die über die Maßen begierigen Mitglieder des Fortschrittlichen Frauenvereins zugesellt. Der Union Klub, die Gasthöfe und Burkes Hauptquartier waren überfüllt, während sich John Allingham und sein Anhang in den Bureaus des Bürgervereins zusammenfanden. Die Nachrichten liefen nur langsam ein und die Menge in den Straßen verlangte neue Meldungen, immer lauter und viel schneller, als sie ausgegeben werden konnten.
Um zehn Uhr waren John Allinghams körperliche Kräfte so erschöpft, daß er sich zurückziehen und heimgehen muhte. Der Unglücksfall am Abend vorher in Verbindung mit der Aufregung, die der Wahltag mit sich gebracht hatte, war zuviel für ihn gewesen. Er war schon zu Bett, als ihm das Endergebnis telephonisch mitgeteilt wurde. Dann schloß er sich ein und weigerte sich, an diesem Abend noch mit seiner Mutter oder sonstwem ein Wort zu reden, ja, er gab seiner Mutter nicht einmal Antwort, als sie zu ihm heraufkam, um zu fragen, ob er auch die vom Arzt verordnete Arznei eingenommen habe.
Auch Gertrud Van Deusen blieb allein in ihrem Schlafzimmer. In dem Augenblick, der über ihren Sieg oder ihre Niederlage entscheiden sollte, konnte sie niemand sehen. Sie war zu müde, um sich viel darum zu kümmern, ob sie gesiegt oder verloren hatte, obgleich sie es jetzt als ein gutes Vorzeichen ansah, daß noch jedes Amt, um das sie sich bei einem der vielen Frauenvereine, deren Mitglied sie war, beworben hatte, ihr auch übertragen worden war.
»Mag John Allingham die Stelle nehmen, wenn er sie kriegen kann,« wiederholte sie für sich selbst wohl zum fünfzigsten Male, als die Standuhr auf ihrem Kamin halb elf Uhr schlug. »Ich befinde mich in einer sonderbaren Gemütsverfassung – ich hoffe, ich werde unterliegen.«
Aber gerade in diesem Augenblick ertönten im Treppenhaus lachende und plaudernde Frauenstimmen, die sie aus ihrem Sinnen aufscheuchten – und deutlich zuckte das Gefühl des Sieges durch ihr Gehirn.
»Ein Hurra für Romas weiblichen Bürgermeister!« rief die erste, die eintrat. »Ein Hurra für Ihre Ehren den Bürgermeister!«
Im nämlichen Augenblick sagten Allingham und Burke zu sich selbst: »Geschlagen! und durch ein Weib!«
Und Burke setzte noch hinzu: »Ich möchte doch für mein Leben gern wissen, was gestern nacht in dem Auto geschehen ist. Das war ein plumper Mißgriff!«