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Eigentlich hätte das Buch anders werden sollen. Nachdem ich über die Grundgedanken bereits vor einigen Jahren einmal vorläufig mich ausgesprochen hatte (Sitzungsberichte der Berliner Akademie der Wissenschaften 1912, XXXI), war es das Natürliche, die einzelnen Begriffe nun in erschöpfender Darstellung geschichtlich durchzuführen. Es muß endlich eine Kunstgeschichte kommen, wo man Schritt für Schritt die Entstehung des modernen Sehens verfolgen kann, eine Kunstgeschichte, die nicht nur von einzelnen Künstlern erzählt, sondern in lückenloser Reihe zeigt, wie aus einem linearen Stil ein malerischer geworden ist, aus einem tektonischen ein atektonischer usw. Diese Entwicklung in der Figurenzeichnung, Gewandzeichnung, Baumzeichnung nachzuweisen, wäre noch nicht die ganze Aufgabe, es müßte die veränderte Bildgestaltung im allgemeinen, der Wechsel der Bildvorstellung überhaupt dargelegt werden und die Schilderung bliebe immer einseitig und wackelig, wenn nicht Architektur und Dekoration zu den darstellenden Künsten hinzugenommen würden.
An solche weitschichtige Darlegungen aber ist jetzt, mitten im Kriege, nicht zu denken. Kein Verleger kann auf die kostspieligen Bilderhefte sich einlassen, die die unentbehrliche Grundlage einer solchen »Kunstgeschichte ohne Namen« sein würden. Darum habe ich meine Meinung auf einen möglichst kurzen und einfachen Ausdruck gebracht und unter Verzicht auf alles Zwischenwerk nur die Grundbegriffe der Entwicklung festzulegen versucht. Die Abbildungen, die das ganz Bekannte beiseite lassen, sind immerhin zahlreich genug, um auch für sich allein ein Interesse wecken und über die Andeutungen des Textes hinaus den Leser zu eigenen Betrachtungen anregen zu können. Über die grundsätzliche Schwierigkeit, daß Bilder, die mit der Farbe als einem selbständigen Kompositionswert rechnen, nicht mehr zu photographieren sind, hilft freilich nichts hinweg. Man kann klassische Gemälde photographieren und sie werden dem Original zwar nicht entsprechen, aber ihm doch auch nicht widersprechen, bei Bildern des Barock dagegen bedeutet die Photographie fast immer eine Entstellung des Tatbestandes. VI
Die Untersuchungen beschränken sich auf das Gebiet der neueren Kunst. So sehr ich überzeugt bin, daß sich die gleichen Begriffe auch für andere Zeitalter als brauchbar erweisen würden, ist mir die Analyse des einen Falles doch die Hauptsache gewesen. Wie weit man sich mit der Idee einer Periodizität der Entwicklung befreunden kann, braucht für die Hauptsätze des Buches gar nicht in Betracht zu kommen.
Der ganze Verlauf der neueren Kunst ist den zwei Begriffen Klassik und Barock untergeordnet. Selbstverständlich hat das Wort klassisch dabei keinen qualitativen Sinn. Die nachklassische Zeit bis zum geschichtlich zurückblickenden neuklassischen Stil als Barock zu bezeichnen, entspricht vielleicht noch nicht einer ganz allgemeinen Übung, ist aber in der bisherigen Entwicklung der Bedeutung des Wortes – eines der merkwürdigsten Beispiele von Bedeutungswandel! – durchaus vorbereitet.
Die begriffliche Forschung in der Kunstwissenschaft hat mit der Tatsachenforschung nicht Schritt gehalten. Während die Kunstgeschichte nach ihrer stofflichen Grundlage durch die Arbeit der letzten Generation fast überall und von Grund aus eine neue geworden ist, haben die Begriffe, mit denen diese Tatsachen für die geschichtliche Erkenntnis verarbeitet werden sollen, sich weniger verändert. Ich spreche nicht von der Durchschnittsliteratur, wo ein Gemisch von Feststellungen verschiedenster Art sich als Stilanalyse gibt, auch in bedeutenden Büchern verbindet sich manchmal die strenge Behandlung des Tatsächlichen mit einer oberflächlichen oder geradezu fahrlässigen Behandlung des Begrifflichen, ohne daß davon viel Aufhebens gemacht würde. Und doch sind wir ja darin alle einig, daß, wenn der Denkmälerbestand vollkommen geordnet ist, die eigentliche kunstgeschichtliche Arbeit erst beginnt.
