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Jedes Zeitalter hat von seiner Kunst verlangt, daß sie klar sei, und es ist immer ein Vorwurf gewesen, wenn man die Darstellung unklar genannt hat. Aber das Wort hat doch im 16. Jahrhundert einen andern Sinn gehabt als später. Für die klassische Kunst ist alle Schönheit gebunden an die restlose Offenbarung der Form, im Barock verdunkelt sich die absolute Klarheit selbst da, wo die Absicht auf vollkommene Sachlichkeit geht. Die Bilderscheinung fällt nicht mehr zusammen mit dem Maximum gegenständlicher Deutlichkeit, sondern weicht ihm aus.
Nun ist es ja bekannt, daß jede fortschreitende Kunst die Aufgabe für das Auge schwerer und schwerer zu machen sucht, das heißt, wenn erst einmal das Problem der klaren Darstellung erfaßt ist, wird es sich von selber ergeben, daß der Auffassung gewisse Schwierigkeiten in den Weg gelegt werden, daß die Bildform sich kompliziert und daß der Beschauer, dem das Einfache allzu durchsichtig geworden ist, in der Lösung der verwickelteren Aufgabe einen Reiz empfindet. Allein die barocke Verunklärung des Bildes, von der wir zu sprechen haben, würde doch nur teilweise als Reizsteigerung in diesem Sinne begriffen werden können. Das Phänomen ist von tieferer und umfassenderer Art. Nicht um die erschwerte Lösbarkeit eines Rätsels, das schließlich doch geraten werden kann, handelt es sich, sondern hier bleibt immer ein ungeklärter Rest übrig. Der Stil absoluter und relativer Klarheit ist ein Darstellungsgegensatz, der mit den bisherigen Begriffen durchaus parallel geht. Er entspricht zwei verschiedenen Grundanschauungen und es ist mehr als das bloße Verlangen nach Reizsteigerung einer erschwerten Perzeption, wenn der Barock die alte Schaustellung der Form im Bildwerk als etwas Unnatürliches empfindet, das ihm zu wiederholen unmöglich ist.
Während die klassische Kunst alle Darstellungsmittel in den Dienst der deutlichen Formerscheinung stellt, ist hier grundsätzlich der Schein vermieden, als ob das Bild für die Anschauung zurechtgemacht sei und jemals ganz in Anschauung aufgehen könne. Ich sage: es ist der Schein vermieden, in 205 Wirklichkeit ist natürlich doch das Ganze auf den Beschauer und seine Augenbedürfnisse berechnet. Jede wirkliche Unklarheit ist unkünstlerisch. Aber – paradox gesprochen – es gibt auch eine Klarheit des Unklaren. Die Kunst bleibt Kunst, auch wenn sie das Ideal der vollen gegenständlichen Klarheit aufgibt. Das 17. Jahrhundert hat in der Dunkelheit, die die Form verschlingt, eine Schönheit gefunden. Der Stil der Bewegung, der Impressionismus, ist von Hause aus auf eine gewisse Unklarheit eingestellt. Sie wird aufgenommen, nicht als Ergebnis einer naturalistischen Auffassung – weil die Sichtbarkeit nun eben einmal nicht völlig klare Bilder liefere –, sondern weil ein Geschmack für die schwebende Klarheit da ist. Dadurch erst ist der Impressionismus möglich geworden. Seine Voraussetzungen liegen auf dekorativem, nicht bloß auf imitativem Feld.
Umgekehrt hat Holbein genau gewußt, daß die Dinge in der Natur nicht so erscheinen wie in seinen Bildern, daß man die Ränder der Körper nicht in der gleichmäßigen Schärfe sieht, wie er es darstellt, und daß für den wirklichen Anblick die Einzelformen von Schmuck, Stickereien, Bart und dergleichen mehr oder weniger verloren gehen. Er würde aber den Hinweis auf das gewöhnliche Sehen nicht als Kritik haben gelten lassen. Für ihn gab es nur eine Schönheit der absoluten Klarheit. Und eben im Geltendmachen dieser Forderung sah er den Unterschied von Kunst und Natur.
Es hat vor und neben Holbein Künstler gegeben, die weniger streng oder, wenn man will, mehr modern dachten. Das ändert nichts an der Tatsache, daß er die Höhe der einen Stilkurve repräsentiert. – Allgemein aber muß gesagt werden, daß der Begriff Klarheit im qualitativen Sinne für den Unterschied der zwei Stile nicht in Betracht kommen kann. Hier handelt es sich um ein verschiedenes Wollen, nicht um ein verschiedenes Können und die »Unklarheit« des Barock hat die klassische Klarheit, durch die die Entwicklung hindurchgegangen ist, immer zur Voraussetzung. Ein qualitativer Unterschied besteht nur zwischen der Kunst der Primitiven und der Kunst der Klassiker: der Begriff der Klarheit ist nicht von Anfang an da, sondern hat erst allmählich gewonnen werden müssen.
Jede Form hat gewisse Erscheinungsweisen, in denen der höchste Grad von Deutlichkeit liegt. Dahin gehört zunächst, daß sie bis in alle Enden hinein sichtbar sei. Kein Mensch nun wird erwarten, daß auf einem vielfigurigen Historienbild alle Leute nach Händen und Füßen klargemacht werden müßten 206 und auch der strenge klassische Stil hat die Forderung nie so gestellt, allein es ist doch bedeutungsvoll, daß auf Lionardos Abendmahl von den 26 Händen – Christus und die 12 Jünger – nicht eine »unter den Tisch gefallen« ist. Und im Norden ist es ebenso. Man kann bei der Antwerpener Beweinung des Massys die Probe machen oder die Extremitäten auf der großen Pietà des Joos van Cleve (Meister des Todes der Maria) nachzählen: die Hände sind alle da, und für den Norden bedeutet das noch mehr, weil hier keine Tradition in diesem Sinne bestand. Demgegenüber steht dann die Tatsache, daß auf einem so sachlichen Porträtstück wie Rembrandts Staalmeester, wo 6 Figuren vorkommen, statt 12 nur 5 Hände sichtbar sind. Die vollständige Erscheinung ist jetzt die Ausnahme, früher die Regel. Terborch kommt bei den zwei musizierenden Frauen (Berlin) mit einer Hand aus, Massys gibt in seinem Sittenstück des Goldwägers und seiner Frau selbstverständlich die zwei Paare vollständig.
Abgesehen von dieser stofflichen Vollständigkeit hat die klassische Zeichnung überall auf eine Darstellung gedrängt, die als erschöpfende Formerklärung gelten konnte. Alle Form wird gezwungen, ihr Typisches herzugeben. Die einzelnen Motive sind in sprechenden Kontrasten entwickelt. Man kann die Erstreckungen alle genau bemessen. Abseits von aller Qualität der Zeichnung, ist der bloßen Anlage nach der Körper auf Tizians Venus- oder Danaëbildern so gut wie bei Michelangelos badenden Soldaten etwas schlechthin Letztes an klar ausgebreiteter Form, die keine Frage übrig läßt.
