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Eine gewaltige Aufregung bemächtigte sich der Bürgerschaft, als sie in den Morgenblättern in Riesenbuchstaben las:
» Der Stadtvorstand ist gefunden!«
Noch vor den beiden Damen waren Zeitungsberichterstatter im Van Deusenschen Hause eingetroffen und ließen sich nicht vertreiben, ehe sie die – ihrer Ansicht nach äußerst einfache – Geschichte von der zehntägigen Gefangenschaft berichtet erhalten hatten. Die Setzer warteten, bis die Tatsachen entsprechend zurechtfrisiert waren, und eine Zeitung wetteiferte mit der andern, um den längsten und packendsten Bericht zu bringen.
Es wollte fast unglaublich erscheinen, daß zwei der hervorragendsten Damen der Stadt in deren Mitte zehn Tage verborgen und gefangen gehalten worden waren – und doch war es geschehen. Und ebenso unglaublich wollte es erscheinen, daß sich auch jetzt, nachdem sie ihren Freunden und der Bürgerschaft wieder zurückgegeben waren, kein Anhaltspunkt über die Täter finden lassen wollte.
»Das ist der erfolgreichste Schurkenstreich, der je verübt worden ist,« versicherte der »Atlas«, »und niemand hätte etwas derartiges für möglich gehalten. Der Stadtvorstand hat zehn Tage lang kein menschliches Wesen gesehen außer Fräulein Snow und keines andern Menschen Stimme vernommen. Kein Detektiv hat bis jetzt herauszubringen vermocht, wer ihr die trügerische Botschaft im Namen von Newton Fitzgerald geschickt hat und wer der Mann am Fahrstuhl war, der sie in ihr Gefängnis hinaufbeförderte – denn der für gewöhnlich dort diensttuende Angestellte hat bereits ein vollgültiges Alibi nachgewiesen. Die beiden Damen trafen sich in einer Apotheke, aber niemand erkannte oder beachtete sie. Der Plan war aufs raffinierteste ausgeheckt und wurde ebenso ausgeführt – von wem, ist gegenwärtig noch ein Geheimnis.«
Um neun Uhr morgens saß das Fräulein Bürgermeister an ihrem Schreibtisch in ihrer Wohnung, und Mary Snow befand sich bei ihr in ihrem Arbeitszimmer. Freunde suchten sie von der Arbeit abzuhalten und behaupteten, sie müßte ausruhen, aber sie lachte nur und erwiderte: »Ausruhen? Was habe ich denn die letzten zehn Tage andres getan?«
»Hoffentlich dich geängstigt und abgesorgt,« sagte ihre Cousine Jessie; »jedenfalls haben wir andern uns in der Sorge um dich ganz aufgerieben.«
»Ich habe mich nicht ein bißchen geängstigt,« entgegnete Gertrud, »denn ich wußte ja, daß man uns nur gefangen hielt, um mich zum Rücktritt zu zwingen – oder ihnen die Gelegenheit zu schaffen, im Amtszimmer des Bürgermeisters unheilvolle Verträge und Beweisstücke m der Eisenbahnsache verschwinden zu lassen. Ich habe wirklich Eile, ins Rathaus zu kommen und zu sehen, was sie angestellt haben.«
»Wir waren überzeugt, daß unsre Entführer uns weiter kein Leid antun würden,« bestätigte auch Mary Snow. »Sie haben uns reichlich mit Nahrungsmitteln versehen, und wir haben wirklich nicht gelitten, sondern, wie Gertrud richtig sagt, nur ausgeruht.«
»Na, dann werdet ihr ja wohl gehen wollen, aber ich glaube, ihr werdet den ganzen Tag nur großen Empfang abhalten müssen. Männer, Weiber und Kinder werden antreten, euch die Hände schütteln und zu eurer Befreiung Glück wünschen wollen.«
Aber die Bürger warteten gar nicht erst, bis sie auf dem Rathaus ankamen; schon lange, ehe Gertruds Wagen den Marktplatz erreichte, hatten sie die Pferde ausgespannt und zogen sie selbst, als ob sie eine königliche Prinzessin und sie ihre Untertanen wären.
Männer, die gegen sie gestimmt und sie öffentlich und im geheimen angegriffen hatten, schlossen sich dem Zug an und halfen, ihr einen Willkomm zu bereiten, der ihr Tränen in die Augen trieb und sie fast aus der Fassung brachte.
Als sie den Marktplatz erreichten, war er gedrängt voll mit Menschen, die ihr die Hände schüttelten und auf jede Weise ihre Freude über die Rückkehr ihres weiblichen Bürgermeisters bezeugen wollten. Wenn irgend einer von ihren Entführern anwesend war, konnte er nicht im Zweifel über die Gesinnung des Volkes sein.
Endlich langten sie am Rathaus an, aber auch hier durfte Gertrud noch nicht aussteigen.
»Reden, reden!« schrie die Menge ringsum, und Gertrud stand auf, schluckte ihre Tränen hinunter und versuchte zu sprechen. So also war es, wenn man das Herz der Menge gewonnen hatte!
