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Von Rauhbautz zum Frate Nicolae

Rauhbautz hat wieder die ganze Selbstbeherrschung und Selbständigkeit zurückgewonnen, zu der er seit der Trennung von den Seinen herangereist ist. Von den Schafen, die inzwischen eingezogen sind, wird er sich nun schon manch dummes Stück aus der Herde reißen, so wie er es mit Mutter zusammen oft genug getan hat. Er kennt den Vorgang zu eigener Zufriedenheit recht gut.

Er umschleicht zu Anfang, stets den Wind sorglichst abfangend, die bellende Senne, stellt Melk- und Lagerplatz fest, zählt die Hunde, versucht sie, prüft die Hirten auf Menge und Knallzeug; und dann, als er nach einigen aus der Deckung hervorlockenden Scheinmanövern glauben kann, den Angriff wagen zu dürfen, vollbringt er gleich zum erstenmal sein über eigenes Erwarten gut gelingendes Gesellenstück im Auge der Schafhirten so tadellos und mit solchem Schneid, daß die beiden unerfahrenen Hirten ihm das Maß gleich ungewöhnlich hoch abnehmen. Wie er sich da in der ersten dunkelwogenden Nacht mit furchtbarem Getöse über den Hürdenpferch schwingt, von ihnen und den Hunden erst bemerkt, nachdem er mit dem Schaf im Fang schon außerhalb der Schutzwand in den Wald zurückgebrochen ist, da glauben sie, es mit dem größten Räuber zu tun zu haben, mit dem die Alpe sie diesen Sommer bedacht hat. Das Stiemwetter faucht auf, und in seinem Atem scheint alles so furchtbar und gräßlich.

Zwei-, dreimal wiederholt sich das in eben solch unheimlich winselnden Nächten, und in sagenhaftem Schwunge geht sein Ruf in die verborgensten Ecken, wo Hirten Herden betreuen. Alles paßt auf, türmt doppelthoch die Brennstöße und fürchtet ängstlich die Stunde, da ihm gleiches widerfahren wird.

Frate Nicolae – Bruder Nicolae – so lautet sein Name in aller Munde. Ja, Frate Nicolae, der Bär, geht um, so trägt es sich im Umkreis dahin von Alpe zu Alpe.

Und wirklich, Frate Nicolae ist keiner von den Schwerenötern und Duckmäusern, er ist ein echter rechter Hirtenbär, wie ihn die Ahnen kannten, wenn er auch noch fern von voller Selbstzucht und Altersweisheit steht.

Er hat sein vielleicht übertriebenes Selbstvertrauen, sein entschlossenes Draufgängertum, seine Angriffs- und Tatenlust. Das ist ja alles Erbgut, gestärkt einesteils durch das oft zufällige Gelingen einer dreisten Unternehmung, geschwächt andernteils durch ungeahntes und unvorhergesehenes Ungemach. Dabei hat er dreimal den Menschen besonders ausdrucksvoll empfunden. Einmal hat er ihn klein und elend am Boden unter Mutter liegen gesehen, ein andermal als gefährlichen Schleuderer tödlicher Blitze erlitten, ohne seiner ansichtig geworden zu sein, ein drittes Mal hat er ihn von hohem Baum herab als reichlich blöd und bedeutungslos erkannt. Es gibt also verschiedene Menschen; die Kunst ist allein, sie auf die jeweilige Form richtig anzusprechen. Ob er es je auslernen wird, wird die Zukunft schon lehren.

 

Als Frate Nicolae merkt, daß allerorten, allerseits gegen ihn gerüstet wird, mit Hunden, Lichtaufwand, Verrücken des Lagerplatzes, ja sogar mit schmerzlosen Knalleffekten, als der Mond in den Nächten voll Sternenspiel und Taugespiegel von Abend bis Morgen über alle die Almen vom einem Ende bis zum andern lichtwandelt, sieht er sich gezwungen, nachdem er letzte Nacht die Nutz- und Vernunftlosigkeit weiteren Bemühens eingesehen, andere Schlachtpläne zu entwerfen. Wieder einmal spielt das zufällige Glück, wie so oft schon, die entscheidende Rolle an der neuen Wegkreuzung seines Lebens.