Diesem Maximum von Deutlichkeit weicht der Barock aus. Er will nicht alles sagen, wo einzelnes erraten werden kann. Mehr: die Schönheit haftet überhaupt nicht mehr an der völlig faßbaren Klarheit, sondern springt auf jene Formen über, die etwas Unfaßbares an sich haben und dem Beschauer immer wieder zu entschlüpfen scheinen. Das Interesse an der geprägten Form zieht sich zurück vor dem Interesse an der unbegrenzten, bewegten Erscheinung. Daher verschwinden auch die elementaren Schauansichten von reiner Front und reinem Profil, man sucht das Sprechende in der zufälligen Erscheinung.
Für das 16. Jahrhundert steht die Zeichnung ganz im Dienste der Klarheit. Es brauchen nicht lauter Schauansichten zu sein, aber in jeder Form steckt der Trieb, sich offenbar zu machen. Mag der letzte Grad klarer Selbstentfaltung nicht durchweg erreicht sein – das ist nicht möglich in einem Bild mit reicherem Inhalt –, so bleibt doch auch kein unaufgeklärter 207 Rest übrig. Auch die verlorenste Form ist noch irgendwie faßbar, das wesentliche Motiv aber ist in den Brennpunkt deutlicher Ansicht gerückt.
Das gilt zunächst für die Silhouette. Auch die verkürzte Ansicht, die von der typischen Gestalt vieles verschluckt, wird so behandelt, daß die Silhouette aufschlußreich bleibt, das heißt viel Form enthält. Umgekehrt ist das Charakteristische von »malerischen« Silhouetten gerade dies, daß sie formarm erscheinen. Sie decken sich nicht mehr mit dem Sinn der Gestalt. Die Linie hat sich zu einem ganz selbständigen Leben emanzipiert und darin beruht der neue Reiz, von dem wir früher (im Kapitel des Malerischen) gehandelt haben. Natürlich ist fort und fort dafür gesorgt, daß dem Auge die nötigen Anhaltspunkte übermittelt werden, aber man will es nicht Wort haben, es sei die Klarheit der Erscheinung der leitende Grundsatz im Bildwerk. Was ganz auf Klarheit eingestellt ist, erweckt Mißtrauen, als könne es kein Lebendiges sein. Tritt der Fall ein – was selten geschieht –, daß sich wirklich einmal ein nackter Körper z. B. in reiner Frontansicht silhouettiert, so ist es doppelt interessant zu sehen, wie mit allerlei ableitenden Mitteln (Unterschneidungen u. dgl.) versucht wird, die Klarheit zu brechen, mit andern Worten: die formklare Silhouette nicht zum Träger des Eindrucks werden zu lassen.
Andrerseits ist es selbstverständlich, daß auch die klassische Kunst nicht immer über die Möglichkeit verfügt, die Erscheinung zu restloser Formklarheit aufzulösen. Ein Baum, aus einiger Entfernung gesehen, wird stets seine Blätter zu einem bloßen Masseneindruck zusammenfließen lassen. Allein das ist kein Widerspruch. Es wird hier nur deutlich, daß man das Prinzip der Klarheit nicht im roh-stofflichen Sinne verstehen darf, sondern zunächst als dekoratives Prinzip nehmen muß. Entscheidend ist nicht, ob das einzelne Blatt am Baum sichtbar wird oder nicht, sondern daß die Formel, mit der man das Blattwerk charakterisiert, eine klare und gleichmäßig faßbare Formel sei. Innerhalb der Kunst des 16. Jahrhunderts bedeuten die Baummassen des Albrecht Altdorfer einen fortgeschrittenen malerischen Stil, aber sie sind doch noch nicht von der wirklich malerischen Art, weil die einzelnen Schnörkel immer noch bestimmt faßbare ornamentale Figuren darstellen, was beim Baumschlag eines Ruysdael z. B. nicht mehr der Fall istÜbrigens wird man bei Altdorfer eine Entwicklung vom Wenigerklaren zum Mehrklaren feststellen können..
Das an sich Unklare ist für das 16. Jahrhundert kein Problem, das 17. anerkennt es als eine künstlerische Möglichkeit. Der ganze Impressionismus 208 beruht darauf. Die Darstellung von Bewegung durch Verunklärung der Form (Beispiel des rollenden Rades!) ist erst möglich geworden, als das Auge dem Halbklaren einen Reiz abgewonnen hatte. Aber nicht nur die eigentlichen Bewegungsphänomene, alle Form behält einen Rest von Unbestimmtheit für den Impressionismus. Und so ist es nicht verwunderlich, wenn gerade die entschlossen fortschrittliche Kunst oft auf die allereinfachsten Ansichten zurückgreift. Den Forderungen des Reizes der bedingten Klarheit ist trotzdem Genüge getan.
Man sieht der Seele der klassischen Kunst auf den Grund, wenn Lionardo sogar die anerkannte Schönheit geopfert wissen will, sobald sie der Klarheit auch nur etwas im Wege stehe. Er bekennt, es gebe kein schöneres Grün als das Grün der sonnendurchschossenen Blätter am Baum, allein gleichzeitig warnt er davor, dergleichen Dinge zu malen, denn es erzeugen sich dabei leicht irreführende Schatten, die Klarheit der Formerscheinung sei getrübt.Lionardo, Traktat von der Malerei (ed. Ludwig), 913 (924) und 917 (892).
Licht und Schatten dienen der klassischen Kunst grundsätzlich ebenso zur Formaufklärung wie die Zeichnung (im engeren Sinne). Jedes Licht wirkt formbezeichnend im einzelnen, gliedernd und ordnend im ganzen. Der Barock kann auf diese Hilfen natürlich auch nicht verzichten, aber das Licht steht nicht mehr ausschließlich im Dienste der Formaufklärung. Es geht stellenweise über die Form hinweg, es kann Wichtiges verhüllen und Nebensächliches herausholen, das Bild ist erfüllt von einer Lichtbewegung, die jedenfalls nicht mit den Forderungen der Sachdeutlichkeit zusammenfallen soll.
Es gibt Fälle des offenbaren Widerspruchs zwischen Form- und Lichtführung. So ist es, wenn beim Bildnis der obere Teil des Kopfes im Schatten steht und nur der untere hell ist, oder wenn bei einer Darstellung der Taufe Christi Johannes allein das Licht hat und der Täufling im Dunkel bleibt. Tintoretto ist voll von gegenständlich-sinnwidrigen Lichtführungen und was für willkürliche Lichtfiguren hat der junge Rembrandt zur Dominante im Bild gemacht! Für uns hier ist aber nicht das Ungewöhnliche und Auffallende wichtig, sondern das, was als selbstverständliche Verschiebung erscheint und vom zeitgenössischen Publikum gar nicht besonders bemerkt worden sein wird. Die Klassiker des Barock sind interessanter als die Übergangsmeister und der reife Rembrandt ist uns lehrreicher als der junge Rembrandt. 209
Es gibt nichts Einfacheres als die Radierung seines Emmaus von 1654. Scheinbar völlig sich deckend Lichtführung und Gegenstand. Der Herr in der Glorie, die die Rückwand aufhellt, der eine Jünger hell im Lichte des Fensters, der andere dunkel, weil er gegen das Licht sitzt. Dunkel auch der Knabe vorn an der Treppe. Ist hier etwas, was nicht auch im 16. Jahrhundert so hätte gegeben werden können? Aber in der Ecke unten rechts liegt eine Dunkelheit, die stärkste Dunkelheit des Ganzen, die dem Blatt den barocken Stempel aufdrückt. Nicht daß sie unmotiviert wäre, man sieht genau, warum es hier dunkel sein muß, aber so wie der Schatten daliegt, ohne Wiederholung, etwas Einmaliges und Einzigartiges, dazu exzentrisch, gewinnt er eine große Bedeutung: auf einmal sieht man eine Lichtbewegung im Bilde, die mit der feierlichen Symmetrie der Tischgesellschaft offenbar nicht zusammengeht. Man muß eine Komposition wie Dürers Emmausblatt in der kleinen Holzschnittpassion vergleichen, um sich ganz klar zu 210 werden, inwiefern die Lichtführung hier über das Gegenständliche hinaus zu eigenem Leben erwachsen ist. Kein Zwiespalt zwischen Form und Inhalt – das wäre ein Vorwurf –, aber das alte Verhältnis der Dienstbarkeit ist gelöst und in der neuen Freiheit erst gewinnt die Szene für das Barockzeitalter den Lebensodem.
