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Gerade zwei Jahre nach dem Frühstück des »Fortschrittlichen Frauenvereins«, bei dem die Aufstellung eines weiblichen Kandidaten beschlossen worden war, versammelte sich der geschäftsführende Ausschuß wieder, um das Winterprogramm festzustellen. Seit Monaten befand sich Gertrud zum ersten Male wieder im Kreise ihrer Freundinnen. Sie hatte auf den Besuch des Vereins monatelang verzichten müssen, da sie durch ihre Pflichten auf dem Rathaus zu sehr in Anspruch genommen und diese mit echt weiblicher, auch ins kleinste gehenden Gewissenhaftigkeit zu erfüllen bestrebt war.
»Nun,« sagte Frau Mason, die in diesem Jahr Vorsitzende war, »wenn wir auf das letzte und vorletzte Jahr zurückblicken, können wir mit herzlicher Freude auf manches Langerstrebte, endlich Erreichte zurückblicken. In der Tat haben wir uns in der Stadt eine mächtige Stellung erobert.«
»Ja,« sagte Frau Bateman, »wir sind jetzt ein Faktor in den öffentlichen Angelegenheiten. Der Vorstand des Bürgervereins war kürzlich bei mir, um zu fragen, was wir in politischen und städtischen Angelegenheiten auf unser Winterprogramm geschrieben hätten.«
»Sie wissen, daß sie ohne uns gar nichts machen können,« sagte leise die aufgeregte Frau in einem neuen blauen Kleid. »Wenigstens sagt das mein Rudolf.«
»Das ist auch kein Wunder, wenn man heute unsre Stadt ansieht. Wir haben Marktinspektoren, haben Animierkneipen und noch schlimmere Orte vertrieben; im städtischen Schulrat sitzen zwei unsrer Mitglieder, die Straßenreinigung ist in Ordnung gebracht, wir haben Ferienkolonieen und Spielplätze geschaffen – und den Bürgermeister gewählt.«
»Und durch die Wahl unsres Bürgermeisters haben wir die Stadtverwaltung von aller Bestechlichkeit und Parteilichkeit gesäubert,« fügte Frau Turner ergänzend hinzu, »denn wenn Burke gewählt worden wäre, so hätte alles nur noch schlimmer kommen müssen. Und was Allingham betrifft – na, so fürchte ich, hätte er eben auch dem bequemen männlichen Grundsatz des › laissez faire‹ gehuldigt.«
»O, ich bin überzeugt, Herr Allingham hätte seine Pflicht so gut erfüllt wie ich,« erklärte Gertrud, die jetzt zum ersten Male das Wort ergriff. »Er ist sowohl furchtlos wie gewissenhaft, und sobald er eine Spur der Bestechungen entdeckt hätte, würde er sie auch mit allem Mut und aller Klugheit angegriffen haben – und vermutlich mit weniger peinlichen Folgen denn ich,« fügte sie lächelnd hinzu.
»Das glaube ich nicht,« entgegnete Frau Bateman. »Er hat sich ja prachtvoll gemacht, aber es bedurfte erst deiner, Gertrud, um ihn zu erziehen.«
Rasch blickte Gertrud auf. Der kleine Zwischenfall auf der Brücke war niemand erzählt worden – sollte trotzdem jemand Mißtrauen hegen?
Aber gelassen fuhr Frau Bateman fort: »Es gibt Tausende von an sich tüchtigen Männern, denen man erst die Augen öffnen muß, damit sie einsehen lernen, was wir Frauen dazu beitragen können, eine Stadt von innerem und äußerem Schmutz zu säubern. Mann und Frau müssen beide zusammenwirken, um ein ideales Heim zu schaffen – warum sollen sie nicht auch gemeinsam eine ideale Stadt begründen?«
»Werden wir die Ehre haben, dich kommenden Winter wieder wählen zu dürfen, Gertrud?« fragte Frau Mason. »Dürfen wir dies bekannt geben?«
»Schwerlich,« entgegnete Gertrud. »Ich habe meine Pflicht voll erfüllt. Ich habe für meine Vaterstadt zwei Jahre lang so angestrengt gearbeitet, als es mir irgend möglich war. Ich bin ja eigentlich nur als ›Verlegenheitskandidatin‹ aufgetreten, aber jetzt werden wir ohne Mühe einen passenden Kandidaten finden. Zwar darf ich seinen Namen noch nicht nennen, aber das kann ich euch sagen, daß schon einer in Betracht gezogen wird.«
»O, das wäre ja eine Schmach und eine Schande, wenn unsre Männer einen Gegenkandidaten aufstellen würden,« rief die aufgeregte Dame in Blau, »nachdem du mit so glänzendem Erfolg in die Bresche gesprungen bist. Niemals, niemals wird mein Mann da mittun!«
»Rege dich nicht unnötig auf, Bella,« beschwichtigte sie Gertrud. »Ich kann euch auch ebensogut mitteilen, daß ich zu meinem großen Stolz vom Wahlausschuß der republikanischen Partei bereits aufgefordert worden bin, eine Wiederwahl anzunehmen –«
Allgemeines Beifallklatschen unterbrach sie.
