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Anstatt am andern Morgen, wie er es vorgehabt hatte, bei dem Stadtvorstand vorzusprechen, saß Orlando Vickory wohlverwahrt hinter Schloß und Riegel, wohin ihn der Staatsanwalt hatte befördern lassen. Allein er schob die Gesellschaft vor, als deren Vertreter er zu handeln behauptete, und weigerte sich standhaft, irgendwelche Geldmanipulationen zuzugestehen, als er verhört wurde. Trotzdem wurde er unter Anklage der Erpressung festgehalten, was den Richtern Zeit gewährte, weitgehende Nachforschungen anzustellen, ehe sie seine Sache mit der neuen Ringbahngesellschaft und den Stadträten vor das Schwurgericht brachten, das seine Sitzungen eben begonnen hatte. All dies wurde so still und geheim betrieben wie nur möglich, aber trotz aller Vorsicht waren die Abendblätter schon ganz voll davon, je nach Richtung und Umfang mit entsprechenden Überschriften versehen, und ehe für Roma die Schlafenszeit gekommen war, befand sich die ganze Stadt in Erwartung eines höchst aufregenden Kampfes und die Bürgerschaft in zwei Parteien geteilt.
Mittlerweile berieten sich die wenigen Eingeweihten – der Ring – in angstvoller Stimmung. Keiner wußte, wieviel der andre wußte, und hauptsächlich bekümmerte sie die Frage, wie irgend etwas herausgekommen war und durch wen. Unter gemachter Gleichgültigkeit handelten sie aber im geheimen und sorgten dafür, daß ein Vorstandsmitglied der Eisenbahngesellschaft nach Roma kam, um eine Bürgschaft für Vickory zu hinterlegen. Die Stadträte verhielten sich scheinbar ganz gleichgültig und lehnten es gelassen ab, dies neueste aufregende Ereignis mit irgend jemand zu besprechen. Nur unter sich verhandelten sie die Sache, denn noch befanden sich alle im unklaren darüber, wie etwas durchgesickert war.
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Während die Dinge auf dem Rathaus so weit gediehen waren, hatten die übrigen Frauen Romas die Hände auch nicht in den Schoß gelegt. Schon ehe der »Fortschrittliche Frauenverein« beschlossen hatte, seine eigene Kandidatin für die Bürgermeisterwahl aufzustellen, waren die Damen nicht müßig gegangen und hatten ihr Interesse hauptsächlich der Beschaffung unverfälschter und reinlicher Lebensmittel zugewendet. Eine der freidenkerischen Kirchengemeinden der Stadt hatte einige Jahre zuvor eine weibliche Predigerin angestellt. Da sie mit ungemeinem Erfolg in ihrer Gemeinde wirkte, war sie von einer der fortschrittlichen Frauen »entdeckt« und aufgefordert worden, in den Klub einzutreten. Zu ernst angelegt und zu tatkräftig, um leeren Disputen zuzuhören, die doch zu nichts führten, hatte sie gleich nach ihrem Eintritt die Mitglieder zu irgendeiner ernsten Arbeit aufgefordert, die sie gemeinsam leisten konnten.
Da sie mit ihrem schmalen Gehalt haushalten mußte, ging sie selbst auf den Markt und war, gleich Tausenden andrer Frauen, von Ekel und Widerwillen erfüllt, nicht nur vom Markt, sondern auch aus Spezerei- und Metzgerläden heimgekommen. Aber im Gegensatz zu der Durchschnittsfrau hatte sie nicht die Absicht, all diese Übelstände geduldig über sich ergehen zu lassen, sondern begann in aller Stille zu inspizieren. Sie besuchte das städtische Schlachthaus, die Viehhöfe und die Markthallen. Noch vor der Bürgermeisterwahl hatte sie im Verein einen ganzen Feldzugsplan entwickelt, um gesunde und unverfälschte Nahrungsmittel zu erhalten. Im Frühling war dann vom Verein eine Ausstellung von reinen und unverfälschten Nahrungsmitteln veranstaltet worden, die von Tausenden von Hausfrauen und sogar von einigen Männern besucht wurde.