Alles, was man im gewöhnlichen Sinne »malerische Beleuchtung« nennt, ist ein von der Sachform unabhängig gewordenes Spiel des Lichtes, ob es nun das in einzelnen Flecken über den Erdboden hinjagende Licht eines Gewitterhimmels sei oder das Licht, das in der Kirche, hoch einfallend, an Wänden und Pfeilern sich bricht und wo die Dämmerung in Nischen und Winkeln aus dem begrenzten Raum ein Unbegrenztes und Unerschöpfliches macht. Die klassische Landschaft kennt das Licht als das sachlich Gliedernde, dann sucht man wohl da und dort den grellen Widerspruch, der neue Stil ist aber erst da vollendet, wo man dem Licht grundsätzlich einen irrationalen Charakter zugesteht. Es teilt dann das Bild nicht in einzelne Zonen, sondern unabhängig von jedem plastischen Motiv legt sich eine Helligkeit da quer über den Weg oder geht als wandelnder Schein dort über die Wellen der Meeresfläche. Und kein Mensch denkt mehr daran, daß darin ein Widerspruch zur Form liegen könnte. Motive wie die Blätterschatten, die auf der Mauer des Hauses spielen, sind jetzt möglich. Nicht weil man sie jetzt erst beobachtet hätte, gesehen hat man sie immer, aber die Kunst im Geiste Lionardos hat sie als formunklare Motive noch nicht verwerten können.
Und so ist es schließlich bei der Einzelfigur. Terborch kann ein Mädchen malen, das am Tisch irgend etwas liest: das Licht kommt ihm von rückwärts, streift die Schläfe und ein freifallendes Löckchen wirft einen Schatten über die glatte Fläche. Das scheint alles sehr natürlich, aber der klassische Stil hat dieser Natürlichkeit keinen Platz gewährt. Man denke nur an die stofflich verwandten Darstellungen des Meisters der weiblichen Halbfiguren, wo Licht und Modellierung völlig ineinander aufgehen. Einzelne Freiheiten mögen immer gewagt worden sein: es sind dann eben die Ausnahmen, die als solche empfunden wurden. Jetzt ist die irrationale Lichtführung die Norm und wo sich eine rein sachliche Beleuchtung ergibt, da soll sie nicht als gewollt, sondern als Zufall erscheinen. Im Impressionismus aber gewinnt die Lichtbewegung an sich soviel Energie, daß die Kunst auf die »malerisch« verunklärenden Motive in der Anordnung von Licht und Schatten ruhig verzichten kann. 211
Die formzerstörenden Wirkungen eines sehr starken Lichtes und die formauflösenden Wirkungen eines sehr schwachen Lichtes sind beides Probleme, die für die klassische Epoche außerhalb der Kunst lagen. Auch die Renaissance hat die Nacht dargestellt. Die Figuren sind dann dunkel gehalten, bewahren aber die Bestimmtheit der Form; jetzt dagegen fließen die Figuren mit dem allgemeinen Dunkel zusammen und es bleibt nur ein Ungefähr übrig. Der Geschmack war dahin entwickelt, auch diese bedingte Klarheit schön zu finden.
Auch die Geschichte der Farbgebung läßt sich den Begriffen von bedingter und unbedingter Klarheit unterstellen.
Lionardo, der die farbigen Reflexe und die komplementären Farben der Schatten theoretisch schon genau kannte, wollte doch nicht dulden, daß der Maler diese Erscheinungen in sein Bild übertrüge. Das ist sehr bezeichnend. Offenbar befürchtete er, es könnte die Klarheit und Selbstherrlichkeit der Gegenstände leiden. So spricht er auch von dem »wahren« Schatten der Dinge, der nur aus ihrer Lokalfarbe und Schwarz gemischt sein dürfteLionardo, Traktat von der Malerei (ed. Ludwig), 729 (703). Vgl. 925 (925) über die »wahre« Laubfarbe: man solle ein Blatt von dem Baume nehmen, der nachgemacht werden soll, und nach diesem Muster seine Mischungen anfertigen.. Die Geschichte der Malerei ist nicht die Geschichte der wachsenden Einsicht in den Tatbestand der farbigen Erscheinung, vielmehr werden die farbigen Beobachtungen in einer Auslese verwertet, die von ganz anderen als bloß naturalistischen Gesichtspunkten her getroffen wird. Daß Lionardos Formulierungen nur eine beschränkte Geltung beanspruchen dürfen, beweist das eine Beispiel Tizians. Allein Tizian ist nicht nur viel jünger, sondern bildet eben mit seiner langen Entwicklung hier wie sonst den Übergang zum andern Stil, wo die Farbe grundsätzlich nicht mehr bloß etwas den Körpern Anhaftendes ist, sondern das große Element, in dem die Dinge Sichtbarkeit gewinnen, etwas Zusammenhängendes, Einheitlich-Bewegtes und jeden Augenblick sich Änderndes. Wir müssen auf die Ausführungen zurückverweisen, die früher zum Begriff der malerischen Bewegung gemacht worden sind. An dieser Stelle soll nur gesagt sein, daß auch das Auslöschen der Farbe für den Barock einen Reiz haben muß. An Stelle der gleichmäßigen Farbklarheit setzt er die teilweise Farbunklarheit. Die Farbe ist nicht von vornherein da, überall fertig, sondern sie wird erst. Wie die Pointierungen der Zeichnung, von denen wir im 212 vorigen Kapitel sprachen, die teilweise Undeutlichkeit der Form verlangen und voraussetzen, so fußt auch das Schema der pointierten Farbe auf der Anerkennung der verunklärten Farberscheinung als Bildfaktors.
