Heinrich Wölfflin
Kunstgeschichtliche Grundbegriffe
Heinrich Wölfflin

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II. Fläche und Tiefe

Malerei

1.
Allgemeines

Wenn man sagt, es habe eine Entwicklung vom Flächenhaften zum Tiefenhaften stattgefunden, so sagt man damit nichts Besonderes, denn es ist selbstverständlich, daß die Darstellungsmittel für den Ausdruck des Körperlich-Vollen und des Räumlich-Tiefen sich erst allmählich ausgebildet haben. Allein in diesem Sinne soll hier auch gar nicht von den zwei Begriffen gehandelt werden. Das Phänomen, das wir im Auge haben, ist jenes andere: daß gerade diejenige Kunststufe, die sich in den vollen Besitz der bildnerischen Raummittel gesetzt hat, das 16. Jahrhundert, den flächenmäßigen Zusammenschluß der Formen als Grundsatz anerkennt, und daß dieses Prinzip der Flächenkomposition vom 17. Jahrhundert zugunsten einer ausgesprochnen Tiefenkomposition fallen gelassen wurde. Dort ein Wille zur Fläche, der das Bild in Schichten bringt, die parallel zum Bühnenrand stehen, hier die Neigung, dem Auge die Fläche zu entziehen, sie zu entwerten und unscheinbar zu machen, indem die Verhältnisse des Vor- und Rückwärts betont werden und der Beschauer zu Bindungen nach der Tiefe hin gezwungen wird.

Es scheint paradox und entspricht doch vollkommen den Tatsachen: das 16. Jahrhundert ist flächenhafter als das 15. Während die unentwickelte Vorstellung der Primitiven zwar im allgemeinen an die Fläche gebunden ist, aber doch beständig Versuche macht, diesen Bann der Fläche zu durchbrechen, sehen wir die Kunst, sobald sie erst einmal vollständig die Verkürzung und die tiefe Bühne sich erobert hat, bewußt und konsequent zur Fläche als der eigentlichen Anschauungsform sich bekennen, die im einzelnen da und dort durch Tiefenmotive aufgehoben sein kann, aber doch als verbindliche Grundform durch das Ganze durchschlägt. Was die ältere Kunst an Tiefenmotiven vorbringt, wirkt dort meist zusammenhanglos und die horizontale Schichtung erscheint als bloße Armut, jetzt dagegen ist Flaches und Tiefes zu einem Element geworden und eben weil alles mit Verkürzung durchsetzt ist, empfinden wir das flächenmäßige Sich-Bescheiden als ein freiwilliges und man gewinnt den Eindruck eines zur größten Ruhe und Schaubarkeit vereinfachten Reichtums.

Niemand, der von den Quattrocentisten herkommt, wird den Eindruck 81 vergessen, den Lionardos Abendmahl gerade nach dieser Seite hin macht. Trotzdem ja schon immer der Tisch mit der Gesellschaft der Jünger parallel zum Bild- und Bühnenrand orientiert war, bekommt das Nebeneinander der Figuren und ihr Verhältnis zum Raum hier erst und hier zum erstenmal jene mauermäßige Geschlossenheit, daß einem die Fläche förmlich aufgedrängt wird. Denkt man dann weiter an Raffaels »Wunderbaren Fischzug«, so ist es auch da ein generell neuer Eindruck, wie die Figuren in eine zusammenhängende, »reliefmäßige« Schicht gebracht sind, und es bleibt dieselbe Sache, wo nur einzelne Figuren in Frage kommen wie in den Darstellungen einer liegenden Venus bei Giorgione oder Tizian: überall das Einstellen der Form in die bestimmt sich aussprechende Hauptfläche des Bildes. Man wird diese Darstellungsform auch in den Fällen nicht verkennen, wo der Flächenzusammenhang nicht durchlaufend, sondern gewissermaßen nur punktiert erscheint, mit einzelnen Intervallen, oder wo die gerade Reihe innerhalb der Schicht zur flachen Kurve sich vertieft wie in Raffaels Disputa. Ja, auch eine Komposition wie der Raffaelsche Heliodor fällt noch nicht aus dem Schema heraus, trotzdem eine Bewegung von der Seite her stark schräg in die Tiefe geht: das Auge wird eben doch aus der Tiefe wieder zurückgeführt und wird instinktiv die linke und die rechte Vordergruppe als die wesentlichen Punkte unter einen Bogen zusammennehmen.

Allein der klassische Flächenstil hat seine gemessene Zeit gehabt, genau so wie der klassische Linienstil, mit dem er, weil alle Linie auf Fläche angewiesen ist, eine natürliche Verwandtschaft besitzt. Es kommt der Moment, wo der Flächenzusammenhang sich lockert und die Tiefenfolge der Bildelemente anfängt zu sprechen. Wo der Bildinhalt nicht mehr in Flächenschnitten sich fassen läßt, sondern der Nerv in den Beziehungen der vorderen zu den rückwärtigen Teilen liegt. Das ist der Stil der entwerteten Fläche. Eine vordere Ebene wird immer ideell vorhanden sein, aber man läßt die Möglichkeit nicht mehr aufkommen, daß die Form sich flächenmäßig zusammenschließt. Was irgend in diesem Sinne wirken könnte, sei es bei der Einzelfigur, sei es im vielfigurigen Ganzen, wird unterbunden. Selbst wo diese Wirkung unausweichlich scheint – z. B. wenn eine Anzahl von Menschen dem Bühnenrand entlang steht – ist dafür gesorgt, daß sie sich nicht reihenmäßig verfestigen und daß das Auge beständig zu Bindungen nach der Tiefe gezwungen wird.

Sehen wir ab von den unreinen Lösungen des 15. Jahrhunderts, so gewinnen wir also auch hier zwei Typen von Darstellungsarten so verschieden wie 82 der lineare und der malerische Stil. Zwar kann man billig fragen, ob es wirklich zwei Stile sind, jeder von eigenem Wert und keiner ersetzbar durch den andern? Oder ob die tiefenmäßige Darstellung nicht eben nur ein Mehr von raumschaffenden Mitteln enthält, ohne eine wesentlich neue Darstellungsart zu sein? – Richtig verstanden sind die Begriffe generelle Gegensätze, die in der dekorativen Empfindung wurzeln, und aus der bloßen Imitation heraus gar nicht verständlich zu machen sind. Es kommt nicht auf das Maß der Tiefe an im dargestellten Raum, sondern darauf, wie die Tiefe wirksam gemacht ist. Selbst da, wo das 17. Jahrhundert sich scheinbar in reinen Breitkompositionen ergeht, muß die nähere Vergleichung den grundsätzlich verschiedenen Ausgangspunkt erweisen. Die wirbelnde Bildeinwärtsbewegung, wie sie Rubens liebt, wird man in holländischen Bildern allerdings umsonst suchen, allein dieses System des Rubens ist auch nur eine Art der Tiefenkomposition. Es brauchen überhaupt keine plastischen Kontraste des Vor- und Rückwärts zu sein: die lesende Frau des Jan Vermeer (Amsterdam), die profilmäßig vor der gerade geführten Rückwand steht, ist hauptsächlich dadurch ein Tiefenbild im Sinn des 17. Jahrhunderts, daß das Auge das eine höchste Licht auf der Wand mit der Figur zusammenbindet. Und wenn Ruysdael in seinem Fernblick auf Haarlem (Berlin) die Felder in lauter ungleich belichteten, horizontalen Streifen ordnet, so ist es darum doch kein Bild von der alten Flächenschichtung geworden, Palma Vecchio deswegen nicht, weil das 83 Hintereinander der Streifen stärker spricht als der einzelne Streifen, den der Beschauer sachlich nicht isolieren kann.