Als nun Gertrud Bürgermeister geworden war, hatte die hochwürdige Martha Kendall im Rathaus vorgesprochen, ihr einen Plan vorgelegt, und das Ergebnis dieser Unterredung war gewesen, daß der weibliche Pfarrer auch zur Marktinspektorin ernannt wurde, da eine solche Stelle im Ortsstatut vorgesehen und nur bis jetzt nicht besetzt worden war. Und kaum hatte die hochwürdige Martha Kendall ihre Anstellung erhalten, so verfügte sie sich in den Verein und bat um Ernennung einer besondern Kommission, die zum Zweck der Erhaltung reinlicher Märkte und unverfälschter Lebensmittel mit ihr tätig sein sollte.
Wenn die Frauen einer Stadt einmütig zeigen, daß sie unverfälschte Lebensmittel oder sonst etwas ernstlich wollen, so bekommen sie es auch, und zwar ohne Verzug – wenigstens in Amerika. Wenn auch die Marktleute etwas schimpften, so wurden doch die Markthallen, alle Spezerei- und Kramläden einem großen Reinemachen, Tünchen und dergleichen unterzogen. Im Schlachthaus ließ sich die Verbesserung zwar nicht ganz so leicht erreichen, aber Frauen wie Frau Bateman, Frau Albert Turner und Martha Kendall kamen alle Augenblicke, um nachzusehen, Reinlichkeit und hygienische Einrichtungen zu fordern, und so gaben schließlich auch die Metzger nach. Als daher der große Schwurgerichtsprozeß wegen der Bahngeschichte einen Einblick in die Tätigkeit, oder vielmehr die Geschäfte der Stadträte gewähren sollte, ließ sich Freund und Feind des neuen Stadtoberhauptes bereitfinden, wenn nötig, eine hilfreiche Hand zu bieten.
Dann waren da aber auch noch die Hehler, die Kneipen, die Spielhöllen und Ähnliches. All dies waren Probleme, mit denen Gertrud sich schon lange vor ihrer Wahl beschäftigt hatte, über diese Dinge hatte sie, wenn überhaupt, nur mit wenigen ihrer Berater je gesprochen, denn sie hatte darüber ihre eigenen Gedanken oder vielleicht auch die ihres Vaters. Sobald sie ihren sichern Platz auf dem Rathaus eingenommen hatte, ernannte sie einen durchaus zuverlässigen Mann zum Polizeikommissär – einen, von dem sie gewiß wußte, daß er ihre Pläne ausführen würde. Da gab es keine stürmischen Razzias mit nachfolgender Lässigkeit; Gertrud aber bereitete den Spielhöllen, Animierkneipen und andern unsaubern Lokalen ebenso wie mancherlei zweifelhaften Existenzen dadurch nach und nach ein Ende, daß an jedem derartigen Ort ein zuverlässiger Polizist in Uniform stand, der verpflichtet war, Namen und Adresse jedes Eintretenden aufzuschreiben; jeden Morgen und jeden Abend mußte er diese Liste im Rathaus abliefern.
Infolge dieser Maßregel hatten natürlich einige der Besitzer und Pächter dieser Anstalten ihr Einkommen kleiner und kleiner werden sehen und die letzteren in ganzen Scharen die Stadt verlassen, während die ersteren ihren Ingrimm nährten und sich im geheimen oder offen gegen die neue Reformbewegung – die »Frauenbewegung« – zusammentaten.
Im übrigen darf man aber aus all diesem nicht schließen, daß die Frauen Romas solidarisch für ihren weiblichen Bürgermeister eingetreten wären – wo täten dies Frauen jemals! Solange es Ehemänner und Ehefrauen gibt, wird sich die letztere mehr oder weniger von den Ansichten des ersteren beeinflussen lassen. Frauen, die nichts denken, Frauen, die nichts lesen und sich für nichts interessieren, schließen sich stets der Meinung des ihnen am nächsten stehenden Mannes an, mag er so unwissend und dumm sein, wie er will. Und die Frauen, die denken, lesen und sich interessieren – na, es ist besser, diese Frage nicht weiter zu verfolgen.