Nach den Grundsätzen klassischer Kunst steht die Farbe im Dienste der Form, nicht bloß im einzelnen, wie Lionardo es meint, sondern auch im allgemeinen: das Bild, als Ganzes gesehen, gliedert sich durch die Farbe in seine gegenständlichen Teile und die farbigen Akzente sind auch die Sinnakzente der Komposition. Bald hat man ein Gefallen darin gefunden, die Akzente etwas zu verschieben und man wird schon früher einzelne Anomalien in der farbigen Anordnung nachweisen können, der eigentliche Barock aber setzt erst ein, als man der Farbe grundsätzlich die Verpflichtung abgenommen hat, Klärerin und Erklärerin des Gegenständlichen zu sein. Die Farbe wird nicht der Klarheit entgegenarbeiten, allein je mehr sie zu eigenem Leben erwacht, um so weniger kann sie im Dienst der Dinge verharren.
Schon in dem Wiederholen einer Farbe an verschiedenen Stellen im Bild bekundet sich die Absicht, den gegenständlichen Charakter des Kolorits zu dämpfen. Der Beschauer bindet das farbig Zusammengehörige und kommt damit auf Fährten, die mit der stofflichen Interpretation nichts zu tun haben. Ein einfaches Beispiel: Tizian im Bilde Karl V. (München) gibt einen roten Teppich und Antonis Moor im Bild der Maria von England (Madrid) einen roten Stuhl, die beide stark als Lokalfarbe sprechen und sich der Phantasie von der gegenständlichen Seite her – als Teppich und als Stuhl – einprägen. Die Spätern würden diese Wirkung vermieden haben. Velasquez, in bekannten Porträtstücken, hat es so gemacht, daß er das gegebene Rot an anderen Gegenständen, an Kleidern, Polstern, Vorhängen wieder benützt, immer etwas abgeändert, wodurch die Farbe leicht in einen überdinglichen Zusammenhang kommt und sich von der stofflichen Unterlage mehr oder weniger löst.
Je mehr tonige Bindung da ist, um so leichter wird sich der Prozeß vollziehen. Man kann der selbständigen Wirkung des Kolorits aber auch dadurch zu Hilfe kommen, daß man ein und dieselbe Farbe auf Dinge von ganz verschiedener Bedeutung verteilt oder umgekehrt das, was sachlich eine Einheit bildet, in der farbigen Behandlung trennt. Eine Schafherde des Cuyp wird nicht eine isolierte weißgelbe Masse sein, sondern mit ihrem Lichtton gerne irgendwo in die Helligkeit des Himmels übergreifen und gleichzeitig können von den Tieren einige unter Bedingungen gebracht sein, 213 daß sie sich von dem Verwandten trennen und mehr mit dem Braun des Erdbodens Fühlung nehmen (vgl. Bild in Frankfurt a. M.).
Derartige Kombinationen gibt es unendliche. Der stärkste Farbeffekt braucht aber überhaupt nicht mit dem gegenständlichen Hauptmotiv verbunden zu sein. In dem Bilde des Pieter de Hooch (Berlin), wo die Mutter an der Wiege sitzt, ist die farbige Rechnung abgestellt auf den Zusammenklang eines leuchtenden Rot und eines warmen Gelbbrauns. Das Gelbbraun in seiner höchsten Steigerung findet sich am Pfosten der Türe im Hintergrund, das höchste Rot – nicht etwa am Kleide der Frau, sondern an einem Rock, der zufällig am Bett aufgehängt ist. Die Pointe des Farbenspiels läßt die Figur ganz beiseite.
Das wird niemand als ungehörigen Eingriff in die Klarheit der Komposition empfinden, aber es ist doch eine Emanzipation der Farbe, für die in der klassischen Zeit noch kein Verständnis vorhanden gewesen wäre.
Ähnlich, aber doch nicht gleich liegt das Problem in Bildern wie Rubens' Andromeda oder Rembrandts Susanna (beide in Berlin). Wenn hier, bei 214 der Susanna, das abgelegte Gewand der Badenden mit seinem brillanten Rot, gesteigert durch den elfenbeinfarbigen Körper, weithin aus dem Bilde herausleuchtet, so wird man zwar über die gegenständliche Bedeutung des Farbflecks sich nicht täuschen und kaum auf einen Augenblick vergessen, daß dieses Rot ein Rock, der Rock der Susanna, ist, aber doch fühlt man sich allen Bildern des 16. Jahrhunderts weit entrückt. Das liegt nicht nur an der zeichnerischen Form. Gewiß: die rote Masse ist als Figur schwer zu fassen und es ist durchaus malerisch empfunden, wie die rote Glut in den herabhängenden Schnüren gleichsam abtropft und unten in den Pantoffeln wie in einer feurigen Lache sich wieder zu sammeln scheint, aber entscheidend für die Wirkung ist doch die Einzigkeit dieser ganz seitlich angeordneten Farbe. Damit erhält das Bild einen Akzent, der nicht mit den Forderungen der Situation zusammenfällt.
Auch Rubens hat in dem so sachlichen Bilde seiner Andromeda das Bedürfnis gehabt, mit der Farbe einen barock-irrationalen Fleck in die Komposition hineinzuwerfen. Unten in der Ecke rechts, zu Füßen der in blendender Nacktheit dastehenden Frontfigur bäumt sich ein ungebärdiges Purpurrot. Sachlich leicht zu erklären – es ist der abgeworfene Sammetmantel der Königstochter –, hat die Farbe an dieser Stelle und mit dieser Wucht der Erscheinung doch etwas Überraschendes für jeden, der vom 16. Jahrhundert herkommt. Das stilgeschichtlich Bedeutsame liegt in der Stärke des Farbakzents, der in so gar keinem Verhältnis zum gegenständlichen Wert seines Trägers steht, aber gerade dadurch der Farbe im Bild die Möglichkeit eröffnet, ihr eigenes Spiel zu spielen.
Wie Ähnliches im klassischen Stil gegeben zu werden pflegt, kann man, in derselben Berliner Galerie, bei Tizian lernen und zwar bei dem Bilde der kleinen Tochter des Roberto Strozzi, wo ebenfalls ein roter Plüsch am Rande angeordnet ist, aber diesmal eben durch begleitende Farben von allen Seiten her gestützt und beschwichtigt, so daß kein Übergewicht und keine Befremdung sich erzeugt. Sache und Bildform gehen völlig ineinander auf.
Endlich ergibt sich auch für die räumlich-figurale Komposition notwendig die Konsequenz, daß die Schönheit nicht mehr an die Ordnungen der höchsten und restlosen Klarheit gebunden ist. Ohne den Beschauer mit einer Unklarheit zu quälen, die ihn zwingen würde, die Motive zu suchen, nimmt der Barock grundsätzlich das weniger Klare, ja das dauernd Unklare mit in seine Rechnung auf. Es kommen Schiebungen vor, die das 215 Wichtige zurückdrängen und das Unwichtige groß erscheinen lassen: das ist nicht bloß erlaubt, sondern erwünscht, nur muß auf eine versteckte Art das Hauptmotiv dann doch wieder als solches herausgehoben sein.