»Freunde!« sagte sie. »Ich kann keine Worte finden, um euch zu sagen, was euer Willkomm für uns bedeutet. Niemals kann ich mich wieder entmutigt fühlen und niemals das Vertrauen auf die Bürgerschaft von Roma verlieren. Ihr beweist mir heute, daß ihr mich so lieb habt wie ich euch. Ich kann nicht weiter sprechen. Euer Willkomm rührt mich bis ins innerste Herz und es ist mir, als könnte ich diese glückliche Stunde gar nicht überleben. Laßt uns nun alle unsern täglichen Pflichten nachgehen und Gott danken, daß er uns aus dem Schatten in das Licht dieses unvergeßlichen Tages geführt hat, und wir wollen auch zu ihm beten, daß er uns helfe, unser geliebtes Roma zu einer schöneren, besseren, zu einer reineren Stadt zu machen – zu einer Stadt, die unsern Idealen entspricht und unsre höchsten Hoffnungen erfüllt.«
Erschöpft sank sie auf ihren Sitz zurück, und die Menge sah ein, daß ihre Kraft beinahe zu Ende war. Schon begannen sie sich zu zerteilen, als eine Stimme rief: »Die kleine Sekretärin auch! Mary Snow lebe dreimal hoch!«
Alles stimmte jubelnd mit ein, und Mary erhob sich verwirrt und errötend und dankte ihnen. Dann machte die Volksmenge Platz, so daß die beiden Damen aussteigen und ins Rathaus hineingelangen konnten.
»Ach,« sagte Mary, als sie sich wieder in den Räumen des Stadtvorstandes befanden, »es ist doch herrlich, zurück zu sein und sich wieder an die Arbeit machen zu können!«
Aber hierauf war an diesem Tag nicht zu hoffen. Kaum war ihr das Wort entflohen, so stand Bailey Armstrong neben Mary Snow und begrüßte sie aufs innigste, während Allingham das Fräulein Bürgermeister ebenso warm beglückwünschte. Und dann ergoß sich ein Strom von Menschen in die Gemächer: sämtliche städtischen Beamten und Hunderte von andern Menschen, die den der Freiheit Wiedergegebenen gerne die Hand drücken und sie ihrer treuen Anhänglichkeit versichern wollten.
Gegen zehn Uhr begannen die Frauen aus der Stadt zu kommen, der »Fortschrittliche Frauenverein« erschien in corpore und jedes einzelne der Mitglieder umarmte und küßte den Stadtvorstand, wie bis dahin noch keine Amtsperson auf dem Rathaus abgeküßt worden war – wenigstens nicht während der Geschäftsstunden.
»O Gertrud,« sagte Frau Blake, »wir hätten dich ja nie in die Geschichte hineingesetzt, wenn wir hätten ahnen können, daß es solche Folgen für dich haben würde.«
»Zu denken, daß wir dich dem Raub und der Gefangenschaft ausgesetzt haben!« rief Frau Turner stöhnend.
»Wie eine Verbrecherin – oder ein Stiefkind!« klagte Frau Mason.
»O Gertie,« rief die lebhafte, als Bella bekannte junge Frau, »und ich allein habe dies alles über dich gebracht, weil ich dir erzählte, was meine Waschfrau zu mir gesagt hat. Rudolf sagt, ich sei schuld daran.« Und damit brach sie in Tränen aus.
»Weine nicht, Bella,« sagte Gertrud tröstend. »Ich wäre doch jedenfalls sowieso hinter diese Geschichten gekommen – es wäre schließlich dasselbe gewesen.«
»Aber Rudolf sagt –« beharrte die Weinende, aber sie wurde durch den von hinten drängenden Menschenstrom in den Flur geschoben.
Auf die Vereins- und patriotischen Damen folgten die Hausfrauen und ärmeren Frauen, die erst ihre Morgenarbeit verrichten mußten, ehe sie dem Fräulein Bürgermeister sagen konnten, wie sehr sie sich über ihre Rückkehr freuten. Die Mittagstunde brachte weibliche Angestellte in Handel und Gewerbe nebst den Schulkindern, die allesamt Gertruds Hand schütteln und ihr versichern wollten, daß sie die Erinnerung an diesen herrlichen Tag zeitlebens bewahren würden. Um vier Uhr schickte Gertrud sich an heimzugehen, um auszuruhen und einmal wieder in ihrem eigenen Bett zu schlafen, denn jetzt war sie todmüde. Mary Snow war der Anstrengung schon eine Stunde zuvor erlegen und nach Hause gegangen.
»Es ist wirklich der Mühe wert, all diese Erfahrungen gemacht zu haben,« sagte Gertrud zu sich selbst, als sie ihren Schreibtisch abschloß, »um dann herauszufinden, daß man sich das Herz des Volkes erobert hat. Es ist ein großes Erlebnis und wird mich für mein ganzes Leben zu einem besseren Menschen machen, als ich vorher war.«
Hinter ihr ließ sich ein Schritt vernehmen, und sie drehte sich um.
»Ich habe den ganzen Tag noch keine Gelegenheit gehabt, Ihnen zu sagen, wie sehr ich mich freue,« sagte Allingham und streckte ihr die Hand entgegen. »Aber – Sie wissen –«
»Ja, ich weiß,« sagte sie, seine Hand ergreifend.
»Entschuldigen Sie,« sagte ein untersetzter Mann, der aus dem Vorzimmer hereintrat, »aber ich kann unmöglich nach Hause gehen, ohne einige Worte mit Ihnen gesprochen zu haben, Fräulein Van Deusen. Nicht wahr, Sie glauben nicht – Sie können es gar nicht glauben, daß ich dazu geholfen habe, Sie in diese Falle zu locken?«
»Nein, Newton, das habe ich nie auch nur einen Augenblick geglaubt,« entgegnete der weibliche Stadtvorstand, »auch nicht, nachdem ich gesehen habe, daß Sie sich weder krank noch hilfsbedürftig dort befanden. Dazu kenne ich Sie denn doch zu gut.«
»Danke schön,« sagte Fitzgerald; »ich bin auch jederzeit bereit, vor Gericht mein Zeugnis für Sie abzulegen, und mehr als dies – ich will die Schufte entlarven, die Ihnen diesen verdammten Streich gespielt haben, und sollte es mich den letzten Pfennig kosten.«