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Einundzwanzigstes Kapitel.
Ein Lebenszeichen von den Verschwundenen

Es muß bei den Nachforschungen irgend etwas faul sein,« sagte Bailey zu Allingham, »jedenfalls ist kein Zug in der Sache.«

»Ich glaube, der Grund ist der, daß kein eigentlicher Vorstand die Tätigkeit des Ausschusses leitet,« erwiderte Allingham. »Blatchley scheut sich, gegen Manns Willen etwas vorzunehmen, oder wartet wenigstens, bis unser gegenwärtiger Stadtvorstand die Sache fördert.«

»Was dieser nie tun wird,« gab Bailey zurück, »es liegt ihm nicht – und außerdem –«

»Ich weiß, was du meinst,« unterbrach ihn Allingham, »du brauchst es gar nicht in Worte zu kleiden. Aber es müssen energischere Maßregeln ergriffen werden als bisher.«

»Da hast du ganz recht,« meinte Armstrong, »fragt sich nur: was ist zu tun?«

»Die Bürgerschaft fängt an, aufgeregt und kritisch zu werden,« sagte Allingham, »warum sollte man da nicht eine neue Massenversammlung einberufen und die Leute bestimmen, gründlichere Nachforschungen zu verlangen?«

»Ein guter Gedanke!« stimmte Bailey zu. »Wir wollen es mit Mason, Turner und Jewett besprechen und sehen, ob wir Mann nicht ein bißchen in Aufregung versetzen können.«

Die beiden Herren hatten im Klub zusammen gegessen und nachher in dem gutgehaltenen Garten ihre Zigarre geraucht und zusammen geplaudert.

»Da schlägt es eben drei Uhr,« sagte Bailey, »und ein Viertel nach drei Uhr habe ich eine Besprechung – also auf Wiedersehen!«

»Ich muß auch gehen,« sagte Allingham und begleitete Bailey bis zu seinem Bureau die Straße hinab. Dort angelangt, hängte er seinen Hut an den Nagel und zog an Stelle seines Gehrocks einen leichteren an, worauf er sich an seinen Schreibtisch setzte und anfing, einen Haufen neu eingelaufener Briefe zu öffnen. Es war ein heißer Tag; Allingham las seine Briefe in aller Gemächlichkeit und versah sie mit Randbemerkungen, nach denen seine Sekretärin sie beantworten sollte, wenn sie am nächsten Morgen kam. Dann stützte er seine Ellbogen auf den Tisch und seinen Kopf in die Hände, wie er zu tun pflegte, wenn er einen Augenblick ruhig nachdenken wollte, ehe er seine Arbeitsräume für den Rest des Tages abschloß. An diesem Tag waren seine Gedanken fast ausschließlich mit dem Verschwinden Gertruds beschäftigt, das ihn noch mehr als sonst bekümmerte.

»Da steckt irgendeine höheren Orts ausgeheckte ganz niederträchtige Teufelei dahinter,« sagte er zu sich selbst, »denn sonst würden diese Nachforschungen anders betrieben. Wir sollten herauszubringen suchen, was in Herrn O. H. Manns kleiner Seele vor sich geht. – Holla, was ist denn dies?«

In diesem Augenblick wehte der Wind durch das offene Fenster ein Stückchen zerknittertes Papier auf seinen Schreibtisch, gerade unter seine Augen. Für gewöhnlich hätte er den Papierfetzen einfach in seinen Papierkorb geworfen, aber jene geheimnisvolle Macht, die uns immer leitet, wenn wir etwas Unerwartetes und Ungewöhnliches tun, hielt seine Hand auf, und die halbverwischte Schrift erregte seine Aufmerksamkeit.

gefangen im höchsten Stock
Häuserviereckes. Sonst wohl, aber
kommt an die Ecke
Straßen und befreit
Gertrud
Mary S

»Gerechter Himmel!« rief Allingham. »Da wird sie irgendwo in der Nachbarschaft – oder war es wenigstens, als dies geschrieben wurde! Kein Datum, kein Anhaltspunkt, wo und wann sie dies schrieben! Echt weiblich! Nun – immerhin gibt dies endlich einen Anhaltspunkt – Gott sei Dank dafür!« Er drehte das Stückchen Papier nach allen Seiten, ohne weiteres zu entdecken; er hielt es gegen das Licht, um womöglich die ergänzenden, total verwischten Worte herauszubringen, aber alles war umsonst.