Schlagwortmäßig, mit oberflächlicher Anschauung läßt sich der Sache nicht beikommen. Es ist leicht zu sehen, wie Rembrandt als junger Mann mit reicher Tiefenstaffelung der Figuren der Zeit seinen Tribut entrichtet; in seinen Meisterjahren aber ist er davon abgegangen, und wenn er die Geschichte vom barmherzigen Samariter einmal mit künstlichem Hintereinander der schraubenartig geordneten Figuren erzählte (Radierung von 1632), so gab er sie später in dem Bilde des Louvre von 1648 in ganz einfachem Nebeneinander. Und doch ist das kein Zurückgreifen auf alte Stilformen gewesen. Gerade in der schlichten Streifenkompostion wird das Prinzip des Tiefenbildes doppelt klar: wie alles getan ist, die Folge der Figuren sich nicht zur Reihenschicht verfestigen zu lassen.

 

2.
Die typischen Motive

Versuchen wir die typischen Umformungen zusammenzustellen, so wäre der einfachste Fall die Umsetzung des Nebeneinander bei Zweifiguren-Szenen in ein schräges Hintereinander. Das geschieht beim Thema von Adam und Eva, beim englischen Gruß der Verkündigung, bei der Geschichte, wie Lucas 84 die Maria malt, und wie diese Situationen sonst noch heißen mögen. Nicht daß jedes derartige Bild im Barock den diagonalen Zug in der Stellung der Figuren haben müßte, aber es ist das Gewöhnliche, und wo er fehlt, da ist sicher auf irgend eine andere Weise dafür gesorgt, den Flächeneindruck des Nebeneinander nicht aufkommen zu lassen. Umgekehrt gibt es wohl auch Beispiele, wo die klassische Kunst ein Loch in die Fläche bricht, das Wesentliche ist dann aber eben dies, daß der Beschauer das Loch als Durchbrechung der normalen Fläche empfindet. Es muß nicht alles in einer Ebene ausgerichtet sein, man muß nur die Abweichung als solche verspüren.

Palma Vecchio: Adam und Eva

Tintoretto: Adam und Eva

Wir geben als erstes Beispiel das Adam- und Eva-Bild des Palma Vecchio. Was uns hier als Flächenordnung entgegentritt, ist durchaus nicht ein fortdauernder primitiver Typus, sondern die wesentlich neue, klassische Schönheit eines energischen Sich-Einstellens in die Fläche, so daß die Raumschicht in allen Teilen gleichmäßig belebt erscheint. Bei Tintoretto ist dieser Reliefcharakter zerstört. Die Figuren haben sich tiefenmäßig verschoben, von Adam zu Eva geht ein diagonaler Zug, den die Landschaft mit dem fernen Licht am Horizont festhält. Die Flächenschönheit ist ersetzt durch eine Tiefenschönheit, die immer mit dem Eindruck der Bewegung verbunden ist. 85

Dirk Bouts: Lukas, die Maria malend

Vermeer: Der Maler mit dem ModellUm die Lichtführung ganz deutlich werden zu lassen, ist der Abbildung statt einer Photographie eine moderne Radierung (W. Unger) zugrunde gelegt worden.

Durchaus analog läuft die Entwicklung bei dem Thema des Malers mit seinem Modell, ein Stoff, den die ältere Kunst als Lucas mit der Maria kennt. Wenn wir hier den Vergleich an nordischen Bildern anstellen wollen und dabei das zeitliche Intervall etwas größer nehmen, so kann man dem barocken Schema des Vermeer das Flächenschema des Dirk Bouts entgegensetzen, wo in vollkommener Reinheit, aber allerdings noch etwas unfrei, das Prinzip der Schichtung des Bildes in parallelen Ebenen durchgeführt ist – in den Figuren und in der Lokalität –, während bei der gleichen Gegebenheit für Vermeer die Umstellung nach der Tiefe zu das Selbstverständliche gewesen ist. Das Modell ist ganz in den Raum zurückgeschoben, es lebt aber nur im Verhältnis zu dem Manne, für den es posiert, und so kommt von vornherein eine lebhafte Tiefenbewegung in die Szene, die durch die Lichtführung und die perspektivische Erscheinung noch wesentlich unterstützt wird. Das höchste Licht sitzt in der Tiefe, und in dem Zusammenstoßen der stark kontrastierenden Größenwerte des Mädchens und des nahgesehenen Vorhangs mit Tisch und Stuhl liegt wieder ein Erscheinungsreiz von ausgesprochenem Tiefencharakter. Eine abschließende Wand parallel zur Bildebene ist wohl vorhanden, aber sie hat keine wesentliche Bedeutung für die optische Orientierung.

Rubens: Abraham und Melchisedek

Wie es möglich ist, das profilmäßige 86 Gegenüber von zwei Figuren zu behalten und dabei doch die Fläche zu überwinden, lehrt ein Bild wie die Begegnung des Abraham mit Melchisedek von Rubens. Dieses Gegenüber, das das 15. Jahrhundert nur locker und unsicher formuliert hatte und das dann unter der Hand des 16. Jahrhunderts in eine höchst bestimmte Flächenform gebracht worden war, wird von Rubens so behandelt, daß die zwei Hauptfiguren in Reihen stehen, die eine nach der Tiefe sich öffnende Gasse bilden, wodurch denn das Motiv des Hinüber und Herüber überboten ist durch das Tiefenmotiv. Man sieht Melchisedek, die Hände ausbreitend, und er steht auf derselben Stufe wie der gewappnete Abraham, dem er sich zuwendet. Nichts einfacher als auch hier ein reliefmäßiges Bild zu gewinnen. Aber gerade dieser Erscheinung weicht das Zeitalter aus und indem eben die zwei Hauptfiguren in Reihen verflochten werden mit entschiedener Tiefenbewegung, wird es unmöglich, sie flächig zu binden. Die Architektur der Rückwand kann diesen optischen Tatbestand nicht mehr gegenteilig beeinflussen, auch wenn sie weniger holperig wäre und nicht ins lichte Weite sich öffnete.

Durchaus ähnlich liegt der Fall in dem Bilde der letzten Kommunion des 87

heiligen Franziskus von Rubens (Antwerpen). Der Priester, der sich mit der Hostie dem vor ihm knienden Manne zuwendet – wie leicht kann man sich die Szene im Stile Raffaels vorstellen! Es scheint kaum anders möglich, als daß die Gestalt des Empfangenden und des Sich-Beugenden zum Flächenbild sich einigen. Allein als Agostino Carracci und nach ihm Domenichino die Geschichte redigierten, da war es schon eine entschiedene Sache, daß die flächenmäßige Schichtung zu vermeiden sei: sie untergruben den optischen Zusammenschluß der Hauptfiguren, indem sie zwischen ihnen eine Gasse nach der Tiefe schlugen. Und Rubens geht noch weiter, er verschärft die Bindung zwischen den begleitenden Figuren, die sich bildeinwärts aneinanderreihen, so daß die natürliche Sachbeziehung zwischen dem Priester zur Linken und dem sterbenden Heiligen zur Rechten durch eine durchaus konträre Formfolge gekreuzt wird. Die Orientierung hat sich gegenüber dem klassischen Zeitalter vollkommen verschoben.