»Aber je mehr ich es mir überlege, um so mehr fühle ich, daß es das einzig Richtige von mir war, nein zu sagen,« fuhr sie fort, als wieder Ruhe eingetreten war. »Ich bin mir ganz klar darüber, daß ich ein Versuchskarnickel war, meinetwegen ein gelungenes, wenn ihr wollt, aber ich bin der Ansicht, daß es immerhin besser wäre, jetzt zur Abwechslung normalerweise vorzugehen und wieder einen Mann zum Bürgermeister zu wählen.«
»Wohl, aber dann muß es ein ganz vorzüglicher Mann sein,« sagte Frau Stillman, »und einer, der die Geschäfte in deinem Geist weiterführt. Ich kenne auch mehrere, die dazu bereit wären, jetzt, nachdem du die Herkulesaufgabe erfüllt hast, die Augiasställe rein zu erhalten.«
»Eher als ich einen Demagogen an meiner Stelle sähe, würde ich versuchen, sie mir selbst zu erhalten,« antwortete Gertrud. »Aber jetzt, wo wir so tüchtige Männer auf dem Rathause haben, ist eine Frau nicht mehr vonnöten. Ich verlange eure Unterstützung für meinen Nachfolger, dessen Name in einigen Tagen bekannt gegeben werden soll, obgleich er meines Wissens bis jetzt noch nicht zugesagt hat. Tut er es aber, so müßten wir alle für ihn tätig sein, und dann kann ich mich – Gott sei Dank! – wieder ins Privatleben zurückziehen!«
»Willst du am Ende gar Mary Snows Beispiel folgen?« fragte die aufgeregte Frau in Blau. »Mein Mann sagt, sie seien das glücklichste und am besten zusammenpassende Ehepaar, das er je gesehen habe.«
»Da hat dein Mann sehr recht, Bella,« erwiderte Gertrud. »Aber nun, meine lieben Freundinnen, muß ich mich verabschieden – es warten noch dringende Arbeiten auf mich.«
Als das Fräulein Bürgermeister das Zimmer verlassen hatte, fragte Bella: »Glaubt ihr, daß sie die Wahl als nächste Vorsitzende unsres ›Fortschrittlichen Frauenvereins‹ annehmen würde?«
»Ganz gewiß nicht,« erwiderte Frau Bateman. »Was kann für eine Frau, die Stadtvorstand war, die Vorstandschaft unsres kleinen Vereins für einen Wert haben? Laßt sie die Ruhe genießen, die sie sich so reichlich verdient hat und deren sie auch bedarf. Ich finde, sie sieht sehr angegriffen und bleich aus.«
»Kein Wunder! Ich wollte nur, sie heiratete einen recht netten Mann,« entgegnete die unverbesserliche Bella.
»Es gibt keinen, der gut genug für sie wäre,« erklärte Frau Mason kurz und bündig. »Aber jetzt, meine Damen, wollen wir unsre geschäftlichen Angelegenheiten erledigen.«
*
Als Gertrud ihr Amtszimmer betrat, fand sie John Allingham vor, der auf sie wartete. Seit Monaten hatte sie ihn nur für Augenblicke allein gesehen, jetzt aber sagte er: »Ich möchte Sie einige Minuten allein sprechen, gnädiges Fräulein!« Worauf die wohlerzogene Stenographin sofort das Zimmer verließ und die Türe hinter sich zuzog.
»Bitte, was soll das heißen, daß Sie Ihr Amt niederlegen wollen – das dürfen Sie nicht tun,« begann er das Gespräch.