Man kann auch hier die Betrachtung an Lionardo anknüpfen und ihn als Sprecher für die Kunst des 16. Jahrhunderts auftreten lassen. Bekanntlich ist es ein beliebtes Motiv der Barockmalerei, durch »übergroßen« Vordergrund die Tiefenbewegung zu verstärken. Der Fall tritt ein, sobald ein sehr naher Standpunkt für die Aufnahme gewählt ist: der Größenmaßstab nach der Ferne zu wird dann relativ rasch abnehmen, d. h. die Motive der nächsten Nähe werden unverhältnismäßig groß erscheinen. Nun: Lionardo hat das Phänomen auch beobachtetLionardo, Traktat von der Malerei (ed. Ludwig), 76 (117) und 481 (459). Vgl. 471 (461) und 34 (31)., aber es besaß für ihn nur ein theoretisches Interesse, für die künstlerische Praxis schien es ihm unbrauchbar. Warum? Weil die Klarheit darunter leidet. Er hielt es für unstatthaft, Dinge in der perspektivischen Darstellung sich stark zu entfremden, die sich in Wirklichkeit nahe verwandt sind. Selbstverständlich bedingt jede Tiefendistanz eine Verkleinerung des Gegenstands, allein im Sinne der klassischen Kunst empfiehlt Lionardo einen sachten Fortgang in der Abnahme des perspektivischen Maßstabes und lehnt es ab, vom ganz Großen unmittelbar zum ganz Kleinen zu springen. Wenn die Spätern gerade an dieser Form Gefallen fanden, so soll der Gewinn für die Tiefenwirkung nicht klein angeschlagen werden, aber die Freude an der reizvollen Verunklärung der Bilderscheinung hat gewiß auch mitgesprochen. Als auffallendstes Beispiel sei Jan Vermeer genannt.
Gleicherweise können als barocke Verunklärungen alle diejenigen Kombinationen angeführt werden, wo durch das perspektivische Zusammenrücken und durch Überschneidung Dinge in eine enge optische Verbindung kommen, die real nichts miteinander zu tun haben. Überschneidungen hat es schon immer gegeben. Entscheidend ist der Grad der Nötigung, Nahes und Ferneres, Überschneidendes und Überschnittenes zusammenzubeziehen. Auch dieses Motiv dient der Tiefenspannung und ist darum schon früher genannt worden. Man darf aber auch vom Standpunkt einer gegenständlichen Betrachtung darauf zurückkommen, denn das Resultat ist immer ein Bild, das durch die eigentümliche Fremdheit der neuen Figur überrascht, so bekannt die Formen der einzelnen Dinge für sich sein mögen.
Vollkommen deutlich aber enthüllt der neue Stil seine Physiognomie, 216 wenn in einer vielfigurigen Darstellung der einzelne Kopf und die einzelne Figur überhaupt nicht mehr auf eine völlige Erkennbarkeit rechnet. Die Hörer, die den lehrenden Christus auf der Radierung Rembrandts umgeben, sind nur teilweise faßbar. Es bleibt ein Rest von Unklarheit. Die klarere Form hebt sich aus dem Grunde der unklareren empor und darin liegt ein neuer Reiz.
Damit ändert sich nun aber auch die geistige Regie einer Geschichte. Wenn die klassische Kunst das Motiv in vollendeter Klarheit bloßzulegen sich zum Ziel setzte, so will der Barock zwar nicht unklar sein, aber doch die Klarheit nur wie ein zufälliges Nebenresultat erscheinen lassen. Manchmal spielt man direkt mit dem Reiz des Versteckten. Jedermann kennt das Bild der »Väterlichen Ermahnung« von Terborch. Der Titel trifft nicht das Richtige, aber jedenfalls liegt die Pointe der Darstellung in dem, was der sitzende Herr dem stehenden Mädchen sagt, vielmehr darin, wie das Mädchen die Rede aufnimmt. Aber gerade hier läßt uns der Maler im Stich. Das Mädchen, das mit seinem weißen Atlaskleid schon als Lichtton den Hauptanziehungspunkt bildet, bleibt mit dem Gesicht abgewendet.
Das ist eine darstellerische Möglichkeit, die erst der Barock kennt, für das 16. Jahrhundert wäre es ein bloßer Witz gewesen.
Wenn der Begriff von Klarheit und Unklarheit nicht erst jetzt, sondern immer schon gelegentlich verwendet worden ist, so liegt das daran, daß er in der Tat mit allen Faktoren des großen Prozesses irgendwie in Verbindung steht, mit dem Gegensatz von linear und malerisch aber überhaupt sich teilweise deckt. Alle objektiv-malerischen Motive leben von einer gewissen Verunklärung der tastbaren Form und der malerische Impressionismus als grundsätzliche Aufhebung des tastbaren Charakters der Sichtbarkeit ist als Stil erst dadurch möglich geworden, daß die »Klarheit des 217 Unklaren« gesetzliche Geltung in der Kunst gewonnen hatte. Es genügt auf ein Beispiel wie Dürers Hieronymus und Ostades Malerwerkstatt zurückzuverweisen, um fühlen zu lassen, wie sehr das Malerische in jedem Sinn den Begriff der bedingten Deutlichkeit voraussetzt. Dort eine Stube, in der der letzte Gegenstand im letzten Winkel noch vollkommen klar erscheint, hier die Dämmerung, die Wände und Dinge sehr bald unerkennbar macht.
Trotzdem geht der Begriff nicht auf im Bisherigen. Nachdem die leitenden Motive erörtert worden sind, wollen wir auch hier an einzelnen Bildstoffen die Umsetzung vom Völlig-Klaren ins Bedingt-Klare verfolgen unter wechselnden Gesichtspunkten, ohne erschöpfende Analyse des einzelnen Falles, in der Hoffnung, auf diese Weise am besten dem Phänomen allseitig gerecht zu werden.
Man kann wie immer mit Lionardos Abendmahl anfangen. Es gibt keine höhere Stufe klassischer Klarheit. Die Ausbreitung der Form ist eine vollkommene und die Komposition derart, daß die Bildakzente mit den Sachakzenten durchaus zusammenfallen. Tiepolo gibt dagegen die typisch-barocke Verschiebung: Christus hat zwar allen nötigen Nachdruck, aber offenbar bestimmt er nicht die Bewegung des Bildes und bei den Jüngern ist von dem Prinzip der Verdeckung und Verdunkelung der Form ausgiebiger Gebrauch gemacht. Die Klarheit der klassischen Kunst muß dieser Generation als unlebendig vorgekommen sein. Das Leben ordnet ja seine Szenen nicht so, daß man alles sieht, und daß der Inhalt des Geschehenden die Gruppierung bedingt. Zufällig nur kann im Wogenschlag des wirklichen Lebens das Wesentliche auch für das Auge als solches wirksam werden. Auf diese Momente ist die neue Kunst eingestellt. Aber es wäre unrichtig, in der Absicht auf das Natürliche allein den Grund dieses Stils zu suchen, erst als die relative Unklarheit ganz allgemein als Reizmotiv empfunden wurde, konnte dieser Naturalismus der Schilderung zu Worte kommen.