Van Dyck: Der wunderbare Fischzug (nach Rubens)

Sollen wir Raffael wörtlich zitieren, so ist ein besonders schönes Beispiel des Flächenstils jener Wunderbare Fischzug des Teppichkartons, wo die zwei Kähne mit den sechs Personen zu einer ruhigen Flächenfigur zusammengenommen sind mit prachtvollem Anlauf der Linie von links her zur Höhe des stehenden Andreas und höchst wirkungsvollem Absturz unmittelbar vor Christus. Rubens hat dieses Bild sicher vor Augen gehabt. Er wiederholt (Mecheln) alles Wesentliche, nur mit dem Unterschied, daß er die 88 Figurenbewegung steigert. Diese Steigerung aber ist für die stilistische Erscheinung noch nicht das Entscheidende. Viel mehr bedeutet, wie er der Fläche entgegenarbeitet und durch die Schiebung der Kähne, vor allem aber durch die vom Vordergrund her eingeleitete Bewegung das alte Flächenbild in stark sprechende Tiefenfolgen sich zersetzen läßt. Unsere Abbildung gibt die freie, mehr ins Breite auseinandergenommene Kopie des van Dyck nach Rubens.

Als weiteres Beispiel dieser Art nennen wir die »Lanzen« des Velasquez, wo wieder, ohne daß in der Disposition der Hauptfiguren das alte Flächenschema aufgegeben wäre, durch die beständig wiederholte Weisung, Vorderes und Rückwärtiges zusammenzubeziehen, für das Bild doch eine wesentlich neue Erscheinung gewonnen worden ist. Die Darstellung der Übergabe von Festungsschlüsseln mit profilmäßiger Begegnung der Hauptfiguren. Im Grunde nichts anderes als was die kirchlichen Schlüsselübergaben – Christus und Petrus: »Weide meine Lämmer« – enthielten. Allein wenn man die Komposition Raffaels aus der Folge der Teppiche heranzieht oder gar das Fresko des Perugino aus der Sixtinischen Kapelle, so merkt man sofort, wie wenig mehr bei Velasquez jene profilmäßige Begegnung für den Gesamthabitus des Bildes bedeutet. Die Gruppen sind nicht in die Fläche ausgerichtet, überall sprechen die Tiefenverbindungen, und wo die flächenmäßige Verfestigung kommen müßte, beim Motiv der zwei Feldherrn, da ist die Gefahr dadurch beseitigt, daß gerade an dieser Stelle der Blick auf die hellen Truppen in der Tiefe sich öffnet.

Und so steht es mit einem anderen Hauptbild des Velasquez, den Spinnerinnen. Wer sich nur an das Gerüste hält, dem mag es scheinen, als ob der Maler des 17. Jahrhunderts hier die Komposition der Schule von Athen wiederholt habe: ein Vordergrund mit ungefähr gleichgewichtigen Gruppen zu beiden Seiten, und hinten, genau in der Mitte, ein erhöhter engerer Raum. Das Bild Raffaels ist ein Hauptbeispiel für den Flächenstil, lauter horizontale Schichten hintereinander. Bei Velasquez ist ein ähnlicher Eindruck, soweit die einzelnen Figuren in Frage kommen, durch die andere Zeichnung natürlich ausgeschlossen, allein auch der Gesamtaufbau hat bei ihm einen anderen Sinn, indem der sonnige Mittelgrund mit einem einseitig rechts liegenden Licht des Vordergrundes korrespondiert und damit von vornherein eine das Bild beherrschende Lichtdiagonale geschaffen ist.

Jedes Bild hat Tiefe, aber die Tiefe wirkt verschieden, je nachdem der Raum in Schichten sich gliedert oder als einheitliche Tiefenbewegung erlebt wird. In der nordischen Malerei des 16. Jahrhunderts ist es Patenier, der 89 mit einer bis dahin unerhörten Ruhe und Klarheit die Landschaft im Hintereinander einzelner Streifen sich dehnen läßt. Besser vielleicht als irgendwo kann man hier fühlen lernen, daß es sich um ein dekoratives Prinzip handelt. Dieser Streifenraum ist nicht ein Notbehelf, die Tiefe darzustellen, sondern man hat Freude am Geschichteten. Es ist die Form, in der das Zeitalter räumliche Schönheit überhaupt genoß. Auch in der Architektur.

Ebenso bleibt die Farbe eine geschichtete. In klaren, ruhigen Abstufungen folgen sich die einzelnen Zonen hintereinander. So wichtig ist die Mitarbeit der farbigen Schichten für den Gesamteindruck einer Patenierschen Landschaft, daß es sich kaum lohnt, eine Abbildung ohne Farbe hierher zu setzen.

Wenn dann später die Farbstufen der Gründe immer weiter auseinandergelegt werden, und ein System von heftiger Farbenperspektive daraus gemacht wird, so sind das Erscheinungen des Überganges zum Tiefenstil, ganz analog der Streifung der Landschaft mit starken Lichtkontrasten. Es sei auf das Beispiel des Jan Brueghel verwiesen. Der eigentliche Gegensatz aber ist erst da gewonnen, wo man gar nicht mehr auf die Vorstellung kommen kann, eine Folge von Streifen vor sich zu haben, sondern wo die Tiefe unmittelbar zum Erlebnis gebracht wird.

Van Goyen: Hütten in Bäumen

Das braucht nicht notwendig mit plastischen Mitteln zu geschehen. In Lichtführung, Farbverteilung und Art der zeichnerischen Perspektive besitzt der Barock Mittel, den Tiefengang zu erzwingen, auch wenn ihm objektiv mit 90 den plastisch-räumlichen Motiven nicht vorgearbeitet ist. Wenn van Goyen seine Dünenhügel diagonal durch das Bild führt, – gut! der Eindruck der Tiefe ist unzweifelhaft so auf direktem Wege erreicht. Und wenn Hobbema in der »Allee von Middelharnis« den bildeinwärts führenden Weg zum Hauptthema macht, so sagen wir wieder: gut! auch das ist typischer Barock. Aber wie gering ist schließlich die Anzahl der Bilder, die auf diese stofflichen Tiefenmotive sich eingelassen haben. In der wundervollen Ansicht der Stadt Delft von Vermeer (Haag) sind die Häuser, das Wasser und das diesseitige Ufer in fast reinen Streifen ausgebreitet. Worin liegt da das Moderne? Man kann das Bild nach der Photographie nicht gut beurteilen. Die Farbe erklärt erst vollkommen, wieso das Ganze so ausgesprochen im Tiefensinn wirkt und wie der Gedanke, als ob die Komposition in Streifenfiguren sich erschöpfe, gar nicht aufkommen kann. Über den beschatteten Vorderraum springt man gleich auf das Rückliegende und die hell leuchtende Gasse, die an einer Stelle in die Tiefe der Stadt führt, würde allein genügen, jede Ähnlichkeit mit Bildern des 16. Jahrhunderts auszuschließen. Ebensowenig hat Ruysdael mit alten Typen etwas zu tun, wenn er in der Fernsicht auf Haarlem einzelne Lichtzungen über das beschattete Land gehen läßt. Das sind nicht – wie bei den Übergangsmeistern – Lichtstreifen, die sich mit bestimmten Formen decken und das Bild in einzelne Teile zerlegen, sondern es sind frei hinhuschende Helligkeiten, die nur mit dem Raumganzen zusammen aufgenommen werden können.