Sieht man ab von Julius Lange, dessen Gedanken mehr der antiken Kunstgeschichte zugute gekommen sind, so ist Alois Riegl wohl der auffallendste Typus eines Gelehrten, der über die Gründe der Stilbildung methodisch nachgedacht und in der Arbeit am vollkommen beherrschten Material die begrifflichen Werkzeuge beständig zu verfeinern versucht hat. Besonders die Begriffe »optisch« und »haptisch« (taktisch) – Sehwerte und Tastwerte – sind, nachdem schon Wickhoff über das Malerische aus starker Anschauung heraus ein paar bedeutende Seiten geschrieben hatteWickhoff, Die Wiener Genesis. Jahrbuch der (Wiener) kunsthistorischen Sammlungen, 1895. Neugedruckt in den Schriften I (1912) unter dem Titel: Römische Kunst., VII von ihm wirkungsvoll geprägt worden. Aber auch die nach andern Seiten gerichtete Gedankenarbeit hat sich als fruchtbar erwiesenRiegl, Die spätrömische Kunstindustrie im Zusammenhange mit der Gesamtentwicklung der bildenden Künste bei den Mittelmeervölkern, 1901.
–, Das holländische Gruppenporträt. Jahrbuch der (Wiener) kunsthistorischen Sammlungen, 1902.
–, Entstehung der Barockkunst in Rom, 1908.
–, Lorenzo Bernini, 1912. – Daneben wären noch die ganz frühen Studien zu nennen, die einzelne Probleme der spätantiken Ornamentgeschichte erörtern: Stilfragen, 1893. – Auf die Einseitigkeiten und Gefahren, die in der Rieglschen Betrachtungsweise liegen, hat Heidrich in einer bedeutsamen Besprechung von Jantzen, Das niederländische Architekturbild 1910, hingewiesen (Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft VIII. 117 ff.).. Zusammenfassend hat Schmarsow in einem Buch, das den Übergang der Kunst von der Antike ins Mittelalter zum Hintergrund hat, den bisherigen Gewinn kritisch erörtert und zum System gefügtSchmarsow, Grundbegriffe der Kunstgeschichte, 1905.. Es ergäbe ein Buch für sich, mit diesen Forschern mich auseinanderzusetzen. Was ich hier bringe, enthält gar nichts Polemisches. Ebensowenig habe ich geglaubt, in allen Fällen die Übereinstimmung mit fremden Ansichten feststellen zu sollen. Ohne der Abhängigkeit von bestimmten Schriften mir bewußt zu sein und immer mehr das Gegenteilige der Meinung in der vorhandenen Literatur heraushörend, muß ich freilich wünschen, daß andere darin anders urteilen und den Gleichklang beträchtlicher finden als ich. Denn schließlich sind doch gerade die Gedanken die überzeugenden, die in der allgemeinen Richtung liegen. Gerade unter den jüngeren Gelehrten gibt es offenbar eine ganze Anzahl, die die Dinge in ähnlicher Art sehen. Aus einem nah verwandten geistigen Bedürfnis heraus ist ein Buch wie Frankls Stufengeschichte der neueren Architektur entstandenFrankl, Entwicklungsphasen der neueren Architektur, 1914..
Nichts bezeichnet eindrücklicher den Gegensatz zwischen alter Kunst und der Kunst von heute als die Einheitlichkeit der Sehform dort und die Vielfältigkeit der Sehformen hier. In einer Weise, die einzig ist in der bisherigen Kunstgeschichte, scheint das Widersprechendste sich miteinander vertragen zu können. Man schwärmt für Reliefbühne und baut gleichzeitig mit barocken Tiefenwirkungen. Die plastisch-lineare Kunst hat ebenso Geltung wie jene malerische, die auf den bloßen Augeneindruck hinarbeitet. In jedem Kunstblatt durchläuft die Zeichnung fast alle VIII Möglichkeiten. Was bedeuten daneben einzelne auseinandergehende Richtungen der Vergangenheit! Nur ein im Kern historisches Zeitalter hat diese Weitherzigkeit großziehen können. Aber die Einbuße an Kraft gegenüber der einseitigen Stärke vergangener Epochen ist unermeßlich. Es ist eine schöne Aufgabe der wissenschaftlichen Kunstgeschichte, wenigstens den Begriff eines derartig einheitlichen Sehens lebendig zu erhalten, das verwirrende Durcheinander zu überwinden und das Auge in ein festes und klares Verhältnis zur Sichtbarkeit zu bringen.
In dieser Richtung liegt das Ziel des vorliegenden Buches. Es befaßt sich mit der inneren Geschichte, sozusagen mit der Naturgeschichte der Kunst, nicht mit den Problemen der Künstlergeschichte. (Freilich könnte es sein, daß man beim Studium der Einzelentwicklung auf dieselben Gesetzlichkeiten stieße wie bei der Gesamtentwicklung.) Daß nicht alle kunstgeschichtlichen Begriffe zur Sprache kommen, ist schon im Titel ausgedrückt. Das Buch gehört aber überhaupt nicht zu den abschließenden, sondern zu den tastenden und eröffnenden, die möglichst bald durch gründlichere Einzelstudien überholt werden wollen.
München, im Herbst 1915