In gleicher Weise wie für Lionardo ist für Dürer in dem Holzschnitt des Marientodes das Absolut-Klare das Natürliche gewesen. Der Deutsche steigert die Forderung nicht so hoch wie der Italiener und gar in einem Holzschnitt liegt es ihm nahe, den Linien zu eigenem Spiel den Lauf zu lassen, trotzdem ist auch diese Komposition ein typisches Beispiel für das Zusammenfallen von Sache und Bilderscheinung. Jedes Licht – und darauf kommt es in dem Schwarzweiß-Stück besonders an – drückt klar eine bestimmte Form aus und wenn aus der Gesamtheit aller Lichter auch noch 218 eine bedeutende Figur hervorgeht, so schlägt doch auch in dieser Wirkung immer das Sachliche als das Bestimmende durch. – Der gemalte Marientod des Joos van Cleve bleibt in der Abbildung hinter Dürer zurück, aber daran ist nur schuld, daß die ordnende Farbe fehlt. Aus dem System der verschiedenen Farben und ihrer Wiederholungen geht auch hier ein Gesamteindruck hervor, aber jede Farbe stützt sich auf ihre gegenständliche Basis und auch wenn sie sich wiederholt, ist es nicht ein einheitliches lebendiges Element, das da und dort zur Erscheinung gelangt, sondern es steht eben nur neben der roten Bettdecke ein roter Betthimmel usw.
Darin liegt der Unterschied zur folgenden Generation. Die Farbe fängt an sich zu verselbständigen und das Licht macht sich frei von den Dingen. Im Zusammenhang damit geht das Interesse an der vollständigen Durchbildung des plastischen Motivs natürlich immer mehr zurück und wenn man auf das Deutliche der Erzählung nicht verzichten kann, so wird diese Deutlichkeit doch nicht mehr direkt aus dem Gegenstand heraus gewonnen, sondern sie ergibt sich scheinbar zufällig, als ein glückliches Nebenresultat.
In einer bekannten großen Radierung hat Rembrandt so den Marientod in die Sprache des Barock übersetzt. Eine Lichtmasse, die das Bett miteinschließt, mit schräg empordampfenden hellen Wolken, da und dort kräftige dunkle Gegenakzente, das Ganze eine lebhafte Hell- und Dunkelerscheinung, in der das Einzelfigürliche versinkt. Der Vorgang ist nicht unklar, allein man bleibt keinen Augenblick im Zweifel, daß dieses wogende Licht über die Gegenstände hingeht und nicht von den Gegenständen festgehalten wird. Die Radierung des Marientodes, kurz vor der Nachtwache entstanden, gehört zu den Dingen, die Rembrandt später als zu theatralisch empfunden hat. In reifen Jahren erzählt er viel schlichter. Das heißt nicht, daß er zum Stil des 16. Jahrhunderts zurückkehrte – er konnte es nicht, selbst wenn er gewollt hätte –, aber das Phantastische hat er abgestreift. Und so ist denn auch der Lichtgang ganz einfach, von jener Einfachheit allerdings, die voll des Geheimnisses bleibt.
Der Art ist die Kreuzabnahme. Wenn wir das bedeutende Blatt schon unter dem Titel der Einheit behandelt haben, so läßt sich jetzt nachtragen, daß diese Einheit natürlich nur auf Kosten einer gleichmäßigen Klarheit gewonnen worden ist. Von Christus kommen nur die geknickten Knie recht zur Wirkung, der Oberkörper versinkt zum Teil im Dunkel. Aus diesem Dunkel kommt ihm eine Hand entgegen, die einzelne helle Hand einer Person, die im übrigen fast unerkennbar bleibt. In verschiedenen Graden des 219 Erkennbaren geht es auf und ab, aus dem Schoß der Nacht sieht man einzelne Helligkeiten hervorbrechen, so aber, daß sie unter sich wie etwas lebendig Verbundenes erscheinen. Die Hauptakzente sitzen durchaus da, wo der Sinn der Geschichte es verlangt, aber die Kongruenz ist eine heimliche, eine verhehlte. Alle Anordnungen des 16. Jahrhunderts wirken dagegen in ihrer unmittelbaren Deutlichkeit als »gemacht«, was das Ganze betrifft wie in bezug auf die Einzelfigur.
In der Kreuztragung ist es für Raffael selbstverständlich gewesen, den gefallenen Helden auf das Maximum von klarer Ansicht zu läutern und gleichzeitig auch innerhalb des Bildes ihn an den Platz zu bringen, den die auf das Klare eingestellte Phantasie für ihn beansprucht. Er ist als Mittelfigur der ersten Raumschicht eingeordnet. Rubens dagegen hat mit andern Grundvorstellungen gearbeitet. Wie er im Interesse des Bewegungseindrucks der Fläche und der Tektonik aus dem Wege geht, so ist für ihn das Scheinbar-Unklare erst das Lebendige. Der Athlet auf dem Rubensschen Bild, der seine Schulter unter das Kreuz stemmt, ist als Erscheinungswert bedeutender als Christus, ausgedehnte und tiefe Beschattung tut ein übriges, die geistige Hauptfigur zurückzudrängen, und der Fall als plastisches Motiv ist an sich schwer zu fassen. Und doch wird man nicht sagen dürfen, daß die berechtigten Wünsche nach Klarheit unbefriedigt blieben. Auf versteckte Weise wird der Beschauer doch von allen Seiten nach der unscheinbaren Gestalt des Helden hingeführt und in dem Motiv des Zusammenbrechens ist doch alles das für das Auge herausgeholt, was im Augenblick das Wichtige ist.
Aber es ist wahr, diese Verunklärung der Hauptperson ist nur eine Art der Anwendung des Prinzips und eigentlich mehr eine überleitende. Die Späteren sind in den wesentlichen Motiven vollständig klar und doch in der Gesamterscheinung geheimnisvoll unklar, unerklärlich. Die Geschichte vom barmherzigen Samariter z. B. – auch ein Passionsweg – kann gar nicht klarer dargestellt werden als es der reife Rembrandt in dem Bilde von 1648 getan hat. Als Zertrümmerer der klassischen Forderung aber ist keiner bedeutender als Tintoretto. Fast für alle Stoffe.