In diesen Zusammenhang würde dann auch das Motiv der »übergroßen« VordergründeJantzen, Die Raumdarstellung bei kleiner Augendistanz (Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft VI, S. 119 ff.). zu stellen sein. Die perspektivische Verkleinerung hat man immer gekannt, aber das Kleine neben das Große setzen, heißt noch lange nicht, den Beschauer zwingen, die zwei Größen im räumlichen Sinne zusammenzudenken. Lionardo rät gelegentlich, durch Vorhalten des Daumens sich zu überzeugen, wie unglaublich klein die ferneren Personen erscheinen, wenn man sie unmittelbar mit der nahgesehenen Form zusammenhält. Er selbst hat sich durchaus gehütet, als Darsteller auf solche Erscheinungsweisen einzugehen. Der Barock dagegen hat das Motiv gern auf gegriffen und durch sehr nahe gewählten Standpunkt die Jähheit des perspektivischen Zusammenschrumpfens erhöht.

Vermeer: Musikstunde

Das ist der Fall bei der »Musikstunde« des Vermeer. Die Komposition scheint sich zunächst nur wenig von dem Schema des 16. Jahrhunderts zu entfernen. Wenn man an Dürers Hieronymus denkt, 91 so ist das Zimmer nicht unähnlich. Die verkürzte Wand zur Linken, der geöffnete Raum zur Rechten; die Rückwand selbstverständlich parallel zum Beschauer und die Decke mit ihrem ebenfalls parallel geführten Balkenwerk scheinbar noch mehr im Sinn der alten Kunst als das von vorn nach hinten laufende Brettergefüge Dürers. Auch in der flächenmäßigen Konsonanz von Tisch und Spinett, die durch den schrägen Stuhl dazwischen nicht wesentlich gestört wird, liegt nichts Modernes. Die Figuren vollends halten sich im reinen Verhältnis des Nebeneinander. Würde die Abbildung mehr von Licht und Farbe enthalten, so müßte sich allerdings die stilistisch neue Haltung des Gemäldes sofort verraten, aber auch so kommen gewisse Motive zum Vorschein, die unbedingt auf barocken Stil weisen. Dahin gehört vor allem die Art der perspektivischen Größenfolge, die auffallenden Dimensionen des Vordergrundes gegenüber dem Hintergrund. Diese jähe Größenabnahme, wie sie bei nahem 92 Standpunkt sich ergibt, wird eine Tiefenbewegung immer erzwingen. Die Wirkung ist dieselbe in der Folge der Möbel wie in der Erscheinung der Fußbodenmuster. Daß der offene Raum als eine Gasse mit überwiegender Tiefenerstreckung sichtbar gemacht ist, ist ein stoffliches Motiv, das im gleichen Sinne arbeitet. – Natürlich ergibt sich auch eine analoge Schärfung des Tiefeneffekts für die Farbperspektive.

J. Ruysdael: Schloß Bentheim (Radierung von W. Unger)

Selbst ein so gehaltener Charakter wie Jakob Ruysdael verwendet gern diese »übergroßen« Vordergründe, um die Tiefenbeziehung zu verstärken. Bei keinem Bilde des klassischen Stils ist ein Vordergrund denkbar, wie ihn das »Schloß Bentheim« zeigt. Blöcke, an sich unbedeutend, sind zu einer Größenerscheinung gebracht, die eine raumperspektivische Bewegung erzeugen müssen. Der Hügel des Hintergrundes mit dem Schloß, auf dem denn doch ein starker Sachakzent liegt, wirkt auffallend klein daneben. Man wird nicht umhin können, die zwei Maße miteinander in Beziehung zu setzen, d. h. das Bild nach der Tiefe zu abzulesen.

Das Gegenstück zu dem gesteigerten Nahblick ist die ins Ungewöhnliche gesteigerte Fernansicht. Es ist dann so viel Raum zwischen die Szene und den Beschauer gelegt, daß die Verkleinerung der gleichen Größen in verschiedenen Plänen unerwartet langsam vor sich geht. Auch dafür bieten Vermeer (in der Ansicht von Delft) und Ruysdael (in dem Blick auf Haarlem) gute Beispiele.

Daß Hell und Dunkel, als kontrastierende Folie verwendet, die plastische Illusion erhöht, ist immer bekannt gewesen und Lionardo fordert im 93 besonderen, daß man dafür sorgen solle, die hellen Teile der Form auf Dunkel und die dunkeln auf Hell abzusetzen. Aber es ist etwas anderes, wenn nun ein dunkler Körper sich vor den hellen schiebt, ihn teilweise deckend, wo das Auge das Helle sucht und es doch nur fassen kann in seinem Verhältnis zu der vorgelagerten Form, der gegenüber es also stets als etwas Zurückliegendes erscheinen muß. Aufs Ganze übertragen ergibt sich daraus das wichtige Motiv des dunkeln Vordergrundes.

Überschneidung und Rahmung sind beide alter Kunstbesitz. Aber die Barockkulisse und der Barockrahmen haben eine besondere zurücktreibende Kraft, die man früher nicht gesucht hat. So ist es ein typisch barocker Einfall, wenn Jan Steen eine Schöne malt, die, hinten im Zimmer mit ihren Strümpfen beschäftigt, in der dunklen Umrahmung der Eingangstüre sichtbar wird (Buckingham-Palast). Auch die Stanzenbilder Raffaels haben die Torbogenumrahmung, aber das Motiv ist dort gar nicht im Tiefensinn wirksam gemacht. Wenn dagegen jetzt die Figur von vornherein als etwas Zurückgeschobenes gegenüber einem Vorgelagerten erscheint, so ist das derselbe Gedanke, den die barocke Architektur im großen durchgeführt hat. Die Kolonnaden des Bernini sind erst auf der Basis solcher Tiefenempfindung möglich gewesen.

 

3.
Betrachtung nach Stoffen

Die Betrachtung nach formalen Motiven läßt sich ergänzen durch eine rein ikonographisch angelegte Betrachtung nach einzelnen Bildstoffen. Wenn ein Vollständigkeit im bisherigen sowieso nicht erreicht werden konnte, so wird eine solche ikonographische Gegenprobe wenigstens den Verdacht zerstreuen, als seien nur einseitig gewisse außerordentliche Fälle aufgegriffen worden.

Das Porträt scheint am wenigsten ergiebig zu sein für unsere Begriffe, da es sich hier ja gewöhnlich nur um eine einzelne Figur handelt und nicht um mehrere, die in das Verhältnis des Neben- oder Hintereinander gebracht werden könnten. Allein darauf kommt es ja gar nicht an. Auch bei der Einzelfigur lassen sich die Formen so anordnen, daß der Eindruck einer Flächenschicht entsteht, und die objektiv-räumlichen Schiebungen sind ja nur der Anfang, aber nicht das Ende. Ein auf die Brüstung gelegter Arm wird bei Holbein immer so verwertet sein, daß sich die bestimmte Vorstellung einer vorderen Raumebene erzeugt; wenn Rembrandt das Motiv wiederholt, so kann im Materiellen alles gleich sein, aber der Flächeneindruck kommt doch 94 nicht zustande, soll nicht zustande kommen. Die optischen Akzente sind so gesetzt, daß alle anderen Bindungen dem Beschauer natürlicher sind als gerade die Bindungen in der Fläche. Fälle von reiner Frontalität finden sich hüben und drüben, aber Holbeins Anna von Cleve (Louvre) wirkt ganz mauermäßig, während Rembrandt dieser Wirkung auch dann entgeht, wenn er nicht von vornherein, etwa durch einen nach außen gestreckten Arm, ihr entgegenarbeitet. Es sind die Jugendbilder, wo er mit solchen gewaltsamen Mitteln modern sein will: ich denke an die blumenreichende Saskia der Dresdner Galerie. Später ist er überall ruhig und hat doch die barocke Tiefe. Fragt man aber, wie der klassische Holbein das Saskiamotiv behandelt haben würde, so könnte man auf das reizvolle Bild des Mädchens mit dem Apfel in der Berliner Galerie (No. 570) verweisen: es ist kein Holbein, sondern steht dem jungen Moro nahe, aber diese flächenmäßige Behandlung des Themas würde von Holbein grundsätzlich gebilligt worden sein.