»Halt einmal: heute ist's Donnerstag. An welchem Tag hat es so stark geregnet? Am Dienstag? Nein, am Sonntag! Dann ist dieser Zettel vorher geschrieben, ist irgendwo dem Regen ausgesetzt gewesen, der die Bleistiftworte verlöscht hat. Dann ist er an der Sonne wieder getrocknet, und der Wind hat ihn erfaßt und zu mir heraufgetragen! Gesegneter Wind!«

Er trat ans Fenster und blickte auf die Straße hinunter. Er hatte zwei Zimmer, von denen das eine ein kleineres Hinterzimmer war und auf einen Hof hinausging, aber dies Stück war unter seinen Augen von der Straße hereingeflogen. Forschend betrachtete er das Häuserviereck gegenüber: vielleicht war sie dort. Große Läden nahmen die untern Stockwerke ein – aber die obern schienen Wohnungen zu enthalten. Wie, wenn sie sich in diesem Augenblick dort befände? Oder am Ende hier im Hause, unter einem Dach mit ihm?

Dieser Gedanke elektrisierte ihn förmlich, und er ging hinaus, indem er die Tür hinter sich abschloß. Es war ein Fahrstuhl vorhanden, in den er trat, um sich ins oberste Stockwerk befördern zu lassen, denn »oberstes Stockwerk« stand ja auf dem Zettel. Mit dem Gefühl eines Diebes oder Detektivs schlich er sich auf seiner Entdeckungsreise durch die Gänge entlang. Aber die Zimmer waren alle von Schneidern und andern Handwerkern bewohnt, und die Türen standen alle so gastfreundlich offen, daß er die Leute gar nicht störte und wieder hinunterging. Dann kam ihm der glückliche Gedanke, an den Polizeidirektor und Bailey Armstrong zu telephonieren.

Dem ersteren sagte er: »Wenn Sie sofort zu mir kämen, könnte ich Ihnen nicht nur eine wichtige Mitteilung machen, sondern Ihnen auch eine Andeutung über eine Lokalität geben, von der Sie wahrscheinlich keine Kenntnis haben. Ich habe möglicherweise den Schlüssel im Besitz.«

»In einer Viertelstunde werde ich bei Ihnen antreten,« erwiderte der Beamte, der kein Stäubchen von der Würde seiner Stellung preisgab.

Zu Bailey sagte Allingham nur: »Komme sofort zu mir, ich habe dir etwas Bestimmtes und Wichtiges zu sagen und zu zeigen. Aber kein Wort weiter durchs Telephon.«

Nach fünf Minuten kam Bailey atemlos hereingestürzt. »Was gibt's?« keuchte er.

»Lies dies,« sagte Allingham nur, gab ihm das Papier in die Hand und berichtete, wie es in seine Hände gekommen war.

Noch bevor er mit seiner Erzählung zu Ende war, erschien der Polizeidirektor, und da mußte er seinen Bericht wieder von neuem beginnen.

Als er damit zu Ende war, fragte er: »Und was ist nun das Erste und Dringendste, was wir zu tun haben?«

»Uns organisieren,« erwiderte der Polizeidirektor, »und mit einigen zuverlässigen, handfesten Männern diesen Teil der Stadt gründlich absuchen. Wir sind bisher von der falschen Voraussetzung ausgegangen, daß sich die beiden Damen in einer der Vorstädte oder einer ganz andern Stadt befinden.«

»Und vermutlich haben sie sich die ganze Zeit dicht unter unsern Nasen befunden.«

»Oder vielmehr über denselben,« meinte der Polizeidirektor weise. »Sie sagten doch, sie seien bis ins oberste Stockwerk gestiegen.«

»Ja, hier im Hause können sie nicht sein, wenigstens nicht im obersten Stock, aber gegenüber befinden sich auch noch Wohnungen.«

»Wir werden sie alle untersuchen, wenn es nötig ist,« entgegnete der Polizeidirektor. »Was halten Sie davon, wenn ich heute nacht mit einem Dutzend Polizeibeamter in Zivil hierherkomme, um Sie beide abzuholen, und wir uns dann in aller Stille zwischen neun und zwölf Uhr hier in der Gegend umsehen?«

»Famos!« sagte Armstrong.