Eine Geschichte, die, wenn sie klar wirken soll, unter allen Umständen die Längsabwicklung der Figuren zu verlangen scheint, ist der Tempelgang der kleinen Maria. Tintoretto hat auf die profilmäßige Begegnung der Hauptfiguren nicht verzichtet – wenn er auch der reinen Fläche natürlich ausweicht und der Treppenberg, der zu keiner Silhouettenwirkung gelangen darf, mehr von der Schräge her aufgenommen ist –, aber er gibt 220 den bildein- und auswärts drängenden Kräften weitaus das Übergewicht. Die Rückengestalt der weisenden Frau und die Folge der Leute, die sich im Schatten der Mauer halten und in ununterbrochenem Strom die Bewegung in die Tiefe hineintragen, würden schon durch die Richtung das Hauptmotiv übertönen, selbst wenn sie nicht die ungeheure Überlegenheit der Größenerscheinung besäßen. Auch die Lichtfigur auf der Treppe züngelt nach der Tiefe. Die von räumlicher Energie strotzende Komposition ist ein gutes Beispiel eines mit wesentlich plastischen Mitteln arbeitenden Tiefenstils, daneben aber ebenso typisch für das Auseinanderlegen von Bildakzent und Sachakzent. Merkwürdig, daß es überhaupt noch zu einer erzählerischen Klarheit kommt! Das kleine Mädchen geht doch nicht im Raum verloren. Gestützt durch unauffällige Begleitformen und unter Bedingungen gebracht, die sich bei keiner zweiten Figur im Bilde wiederholen, behauptet es sich und seine Beziehung zum Hohenpriester als Kern des Ganzen, trotzdem auch die Lichtführung die zwei Hauptpersonen voneinander trennt. Das ist die neue Regie Tintorettos. 221
Die Beweinung, eines seiner machtvollsten Bilder, wo in wahrhaft bedeutendem Sinne die Wirkung auf ein paar Akzente zusammengerissen ist, wie viel verdankt sie dem Prinzip der unklar-klaren Darstellung! Wo man bisher jede Form zu gleichmäßiger Klarheit herauszutreiben bemüht war, hat er ausgelassen, verdunkelt, unscheinbar gemacht. Über das Antlitz Christi legt sich ein Schlagschatten, der die plastische Grundlage völlig mißachtet, dafür aber ein Stück Stirne und ein Stück des unteren Gesichtes hervortreten läßt, wie es für den Eindruck des Leidens von unschätzbarem Werte ist. Und was für eine Sprache sprechen die Augen der ohnmächtig zurücksinkenden Maria: die ganze Augenhöhle ist wie ein großes rundes Loch mit einer einzigen Dunkelheit ausgefüllt. An solche Wirkungen hat zuerst Correggio gedacht. Die strengen Klassiker aber, auch wenn sie den Schatten ausdrucksmäßig behandeln, haben nie die Grenze des Formklaren zu überschreiten gewagt.
Selbst der Norden, wo man den Begriff gern etwas laxer nahm, hat die vielfigurige Beweinung in berühmten Beispielen zu vollkommener Formklarheit durchgebildet. Wer denkt nicht an Quinten Massys und Joos van 222 Cleve! Keine Figur, die nicht bis in alle Extremitäten hinein klargemacht wäre und dazu eine Lichtführung, die keinem andern Zwecke dient als dem der sachlichsten Modellierung.
Weniger im Dienste klassischer Klärung als barocker Verunklärung hat das Licht in der Landschaft eine Rolle gespielt. Die Verwendung von Licht und Schatten im großen ist erst ein Gewinn der Übergangszeit. Jene Streifen von Hell und Dunkel, wie sie die ältere Kunst vor und neben Rubens braucht (vgl. die Uferlandschaft Jan Brueghels d. Ä. von 1604), fassen zusammen, indem sie teilen, und während sie das Ganze im Grunde sinnwidrig zerstücken, sind sie insofern doch klar, als sie mit einzelnen Terrainmotiven sich decken. Der entschlossene Barock erst läßt das Licht in freien Flecken über die Landschaft hingehen. Damit ist gesagt, daß jetzt eben auch der Blätterschatten auf der Mauer grundsätzlich möglich ist und der sonnendurchschossene Wald.
Zu den Eigentümlichkeiten barocker Landschaft – um auf etwas anderes überzugehen – wird aber auch gehören, daß der Ausschnitt nicht eigentlich sachlich legitimiert erscheinen darf. Das Motiv verliert das Unmittelbar-Einleuchtende und es kommen jene gegenständlich-uninteressierten Aufnahmen, für die die Landschaftsmalerei natürlich ein geeigneterer Boden ist 223 als das Bildnis oder die Historie. Beispiel: die Straße in Delft von Vermeer – nichts Ganzes, weder das einzelne Haus noch die Gasse. Architektonische Veduten können sachlich gehaltvoll sein, aber sie müssen sich so gebärden, als ob es ihnen eigentlich gar nicht ankäme auf die Mitteilung eines bestimmten Tatbestandes. Die Bilder vom Rathaus von Amsterdam werden entweder durch stark verkürzte Ansicht künstlerisch möglich gemacht oder, wenn das Haus frontal erscheint, so wird es durch den Zusammenhang sachlich z. T. entwertet. Für das Kirchen-Innenbild geben wir in dem konservativen alten Neefs ein Beispiel des älteren Stils: sachlich klar, die Lichtführung zwar auffallend, aber doch noch wesentlich im Dienst der Form; das Licht bereichert die Erscheinung, ohne sich von der Form loszulösen. Im Gegensatz dazu stellt E. de Witte den modernen Typus dar: das Licht ist grundsätzlich irrationell. Am Boden, an den Wänden, an den Pfeilern, im Raum schafft es Klarheit und Unklarheit zugleich. Gleichgültig, wie weit die Architektur an sich verwickelt sein mag: was hier aus dem Raum gemacht ist, beschäftigt das Auge wie eine unendliche, nie ganz lösbare Aufgabe. Es scheint alles so einfach und ist es doch schon darum nicht, weil das Licht als inkommensurable Größe sich von der Form geschieden hat.
Ein Teil des Eindrucks ist auch hier bedingt durch die Unvollständigkeit der Formerscheinung, die den Beschauer dennoch sättigt. Bei aller barocken Zeichnung muß man diese unvollständig-vollständige Art unterscheiden von dem, was bei den Primitiven ein Mangel an durchgebildeter Anschauung 224 ist. Hier bewußte Unklarheit, dort unbewußte Unklarheit. In der Mitte aber steht der Wille zur Vollkommenheit geklärter Darstellung. Das läßt sich nirgends besser demonstrieren als bei der menschlichen Figur.
Wir rufen noch einmal das herrliche Beispiel der liegenden nackten Frau an, wo Tizian einen Gedanken Giorgiones aufgenommen hat. Es ist richtiger, sich an dieses Nachbild zu halten statt an das Vorbild, da hier allein die Partie bei den Füßen die originale Fassung hat, ich meine das unentbehrliche Motiv des sichtbaren Fußes jenseits des deckenden Beines. Die Zeichnung erscheint wie eine wunderbare Selbstoffenbarung der Form, alles drängt sich wie von selber einem erschöpfenden Ausdruck entgegen. Die wesentlichen Ansatzpunkte sind alle freigelegt und jedes Teilglied gibt sich nach Maß und charakteristischer Gestalt dem Auge sofort zu erkennen. Die Kunst schwelgt hier in einer Wollust der Klarheit, neben der die Schönheit im besonderen Sinn fast wie etwas Sekundäres erscheint. Natürlich wird erst der den Eindruck richtig beurteilen, der die Vorstufen kennt und weiß, wie wenig ein Botticelli, ein Piero di Cosimo diese Art der Anschauung besessen haben. Nicht wegen mangelhafter persönlicher Begabung, sondern weil der Sinn der Generation noch nicht ganz wach war.
Aber auch für die Sonne Tizians ist ein Abend gekommen. Warum bringt das 17. Jahrhundert keine gleichen Bilder mehr hervor? Hat das Schönheitsideal sich geändert? Ja, aber diese Art der Darlegung wäre an sich als zu gewollt, zu lehrbuchmäßig empfunden worden. Die Venus des Velasquez verzichtet auf die vollständige Erscheinung, auf das Normale der Formkontraste: Übertreibungen hier, Unterschlagungen dort. Wie die Hüfte herausgetrieben ist, das ist nicht mehr klassische Klarheit. Das 225 Verschwinden von Arm und Bein ebensowenig. Wenn bei der Venus des Giorgione die untere Endigung des überschnittenen Beines verloren gegangen ist, so fehlt gleich etwas Wesentliches, hier haben viel weitergehende Deckungen gar nichts Auffallendes. Im Gegenteil, das gehört jetzt mit zum Reiz der Erscheinung und wenn je ein Körper vollständig erscheint, so wird der Schein gewahrt, daß das jedenfalls nur zufällig und nicht dem Beschauer zuliebe geschehen sei.