Für elementare Demonstrationszwecke bleiben natürlich die reicheren Themata der Erzählung, des Landschafts- und Sittenbildes die dankbareren. 95 Wir wollen, nachdem einzelnes schon oben analysiert worden ist, noch ein paar Querschnitte im ikonographischen Sinne machen.

Tiepolo: Das Abendmahl

Lionardos Abendmahl ist das erste große Beispiel des klassischen Flächenstils. Stoff und Stil scheinen dabei so sehr sich gegenseitig zu bedingen, daß es sein besonderes Interesse hat, gerade hier das Gegenbeispiel der entwerteten Fläche aufzusuchen. Sie kann mit der Schrägstellung des Tisches erzwungen werden und Tintoretto z. B. hat es so versucht, aber es ist nicht notwendig, zu diesem Mittel zu greifen. Ohne darauf zu verzichten, den Tisch parallel zum Bildrand zu orientieren und dieser Orientierung in der Architektur eine Resonanz zu geben, hat Tiepolo ein Abendmahl komponiert, das als Kunstwerk mit Lionardo sich nicht vergleichen darf, aber stilistisch rein das Gegenspiel darstellt. Die Figuren binden sich nicht in der Fläche und das entscheidet. Man kann Christus nicht lösen aus der Beziehung zu der Gruppe der Jünger schräg vor ihm, die wegen ihrer Masse und wegen des Zusammentreffens von tiefem Schatten und höchstem Licht optisch den Hauptakzent haben. Man mag wollen oder nicht: mit allen Mitteln wird das 96 Auge auf diesen Punkt geleitet und neben der Tiefenspannung zwischen dieser Vorgruppe und der rückwärtigen Zentralfigur treten die Elemente der Ebene durchaus in zweite Linie zurück. Das ist etwas ganz anderes als jene isolierten Judasfiguren der primitiven Kunst, die nur als kümmerliches Anhängsel erscheinen, unfähig, den Blick weiterzuführen. Daß das Motiv der Tiefe bei Tiepolo dann nicht bloß einmalig angeschlagen wird, sondern in mannigfaltigem Echo weiterklingt, ist selbstverständlich.

Baroccio: Abendmahl

Von entwicklungsgeschichtlichen Zwischengliedern nehmen wir nur den einen Baroccio heraus, der in lehrreicher Weise zeigt, wie sich zunächst der Flächenstil mit Tiefe durchsetzt. Das Bild geht mit großer Dringlichkeit auf Tiefengänge ein. Von links vorn, namentlich aber von rechts vorn werden wir über verschiedene Stationen zu Christus hingeführt. Wenn dadurch Baroccio mehr Tiefe besitzt als Lionardo, so ist er ihm doch darin noch verwandt, daß die Schichtung in einzelnen Raumstreifen deutlich erhalten geblieben ist.

Pieter Brueghel d. Ä.: Bauernhochzeit

Das unterscheidet den Italiener von einem nordischen Maler des Übergangs wie Pieter Brueghel. Seine Bauernhochzeit ist dem Stoff nach dem Abendmahl nicht ungleich: ein langer Tisch mit der Braut als Mittelfigur. Die Komposition hat aber mit Lionardos Bild kaum einen Faden gemein. Die Braut ist zwar ausgezeichnet durch den hinter ihr aufgehängten Teppich, in der Größenerscheinung ist sie aber sehr klein. Dabei ist nun das 97 stilgeschichtlich Wichtige, daß sie unmittelbar mit den großen Vordergrundsfiguren zusammen gesehen werden muß. Der Blick sucht sie als den ideellen Mittelpunkt und wird schon darum das Perspektivisch-Kleine mit dem Perspektivisch-Großen zusammennehmen; damit man aber ja nicht ausweichen kann, ist durch die Bewegung des Sitzenden, der die Schüsseln von dem Servierbrett – einer ausgehängten Türe – nimmt und weitergibt, für die Verbindung von vorn nach hinten auf weitere Art gesorgt (vgl. das ganz ähnliche Motiv bei Baroccio). Kleine Figuren in den zurückliegenden Gründen hat es auch früher gegeben, aber sie binden sich nicht mit den vorderen großen. Hier ist geschehen, was Lionardo theoretisch kannte, aber praktisch vermied: die Nebeneinanderstellung real gleicher Größen in sehr ungleicher Erscheinung, wobei das Neue in dem Zwang des Zusammensehens liegt. Brueghel ist noch nicht Vermeer, aber er hat den Vermeer vorbereitet. Das Motiv der Schrägstellung von Tisch und Wand kommt hinzu, das Bild der Fläche zu entfremden. Dafür nimmt die Füllung der beiden Ecken wieder darauf Bezug.

Die große Beweinung des Quinten Massys von 1511 (Antwerpen) ist »klassisch«, weil die führenden Personen alle ganz deutlich in die Fläche sich einstellen. Christus begleitet ganz rein die horizontale Grundlinie des Bildes, Magdalena und Nicodemus ergänzen die Schicht zur vollen Breite der Tafel. Die Körper sind mit ihren Extremitäten reliefhaft-flächig auseinandergezogen, und auch aus den hinteren Reihen unterbricht kaum eine Gebärde diese Stimmung des Ruhig-Geschichteten. Sie wird schließlich auch von der Landschaft aufgenommen.

Nach dem Vorausgeschickten ist es kaum nötig zu erklären, daß diese Planimetrie keine primitive Form ist. Die Generation vor Massys hatte ihren großen Meister in Hugo van der Goes. Nimmt man sein bekanntes Hauptwerk, die Anbetung der Hirten in Florenz, so sieht man gleich, wie wenig Vorliebe für die Fläche diese nordischen Quattrocentisten gehabt haben, wie sie mit den Mitteln des Einwärtsrückens und Hinterstellens der Figur sich die Tiefe zu erschließen suchen und dabei eben zerstreut und brüchig wirken. In dem kleinen Bild von Wien haben wir dann die genaue stoffliche Parallele zur Beweinung des Massys: auch da ist es eine ausgesprochene Tiefenstaffelung und der Leichnam ist schräg bildeinwärts genommen.

Diese Schrägführung ist, obwohl nicht die einzige Formel, doch typisch. Mit dem 16. Jahrhundert verschwindet sie dann fast vollständig. Wird der Leichnam dennoch verkürzt dargestellt, so ist auf andere Weise dafür gesorgt, daß er den »planimetrischen Habitus« des Bildes nicht störe. Dürer, 98 der in seinen frühen Beweinungen sich entschieden zu einem Christus in der Fläche bekennt, hat später auch hie und da den Körper verkürzt gegeben, am schönsten in der großen Zeichnung in Bremen (L. 117). Ein malerisches Hauptbeispiel ist die Beweinung mit Stiftern des Joos van Cleve (Meister des Marientodes) im Louvre. In solchen Fällen wirkt die verkürzte Form dann eben wie eine Öffnung in der Mauer; entscheidend bleibt, daß eine Mauer überhaupt da ist. Diese Wirkung haben die Früheren auch dann nicht erreicht, wenn sie sich dem Bildrand parallel halten.