»Darf ich nicht?« fragte sie zurück.
»Unter gar keinen Umständen!« erklärte er entschieden. »Sie haben jetzt alle Geschäfte so gut in Ordnung gebracht, daß sie wie am Schnürchen laufen, alles hat sich unter Ihren Händen verbessert und verschönert – es wäre nicht recht, wenn Sie jetzt die Arbeit niederlegen würden.«
»Doch, es ist recht,« entgegnete sie, »und es ist an der Zeit, daß Sie an meine Stelle treten.«
»Das kann ich nicht, und ich hege auch gar nicht den Wunsch, Bürgermeister zu sein. Sie haben bewiesen, in welchem Maße Sie für die Stelle geeignet sind. Sie haben gezeigt, was ein Weib vermag – nun bleiben Sie auch bei der Stange.«
»Nein,« gab sie zurück, »ich wünsche jetzt zu sehen, was Sie leisten können. Der Wahlausschuß hat Sie doch aufgefordert, sich zur Wahl zu stellen?«
»Ja – aber Sie sollten noch zwei weitere Jahre daran wenden, das begonnene Werk zu Ende zu führen. Sie sehen, daß sich meine Anschauungen über eine Frau als Stadtvorstand völlig geändert haben.«
»Ja, und ich danke Ihnen dafür,« erwiderte sie schlicht. »Aber nun will auch ich Ihnen offen meine Meinung sagen. Die Einsetzung einer Frau als Stadtvorstand war ein Experiment, und der neue Besen hat gut gekehrt, und im großen und ganzen sind die Leute mit ihm zufrieden, allein das einzig und natürlich Richtige ist, daß ein Mann an der Spitze einer Stadt steht. Unter uns gesagt, so hat Mutter Natur von vornherein den Mann dazu bestimmt, den Gefahren die Stirne zu bieten und sie abzuwehren – das ist nie und nimmer die Aufgabe der Frau. Wenn auch jetzt die Bürgerschaft von meiner Tätigkeit befriedigt ist, so wird früher oder später der Wunsch wiederkehren, einen Mann an der Spitze zu haben – und darauf folgt dann die Unzufriedenheit. Also lassen Sie mich gehen, solange man mein Scheiden noch bedauert. Ich werde zeitlebens dankbar sein für die Erfahrungen, die ich während dieser zwei Jahre sammeln durfte, aber weitere will ich nicht machen.« Sie lächelte ihn an. »Ich bin mehr als froh, wenn ich zurücktreten kann, aber nicht nur, weil die Last schwer ist und weil ich anfange, selbstsüchtig zu werden, sondern auch, weil ich Sie für den einzig richtigen Mann für Roma halte.«
»Wenn Sie es also ernstlich wünschen, werde ich meine Zusage geben.« Er stand auf, um sich zu verabschieden. »Wenn wir nur nebeneinander stehen könnten,« sagte er dann. »Mit Ihnen zur Seite –«
Gertrud unterbrach ihn mit den Worten: »Bitte, lassen Sie dies – wir würden uns nie verstehen!« Damit drückte sie auf die Glocke, um die Stenographin herbeizurufen, und Allingham wandte sich zum Gehen.
»Gestatten Sie mir noch,« fügte sie, gerührt von seinem Gesichtsausdruck, hinzu, »Ihnen herzlich für Ihre unschätzbare Arbeit zu danken! Sie haben es als Vorstand des Straßenbauamtes fertig gebracht, gleichzeitig unsre Straßen zu verschönern und zu verbessern und die Kosten zu verringern.«
»Das war nicht schwer,« entgegnete er, »nachdem seit langen Jahren auf das Gegenteil hingearbeitet worden ist. Ich bin im Begriff, die neue Straße zu besehen, die hinter Ihrem Anwesen hingeführt wird – leider können wir einige Sprengungen nicht vermeiden.«
»Um so malerischer wird es sein, wenn dann die Straße fertig ist,« erwiderte sie. »Guten Tag und tausend Dank für das, was Sie mir versprochen haben.«
*
»Herrgott,« sagte sie zu sich selbst, als er hinausging, »ob ich es wohl werde aushalten können! Hätte er noch ein Wort weiter gesprochen, was er gottlob nicht tat, so hätte ich klein beigegeben.«
Aber sie wußte, daß er eines Tages noch einmal anfragen und daß sie dann »Ja« sagen würde.