Eben liegt er, es ist die Rispzeit des Alpenmilchlattichs, nachbarlich dessen Riesenblättern, mit reiner heißer Sommerlust gesättigt in wüst verkrautetem und verstrauchtem Windwurf. Nach allen Höhen recken sich über Weidenröschen und Himbeerstaude in wirrem Wechsel grau und scharf die splittrigen Brüche der Fallhölzer, braun und verzerrt gähnen die ausgehobenen Wurzelballen aus steilem, ährennickendem Gras. Unversehens klingt es leise wie Immensummen aus den Tiefen des Urwaldes an Nicolaes Gehör. Wie gestochen, aber von Honigspendern gestochen, fährt er freudig überrascht im Lager empor. Fürwahr, das sind die Schafe! Immer näher hört sich das Summen der Flöte, verloren prickeln die Glocken. Wilde Jucher – einer vorn, einer hinten – deuten die Richtung geradeswegs zur Grasweide im Windwurf. Die Hirten ahnen ihn nicht, führen nichts Böses im Schilde. Nicolae starrt, schöpft hoch aufwindend Luft. Die Stelle ist nicht ganz günstig, er muß etwas höher rücken, um beste Nachricht zu empfangen, jetzt schon, noch bevor die Schafe anlangen. Breit tretend verpflanzt er sich an den Rand der Überhügelung; hier will er sie abwarten. Zwischen Jungfichten eingeduckt, späht er in das Dunkel der wurfzerklüfteten, jungunterwachsenen Riesenfichten, in deren Lücken manch mückenspielendes Sonnenmal über dunstendem Grasgeschwade im leisem Wind zittert.

Der Hirte und der Hund grauen schmutzpelzig an der Spitze auf, sich vielfältig um Hindernisse windend, über sie hinweg kletternd. Die Flöte schweigt. Leiser Pfiff. Friedlich folgt in der Spur mit tiefem Klöppeln das Leitschaf, und dahinter fließt die weiße Schlange der Herde in das grüne Bett ein. Weit hinten vollendet sich irgendwo die Nachhut.

Nicolae rückt sich zurecht. Er hat Hirt, Hund und Schafe sicher in der Nase. Schwerere Gegner kommen nicht nach. Da ist der Zufall doch viel zu sparsam. Zehn Gänge über ihm will es dahinziehen. Emporwachsen, Sprung mitten ins Gewühl der aufschreckenden Gemeinschaft! Lautloses Starren und Entsetzen. Die Schafe stieben auseinander, der Hund jault winselnd auf, der Hirt findet endlich Fluch und Scheuchgeheul und wagt es sogar im jugendlichen Übereifer, als Nicolae mit dem Schaf im Fang in die Deckung prescht, den Knüttel schwingend, unbedacht nachzustürmen. In Nicolae steigt das Blut, wild schlägt er das Schaf mit einem Hieb in den polsternden Moosgrund und fetzt in Staub und Dunst die Wolle aus dem Körper. Dies ist sein, das läßt er sich nicht nehmen! Achtlos und ungestüm kracht der Junge über das Fallholz und prallt im Eifer dicht auf Nicolae. Murren aus beleidigter Siegerbrust. Auge steht gegen Auge allein in tiefer Wildnis. Der Knabe vermißt sich, den Knüttel gegen den aufdräuenden Klotz zu heben. Er kommt nicht zur Ausführung. Stier vor Blutrunst erhebt sich Nicolae. Der Junge will fliehen. Bleischwer wuchtet ihm die Brante auf den Rücken, dem brechenden Fall folgt klaffender Biß in den Oberschenkel. Mit diesen Zeichen soll er bleiben! Und Nicolae läßt den Gezüchtigten, zerrt die tote Schafsbeute zwanzig Gänge weiter in sparrige Überkreuzung von Wurfholz und Jungfichten und frißt reißend und würgend den Bissen für einen halben Magen ohne besondere Umstände hinunter, während über ihm der Junghirte – die Schafe sind davon – in seinem Blute wimmert. Sein Kamerad, nicht wissend um den Vorfall, findet den Getroffenen erst nach langem Suchen und eilt um Hilfe, um mit vereinten Kräften den Unglücklichen zum nächsten Schlupf zu schaffen.

Dort liegt er dann in qualvollem Angstgestöhn, bis er so um Mitternacht sich blindstieren Blicks aufrichtet, sich an das Herz greift und darauf rücklings tot niederbricht.

So wird Nicolae bei allen Sennhütten als Mörder berüchtigt.

Seit jenem offenen Ereignis meiden die Herden den Ort des Mordes wie den schwarzen Abgrund. Nicolae aber fühlt sich gestärkt, gehoben und wandelt seinen sprühenden Haß siegesgewiß in wachsende Verachtung um.


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