Als klassisches Gegenstück aus dem Süden kann man Fra Bartolommeos Beweinung von 1517 (Florenz, Pitti) anführen. Noch mehr flächige Gebundenheit. Noch mehr der Stil des strengen Reliefs. Vollkommen frei bewegt, gehen die Figuren doch so nah zusammen, daß man die vordere Schicht leibhaftig zu spüren glaubt. Das Bild gewinnt dadurch eine Ruhe und Stille, der sich kaum ein moderner Betrachter verschließen wird, allein es wäre doch falsch zu sagen, nur um der Stille der Leidensgeschichte willen sei die Erscheinung zu dieser Geschlossenheit gesammelt worden. Man darf nicht vergessen, daß dieser Modus damals ein allgemeiner war, und wenn eine Absicht auf besonders feierliche Gehaltenheit nicht geleugnet werden soll, so kann der Eindruck für das damalige Publikum doch nicht der gleiche gewesen sein wie für uns, die wir ganz andere Voraussetzungen mitbringen. Der springende Punkt im Problem aber ist der, daß das 17. Jahrhundert selbst da, wo es die Ruhe suchte, nicht mehr auf diesen Darstellungsstil zurückgreifen konnte. Das gilt selbst für den Archaisten Poussin.

Die echt barocke Umkehrung im Beweinungsbild finden wir bei Rubens in dem meisterlichen Stück von 1614 (Wien), wo die Verkürzung des Leichnams fast erschreckend wirkt. Die Verkürzung an sich macht das Bild noch nicht zum Barockbild, allein hier haben nun die Tiefenelemente im Bild ein so bedeutendes Gewicht bekommen, daß jener renaissancemäßige Flächeneindruck vollständig aufgehoben ist, und der verkürzte Körper ganz allein stößt allerdings auch durch den Raum mit einer Gewalt, die früher nicht bekannt war.

Am stärksten spricht die Tiefe, wenn sie sich als Bewegung offenbaren kann, daher denn ein rechtes Bravourstück des Barock die Umsetzung des Themas einer bewegten Menge aus der Fläche in die dritte Dimension gewesen ist. Die Kreuztragung enthält dieses Thema. Wir besitzen es in klassischer Redaktion in dem sog. Spasimo di Sicilia (Madrid), ein Bild, über dem noch die ordnende Kraft Raffaels gewaltet hat. Der Zug kommt aus der Tiefe, aber die Komposition ist ganz fest in die Fläche eingestellt. 100

Die wundervolle Zeichnung Dürers in der kleinen Holzschnittpassion, die Raffael für das Hauptmotiv benützt hat, ist trotz aller Unscheinbarkeit der Dimension ebenso wie die gestochene kleine Kreuztragung ein vollkommen reines Beispiel klassischen Flächenstils. Und Dürer hat sich hier weniger als Raffael auf eine schon bestehende Tradition stützen können. Unter seinen Vorgängern hat zwar Schongauer schon ein merkwürdig waches Gefühl für Fläche, aber doch hebt sich bei jeder Vergleichung mit ihm die Dürersche Kunst immer als die erst eigentlich flächenmäßige heraus und gerade die große Kreuztragung Schongauers ist noch wenig zur Fläche geeint.

Rubens: Kreuztragung (Stich des P. Pontius)

Das barocke Gegenstück zu Raffael und Dürer – wir geben es in der Kreuztragung des Rubens (Stich des P. Pontius, mit einer dem Gemälde in Brüssel vorausgehenden Variante). Höchst brillant der Zug nach der Tiefe zu entwickelt und durch eine Aufwärtsbewegung noch interessanter gemacht. Das Stilistisch-Neue, das wir suchen, liegt nun freilich nicht im bloßen stofflichen Motiv des Bewegungszuges, sondern, da es sich um ein Prinzip der Darstellung handelt, in der Art der Durchführung des Themas: wie alle in die Tiefe führenden Momente für das Auge herausgeholt sind und umgekehrt alles, was die Fläche betonen würde, zurückgedrängt ist. 101

Eben darum können auch Rembrandt und seine holländischen Zeitgenossen, ohne daß sie so stürmisch wie Rubens mit plastischen Mitteln den Raum erschließen, an dem barocken Prinzip tiefenhafter Darstellung teilnehmen: in der Entwertung der Fläche oder dem Unscheinbarmachen der Fläche treffen sie sich mit Rubens, den Reiz der Tiefenbewegung aber gewinnen sie vorzüglich mit malerischen Mitteln.

Rembrandt: Der barmherzige Samariter

Auch Rembrandt hat ursprünglich mit einem lebhaften Hintereinander der Figur gearbeitet – wir haben oben bereits auf seine Radierung des barmherzigen Samariters hingewiesen –, wenn er später die gleiche Geschichte mit einer fast völlig streifenförmigen Abwicklung der Figuren erzählt, so bedeutet das keine Umkehr zur Form eines vergangenen Jahrhunderts: durch die Führung des Lichtes wird die von den Gegenständen markierte Fläche im Eindruck wieder aufgehoben oder doch zum sekundären Motiv herabgedrückt. Keinem Menschen wird es einfallen, das Bild reliefmäßig auffassen zu wollen. Zu deutlich merkt man, wie die Figurenschicht mit dem eigentlichen Lebensinhalt des Bildes gar nicht zusammenfällt.

Das große Ecce homo (Radierung von 1650) ist ein analoger Fall. Bekanntlich geht das Schema der Komposition auf einen Cinquecentisten, den Lucas van Leyden zurück. Eine Hauswand und eine Terrasse davor, ganz frontal gesehen; Leute, die sich auf der Terrasse, vor der Terrasse reihenmäßig nebeneinandergestellt haben – wie ist daraus eine Barockerscheinung zu gewinnen? Man lernt bei Rembrandt, daß es nicht auf die Sache ankommt, 102 sondern auf die Behandlung. Während Lucas van Leyden sich in lauter Flächenbildern erschöpft, ist die Zeichnung Rembrandts so sehr mit Tiefenmotiven durchsetzt, daß der Beschauer, was materiell an Fläche vorkommt, zwar sieht, aber doch nur als das mehr oder weniger zufällige Substrat einer ganz anders gearteten Erscheinung gelten lassen wird.

Aertsen: Küchenstück

Für die holländischen Genremaler des 16. Jahrhunderts haben wir in demselben Lucas van Leyden, in Pieter Aertsen und Averkamp ein breites Vergleichsmaterial. Auch hier, in sittenbildlichen Darstellungen, wo eine Verpflichtung zu irgend einer feierlichen Art der Inszenierung gewiß nicht vorlag, halten sich die Maler des 16. Jahrhunderts an das Schema des strengen Reliefs. Die Figuren am Rand bilden eine erste Schicht, bald vollständig durchgeführt durch die Breite des Bildes, bald nur als Andeutung, und was nach rückwärts weiter folgt, gliedert sich in derselben Weise. So behandelt Pieter Aertsen seine Interieurszenen und so sind noch bei dem etwas jüngeren Averkamp die Bilder mit Schlittschuhläufern gebaut. Allmählich aber löst sich der Zusammenhang der Fläche, die Motive mehren sich, die entschieden von vorn nach hinten weisen, bis schließlich das ganze Bild in dem Sinne ummodelliert ist, daß horizontale Bindungen nicht mehr möglich sind oder nicht mehr als dem Sinn der Erscheinung entsprechend empfunden werden. Man 103 muß ein Eisbild des Adrian van de Velde mit Averkamp vergleichen oder ein ländliches Interieur des Ostade mit einem Küchenbild des Pieter Aertsen. Am interessantesten aber werden die Beispiele sein, wo nicht mit dem Reichtum »malerischer« Räumlichkeiten operiert wird, sondern wo schlicht und klar die frontal gesehene Rückwand eines Zimmers die Szene schließt. Es ist das Lieblingsthema des Pieter de Hooch. Da ist es dann wieder die Art dieses Stils, das räumliche Gerüste seines Schichten- und Flächencharakters zu entkleiden und durch Lichtführung und Farbe das Auge auf andere Wege zu leiten. In dem Berliner Bild des Pieter de Hooch, die Mutter mit dem Kind in der Wiege, geht die Bewegung diagonal nach der Tiefe, dem hellen Licht an der Ausgangstüre entgegen. Trotzdem der Raum frontal gesehen ist, wäre dem Bild mit Breitenschnitten nicht beizukommen.