»Ich werde meine Kanzlei von halb neun Uhr an offen halten.«

Gleichwohl erschien das Polizeioberhaupt erst ein Viertel vor neun und begrüßte Allingham und Bailey vertraulich.

»Aber um Gottes willen, wo sind denn Ihre Leute?« fragte Allingham, voller Angst, der Polizeidirektor habe mittlerweile den Mut verloren.

»Aber Sie werden doch nicht gedacht haben, ich werde den Verdacht der ganzen Nachbarschaft dadurch erregen, daß ich mit einem Trupp bewaffneter Macht anrücke?« gab der Beamte zurück. »Sie sind rund um den Platz verteilt und schnuppern in aller Stille überall herum. Entdecken sie was, dann kommt es uns gelegen genug. Auch wir werden wohl daran tun, zuerst in der Nachbarschaft ein wenig herumzubummeln. Wir gehen zuerst in Ehrlichs Spezereihandlung und trinken ein Glas Sodawasser. Dort werden einige meiner Leute zufällig zu uns stoßen. Später gehen wir in die Schenkwirtschaft gegenüber, und ehe wir diese verlassen, werden alle meine Leute bei uns oder vor dem Gebäude sein – einverstanden?«

Und so geschah's. Allein vorher waren mehrere der Polizeibeamten in die verschiedenen Häuserkomplexe gedrungen, doch ohne etwas zu erfahren. Mehrere friedliche Familien wurden durch die Erscheinung sonderbarer Persönlichkeiten mit sonderbaren Anliegen überrascht, aber es ließ sich keine Spur finden. Es wurde schließlich nur festgestellt, daß weder in dem Häuserviereck gegenüber der Kanzlei Allinghams, noch in dessen Hause entführte Frauen zu finden waren. Sie gingen in jedes Häuserviereck, das nicht nach der Straße hin verschlossen war, und untersuchten jedes Stockwerk, doch ohne den mindesten Erfolg. Diese Untersuchung währte bis zwölf Uhr, wo die Beamten in Zivil in aller Stille verschwanden und nach Hause gingen.

»Morgens werden wir die Häuser untersuchen, in die wir des Nachts nicht unbemerkt hineinkommen können. Befindet sich nicht ein Wohnhaus hinter dem Hausviereck hier?«

»Das weiß ich nicht,« erwiderte Allingham, »denn ich gehe nie durch die Collinsstraße. – Doch halt, da sind doch eine oder zwei Mietskasernen. Heute nacht sind wir nicht dort gewesen.«

»Na, na, alles zu seiner Zeit,« antwortete der Polizeigewaltige. »Der Zettel ist, wie Sie ja sagen, zu Ihrem Vorderfenster hereingeflogen. Es ist doch nicht wahrscheinlich, daß er diesen Weg von einer hinter Ihnen liegenden Straße eingeschlagen hat?«

»Davon bin ich nicht so fest überzeugt,« brummte Bailey, und als der Polizeidirektor gegangen war, setzte er hinzu: »Ehe ich nach Hause gehe, werde ich mich noch in die Collinsstraße schleichen und einen Lokalaugenschein nehmen. Kommst du mit?«

»In einer Minute bin ich bei dir,« erwiderte Allingham. »Ich bin nicht sicher, daß ich die hinteren Fenster meiner Kanzlei geschlossen habe. Warte auf mich.«

»Nein, ich werde da herumbummeln,« erwiderte Bailey. »Du kannst mich in der kleinen Spezereihandlung an der Ecke treffen.« Er ging fort und sein Freund stieg in seine Kanzlei hinauf. In der Absicht, nur einen Blick hineinzuwerfen und alles für die Nacht in Ordnung zu bringen, öffnete er die Türe so leise wie möglich, aber –

Da stand unter dem strahlenden elektrischen Licht niemand anders als – Gertrud Van Deusen.


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