So kam es, daß die Frauen in Roma über die neue Reform ebenso geteilter Meinung waren, wie die Männer, obgleich, wie Gertrud mit Stolz feststellte, alle gebildeten und selbständig denkenden Frauen sie zuverlässig unterstützten bei all den Anstrengungen, die sie machte, um die städtischen Verhältnisse zu verbessern. Weiber in der Art von Frau Bellas »Waschdame«, die waren es, die ihr am meisten Widerstand entgegensetzten, und jene Sorte von dunkeln Existenzen, die ihres eigenen Geschlechtes Freunde nicht zu erkennen vermögen, wenn sie in fortschrittlicher Hülle auftreten. Dazu gesellten sich noch die Bürger, die selbst nicht wußten, was sie wollten, und so kam es, daß ebensoviele Leute für als gegen den neuen Stadtvorstand waren.
Wie stets, trat der »Atlas« energisch für die Gerechtigkeit ein.
»Endlich,« erklärte er, »hat Roma einen Bürgermeister mit dem Mut der Überzeugung. Endlich wird die Korruption nicht mehr versteckt, sondern ans Licht und vor den Richter gezogen, und jedenfalls sind unsre Beamten nicht mehr dabei beteiligt. Es ist Pflicht jeden Mannes und jeder Frau in Roma, die jetzigen Bestimmungen und das neue Stadtoberhaupt zu unterstützen.«
Aber das Blatt des »Ringes« führte eine andre Sprache:
»Nachdem monatelang alle möglichen ›Reformen‹ von ›irgend etwas‹ versprochen worden sind, haben sich unser weiblicher Bürgermeister und die ›Feministen‹ ihres Anhanges entschlossen, eine große Tat zu tun. Sie haben, wie sie behaupten – Gott weiß, auf was für krummen Schleichwegen – ›Bestechungen‹, sage und schreibe Bestechungen entdeckt. Man munkelt sogar davon, daß das Stadtoberhaupt selbst Zeugnis dafür ablegen wolle, daß Leute, die hundertmal mehr von einer Stadtverwaltung verstehen als sie, nichts seien als unehrliche Einfaltspinsel. Echt weiblich! Die Anfangsgründe hat sie jetzt hinter sich und nun weiß sie nicht mehr weiter, deshalb schreit sie aus Leibeskräften: ›Bestechung! Korruption!‹ Na, lassen wir sie einmal ihre Behauptungen beweisen! Während sie damit vergebliche Versuche anstellt, wird sie tatsächlich beweisen, was wir immer behauptet haben, wie gefährlich es für eine Stadt ist, ihre Verwaltung in die Hände eines Weibes zu legen. Frauen waren nie und nimmer für öffentliche Ämter bestimmt, aber vielleicht hat ihre Partei recht – die frömmelnd die Hand Gottes in ihrer Erwählung zu sehen behauptet – denn sie liefert Roma und seinen Wählern den besten Beweis, wie gefährlich es ist, auch nur die kleinste Macht einem unfähigen und unerfahrenen städtischen Beamten zu überlassen.«
Gertrud las all diese Artikel je nach ihrer Stimmung mit spöttischem Lächeln oder aber auch mit tiefem Seufzen. Manchmal gürtete sie danach ihren Panzer nur um so fester und war entschlossen, bis zum letzten Atemzug für ihre Überzeugung zu kämpfen. Dann aber machte sich auch jene andre Gertrud Van Deusen wieder geltend, die im geheimen wünschte, eine ruhige, wohlbeschützte Hausfrau zu sein, die einen liebenden Gatten besaß und kleine Kinder, denen sie die rechten Wege im Leben weisen konnte. – Aber woher kam es wohl, daß in solchen Augenblicken es gerade immer John Allingham war, der vor ihr geistiges Auge trat?