Dürer: Landschaft mit der Kanone

Zum Problem der Landschaft ist oben bereits einiges beigebracht worden, um zu zeigen, wie der klassische Typ des Patenier in mehrfacher Weise in den Barocktyp übergeführt worden ist. Vielleicht ist es nicht überflüssig, noch einmal auf das Thema zurückzukommen im Sinne der Mahnung, die zwei Typen als in sich geschlossene Mächte in ihrer ganzen historischen Bedeutung sich vorzustellen. Man muß erkannt haben, daß die Raumform, die 104 Patenier vorträgt, identisch ist mit dem, was Dürer z. B. in der (radierten) Landschaft mit der Kanone gibt und daß der größte italienische Landschafter der Renaissance, Tizian, in dem Streifenschema sich mit Patenier vollkommen deckt.

Was auf den unhistorischen Betrachter bei Dürer als Befangenheit wirkt, die parallele Ordnung von Vordergrund, Mittelgrund, Hintergrund, ist gerade der Fortschritt einer sehr klaren Übertragung des Zeitideals auf die besondere Aufgabe der Landschaft. So bestimmt muß der Boden sich schichten, so flächenmäßig muß das Dörfchen innerhalb seiner Zone sich darstellen. Gewiß hat Tizian die Natur freier und größer aufgefaßt, aber – man sieht das vor allem in seinen Zeichnungen – die Auffassung ist durchweg getragen von dem gleichen, das Flächige suchenden Geschmack.

Rembrandt: Landschaft mit Jäger

So verschieden dann auf der andern Seite Rubens und Rembrandt uns erscheinen mögen, für beide hat sich doch in ganz übereinstimmender Weise die Raumdarstellung verschoben: der Tiefenzug dominiert und nichts verfestigt sich streifenmäßig. Einwärts führende Wege, verkürzt gesehene Alleen kommen auch früher vor, aber sie haben nie das Bild beherrscht. Jetzt sind es gerade solche Motive, auf denen der Ton liegt. Das Hintereinander der Formen ist die Hauptsache, nicht wie sich die Dinge von rechts und links her die Hand reichen. Das Gegenständliche kann aber auch ganz fehlen und dann triumphiert die neue Kunst erst ganz, dann ist es die allgemeine Raumtiefe, die der Beschauer als ein einheitliches Ganzes in einem Atemzug aufnehmen soll.

Pieter Brueghel d. Ä.: Winterlandschaft

Je deutlicher der Gegensatz der Typen erkannt ist, um so interessanter wird die Geschichte des Übergangs. Schon die nächste Generation nach Dürer, die Hirschvogel und Lautensack, haben mit dem Ideal der Fläche gebrochen. In den Niederlanden ist der alte Pieter Brueghel auch hier der geniale Neuerer, der von Patenier weg unmittelbar auf Rubens hinweist. Wir können uns nicht versagen, seine Winterlandschaft mit den Jägern als Schlußillustration dieses Abschnittes zu bringen, sie kann nach beiden Polen hin aufklärend wirken. Auf der rechten Seite, im Mittel- und Hintergrund hat das Bild noch manches, was an den alten Stil gemahnt, aber mit dem gewaltigen Motiv der Bäume, die von links her über den Rücken des Hügels zu den perspektivisch schon sehr kleinen Häusern der Tiefe führen, ist ein entscheidender Schritt in die neue Zeit gemacht. Durchgreifend von unten bis oben, das Bild füllend bis zur Mitte, erzeugen sie eine Tiefenbewegung, die auch die widerstrebenden Teile nicht unberührt läßt. Der Trupp der Jäger mit den Hunden läuft im selben Bewegungszug und schärft die Kraft der Baumreihe. Häuser und Hügellinien, gegen den Rand hin, schließen sich begleitend an. 106

 

4.
Historisches und Nationales

Es ist ein überaus merkwürdiges Schauspiel, wie sich um das Jahr 1500 überall der Wille zur Fläche durchsetzt. Je mehr die Kunst die Befangenheit einer primitiven Anschauung überwand, die bei dem deutlichsten Wollen, von dem Bloß-Flächenmäßigen loszukommen, doch mit einem Fuße immer darin verstrickt blieb, je mehr die Kunst mit den Mitteln der Verkürzung und der Raumtiefe vollkommen sicher umzugehen wußte, um so entschiedener meldet sich das Verlangen nach Bildern, die ihren Inhalt in einer klaren Fläche gesammelt haben. Diese klassische Fläche wirkt ganz anders als die primitive Fläche, nicht nur weil der Zusammenhang der Teile ein gefühlterer ist, sondern weil sie durchsetzt ist mit Kontrastmotiven: erst durch die bildeinwärts führenden Momente der Verkürzung kommt der Charakter des flächig Gebreiteten und Zusammengeschlossenen ganz zur Geltung. Die Forderung der Fläche bedingt nicht, daß alles in einer Ebene ausgerichtet sei, aber Hauptformen müssen in einer gemeinsamen Ebene liegen. Die Fläche muß immer wieder als die Grundform durchschlagen. Es gibt kein Bild des 15. Jahrhunderts, das als Ganzes die flächige Bestimmtheit von Raffaels Sixtinischer Madonna besäße, und wieder ist es ein Merkmal des klassischen Stils, wie 107 innerhalb des Ganzen das Kind bei Raffael, trotz aller Verkürzung, mit größter Bestimmtheit in die Fläche sich einstellt.

Die Primitiven haben viel mehr versucht, die Fläche zu überwinden, als sie auszubilden.

Botticini: Die drei Erzengel

Wenn die drei Erzengel dargestellt werden, so gibt sie ein Quattrocentist wie Botticini auf einem sehr bekannten Bilde in schräger Reihe, die Hochrenaissance (Caroto) stellt sie in gerader Linie auf. Mag sein, daß jene Schrägstellung als die lebendigere Form für eine schreitende Gesellschaft empfunden worden ist, jedenfalls hat das 16. Jahrhundert das Bedürfnis gehabt, das Thema anders zu redigieren.

Caroto: Die drei Erzengel

Gerade Reihenstellungen kommen natürlich immer schon vor, allein eine Komposition wie Botticellis Primavera würden die Spätern als zu dünn, zu unfest beurteilt haben; es fehlt der bündige Schluß, den die Klassiker auch da erreichen, wo die Figuren in großen Abständen sich folgen, ja wo eine ganze Seite offen gelassen ist. Im Bedürfnis nach Tiefe und aus dem Wunsche heraus, nur ja nicht flach zu erscheinen, haben die älteren Künstler gern einzelne auffällige Stücke im Bilde schräggestellt, namentlich tektonische Stücke, bei denen die verkürzte Erscheinung sich leicht ergab. Man 108 erinnert sich an den etwas aufdringlichen Effekt des verkürzten Sarkophages bei Auferstehungen. Wohlgemut verdirbt sich im Hofer Altar (München) durch die schrille Linie ganz die Einfalt seiner frontalen Hauptfigur. Ein Italiener wie Ghirlandajo bringt mit derselben Schrägform eine überflüssige Unruhe in seine Anbetung der Hirten (Florenz, Akademie), obwohl gerade er anderwärts dem klassischen Stil mit ernsten Schichtungen der Figuren mächtig vorgearbeitet hat.

Versuche, direkte Tiefenbewegungen herzustellen, z. B. einen Zug von Menschen aus der Tiefe her zu entwickeln, sind im 15. Jahrhundert durchaus nicht selten, namentlich in der nordischen Kunst, sie wirken aber als verfrüht, weil der Zusammenhang zwischen dem Vorderen und dem Rückwärtigen nicht anschaulich wird. Typisches Beispiel: Der Zug der Leute auf Schongauers Kupferstich der Anbetung der Könige. Verwandt das Motiv im Tempelgang Mariä beim »Meister des Marienlebens« (München), wo das nach der Tiefe schreitende Mädchen mit den Figuren des Vordergrundes alle Verbindung verloren hat.

Meister des Marienlebens: Die Geburt der Maria

Für den einfachen Fall der in verschiedenen Tiefenabständen belebten Bühne, ohne ausgesprochene Bewegung nach oder aus der Tiefe, ist das Geburtsbild desselben »Meisters des Marienlebens« in München lehrreich: der 109 Flächenzusammenhang ist hier fast völlig zerrissen. Wenn dagegen bei einer stofflich ähnlichen Aufgabe ein Maler des 16. Jahrhunderts, der »Meister des Todes Mariä«, das Sterbebett und die Gesellschaft im Raum zu einer vollkommen ruhigen Schichtung hat bringen können, so ist es nicht nur die besser verstandene Perspektive, die da Wunder getan hat, sondern es ist das neue – dekorative – Flächengefühl, ohne das die Perspektive nicht viel genützt hätteDie Abbildung läßt freilich die ordnende Kraft der Farbe schmerzlich vermissen..

Meister des Todes Mariä (Joos van Cleve): Der Tod der Maria

Das unruhig zerrissene Wochenstubenbild des nordischen Primitiven ist aber auch interessant als Gegensatz zu der zeitgenössischen Kunst Italiens. Man kann da gut sehen, was es für eine Bewandtnis hat mit dem italienischen Instinkt für Fläche. Neben den Niederländern und gar neben den Oberdeutschen erscheinen die Italiener des 15. Jahrhunderts merkwürdig zurückhaltend. Mit ihrem klaren Raumgefühl riskieren sie viel weniger, eben weil sie die Gefahr kennen. Es ist als ob sie die Blume nicht hätten aufreißen wollen, bevor sie von selbst sich erschlösse. Aber dieser Ausdruck hat etwas Schiefes. Man hält nicht zurück aus Ängstlichkeit, sondern ergreift die Fläche mit freudigem Wollen. Die streng geschichteten Reihen in den Historien des Ghirlandajo und des Carpaccio, sind nicht Befangenheiten einer noch unfreien Empfindung, sondern die Vorahnung einer neuen Schönheit. 110

Und genau so ist es in der Zeichnung der Einzelfigur. Ein Blatt wie Pollaiuolos Stich der kämpfenden Männer mit seiner fast rein planimetrischen Haltung der Körper, schon in Florenz ungewöhnlich, wäre im Norden ganz undenkbar. Es fehlt zwar dieser Zeichnung noch die volle Freiheit, um die Fläche als etwas Selbstverständliches erscheinen zu lassen, trotzdem wollen solche Fälle nicht als archaische Rückständigkeit beurteilt werden, sondern als Verheißung des kommenden klassischen Stils. –

Wir haben hier Begriffe zu erörtern unternommen und nicht Geschichte zu geben, aber es ist unumgänglich, die Vorstufen kennen zu lernen, wenn man vom klassischen Typus des Flächenhaften den richtigen Eindruck bekommen will. Im Süden, wo die Fläche ihre eigentliche Heimat zu haben scheint, muß man für Grade flächiger Wirkung sich empfindlich machen, im Norden muß man die widerstrebenden Kräfte am Werk gesehen haben. Aber nun mit dem 16. Jahrhundert beginnt ein vollkommenes Flächengefühl die Darstellung im ganzen Umkreis siegreich zu beherrschen. Überall ist es da – in der Landschaft des Tizian und des Patenier, in der Historie Dürers und Raffaels, ja, die einzelne Figur im Rahmen fängt auf einmal an, mit Entschiedenheit sich in die Fläche einzustellen. Ein Sebastian des Liberale da Verona ist ganz anders flächenhaft verfestigt als ein Sebastian des Botticelli, der daneben leicht etwas Unsicheres in der Erscheinung bekommt; ein liegender Frauenakt scheint erst in der Zeichnung des Giorgione, des Tizian und Cariani zum wahren Flächenbild geworden zu sein, trotzdem die Primitiven (Botticelli, Piero di Cosimo u. a.) das Thema ja schon ganz ähnlich angefaßt hatten. Ein und dasselbe Motiv, ein rein frontaler Kruzifixus, wirkt im 15. Jahrhundert noch wie ein fadenscheiniges Gewebe, während das 16. Jahrhundert ihm den Charakter einer geschlossenen und nachdrücklich wirkenden Flächenerscheinung zu geben weiß. Ein Prachtbeispiel dafür ist das große Golgatha Grünewalds auf dem Isenheimer Altar, wo in einer bisher unerhörten Weise der Gekreuzigte mit seiner Begleitung zum Eindruck einer einheitlichen belebten Fläche zusammengenommen ist.

Der Prozeß der Zersetzung dieser klassischen Fläche geht ganz parallel dem Prozeß der Entwertung der Linie. Wer einmal diese Geschichte schreibt, wird bei denselben Namen haltmachen müssen, die für die Entwicklung des malerischen Stils bedeutsam sind. Correggio steht auch hier als Vorläufer des Barock zwischen den Cinquecentisten. In Venedig ist es Tintoretto, der mächtig an der Zertrümmerung des Flächenideals gearbeitet hat, und bei Greco ist fast nichts mehr davon zu spüren. Reaktionäre der Linie wie 111 Poussin sind auch Reaktionäre der Fläche. Und doch, wer könnte in Poussin trotz allem »klassischen« Wollen den Mann des 17. Jahrhunderts verkennen!

Wie in der Entwicklungsgeschichte des Malerischen gehen die plastisch-tiefenhaften Motive den bloß optischen voraus, wobei der Norden immer einen Vorsprung vor dem Süden für sich in Anspruch nehmen darf.

Es ist unverkennbar, daß die Nationen von Anfang an sich scheiden. Es gibt Eigentümlichkeiten nationaler Phantasie, die in allem Wechsel sich konstant erhalten. Italien hat den Instinkt für Fläche immer stärker besessen als der germanische Norden, dem das Aufwühlen der Tiefe im Blute steckt. So wenig zu leugnen ist, daß die italienische Flächenklassik eine Stilparallele diesseits der Alpen besitzt, so sehr macht sich andererseits der Unterschied bemerkbar: daß die reine Fläche hier bald als Beschränkung empfunden und nicht lange ertragen worden ist. Den Konsequenzen aber, die der nordische Barock aus dem Tiefenprinzip gezogen hat, hat der Süden nur von ferne folgen können.

 


 


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