Rembrandt: Die sog. Frau mit dem Pfeil
Erst im Zusammenhang der klassischen Gesamttendenz versteht man Dürers Bemühungen um die menschliche Form, jene theoretischen Bemühungen, denen er selber praktisch keine Folge mehr hat geben können. Der Stich von Adam und Eva (1504) ist nicht identisch mit dem, was er zuletzt unter Schönheit verstand, aber als absolut klare Zeichnung steht das Blatt schon durchaus auf klassischem Boden. Wenn der junge Rembrandt dasselbe Thema auf die Platte bringt, so ist für ihn von vornherein das Geschehnis des Sündenfalles interessanter als die Darstellung des Nackten, die stilistisch ergiebigen Parallelen zu Dürer wird man darum eher bei den späteren Einzelakten finden. Die Frau mit dem Pfeil ist ein Hauptbeispiel seines ganz einfachen letzten Stils. In der Fragestellung geht sie genau zusammen mit der Venus des Velasquez. Nicht das Gewächs an sich ist die Hauptsache, sondern die Bewegung. Und die Bewegung des 226 Körpers ist nur eine Welle in der Bewegung des Bildes. Was durch die Schiebung der Glieder an objektiver Klarheit verloren gegangen ist, daran denkt man kaum, so stark spricht das Motiv; durch den faszinierenden Rhythmus der Helligkeiten und Dunkelheiten aber, in den der Körper hineingestellt ist, wird man weit über die Wirkung der bloßen plastischen Form hinausgeführt. Das ist das Geheimnis der späten Formulierungen Rembrandts: die Dinge sehen ganz einfach aus und stehen doch da wie etwas Wunderbares. Es bedarf gar nicht der Verdeckungen und künstlichen Verunklärungen, schließlich hat er auch der reinen Frontalität und dem einfach sachlichen Licht einen Eindruck abgewinnen können, als ob es sich nicht um die einzelnen Dinge handle, sondern um ein Allgemeines, in dem die Dinge sich verklärten. Ich denke an die sog. »Judenbraut« (Amsterdam): ein Mann, der einem Mädchen die Hand auf die Brust legt. Eine klassisch klare Konfiguration ist hier mit dem ganzen Zauber des Unerklärlichen umgeben.
Man wird bei Rembrandt immer geneigt sein, die Magie seiner Farbe und wie das Helle aus dem Dunklen emportaucht, zur Erklärung des Rätsels geltend zu machen. Nicht mit Unrecht. Aber der Stil Rembrandts ist nur eine besondere Abwandlung des allgemeinen Zeitstils. Der ganze Impressionismus ist eine geheimnisvolle Verunklärung der gegebenen Form und so kann auch ein Bildnis des Velasquez, nüchtern im hellen Tageslicht gemalt, den vollen dekorativen Reiz des Schwebens zwischen klar und nicht-klar besitzen. Die Formen gewinnen freilich im Licht Gestalt, aber das Licht ist auch wieder ein Element für sich, das 227 frei über die Formen hinzuspielen scheint.
Italien hat dem Abendland keinen größeren Dienst getan, als daß es, zum ersten Mal in der neuern Kunst, den Begriff der vollkommenen Klarheit wieder hat lebendig werden lassen. Nicht der bel canto des Umrisses hat Italien zur hohen Schule der Zeichnung gemacht, sondern daß in diesem Umriß die Form restlos zur Erscheinung gebracht war. Man kann zum Lob einer Figur wie Tizians ruhender Venus alles mögliche sagen, der springende Punkt bleibt doch immer, wie in der Melodie dieser Formfügung der plastische Inhalt vollkommen ausgesprochen ist.
Natürlich ist dieser Begriff des vollkommen Klaren nicht von Anfang an da in der Renaissance. So sehr es einer primitiven Kunst angelegen sein muß, deutlich in ihrer Mitteilung zu sein, so wenig gibt sie von vornherein vollständige Formerklärungen. Der Sinn ist noch nicht wach dafür. Klares mischt sich mit Halbklarem, nicht weil man es nicht besser zuwege bringt, sondern weil die Forderung nach absoluter Klarheit eben noch nicht existiert. Im Gegensatz zu der bewußten Unklarheit des Barock gibt es in der vorklassischen Zeit eine unbewußte Unklarheit, die nur scheinbar mit jener verwandt ist.
Wenn Italien im Willen zur Klarheit vor dem Norden immer einen gewissen Vorsprung besessen hat, so ist man doch erstaunt, welche Unverdaulichkeiten sich selbst das Florenz des Quattrocento gefallen ließ. Auf den Fresken des Benozzo Gozzoli in der medizäischen Hauskapelle kommen an sichtbarster Stelle Dinge vor, wie das von hinten gesehene Pferd, dessen ganzer Vorderteil vom Reiter überschnitten wird. Es bleibt ein Torso übrig, den der Beschauer mit dem Verstand zwar leicht ergänzen wird, den aber die hohe Kunst als etwas Optisch-Unerträgliches abgelehnt haben würde. 228 Ähnlich verhält sich's mit jenen drängenden Menschen der hinteren Reihen: man sieht, was gemeint ist, aber die Zeichnung gibt dem Auge nicht genug Anhaltspunkte, um das Bild sich wirklich ganz vorzustellen.
Der Einwurf liegt nahe, bei einer Massendarstellung sei das überhaupt nicht möglich, allein es genügt, etwa auf Tizians Bild vom Tempelgang der Maria einen Blick zu werfen, um zu erfahren, was dem Cinquecento erreichbar war. Auch da sind es viele Leute und es geht nicht ab ohne starke Überschneidungen, aber die Phantasie wird doch vollständig befriedigt. Es ist derselbe Unterschied, der die Figurenhaufen eines Botticelli oder Ghirlandajo von dem klaren Reichtum eines römischen Cinquecentisten trennt. Man mag das Volk auf dem Bilde der Auferweckung des Lazarus von Sebastiano sich vergegenwärtigen.
Noch augenfälliger wird der Gegensatz sein, wenn man im Norden von Holbein und Dürer auf Schongauer und seine Generation zurückblickt. Schongauer hat mehr als alle andern an der Klärung der Bilderscheinung gearbeitet, und doch ist es für den Beschauer, der durch das 16. Jahrhundert gebildet worden ist, oft recht qualvoll, in seinem verschlungenen Formengeflecht das Wesentliche herauszusuchen und aus der zerstreuten und zerstückelten Form das Ganze zu gewinnen.
Ich exemplifiziere mit einem Blatt der Passion: Christus vor Annas. Der Held ist etwas eingekeilt, davon wollen wir nicht reden. Aber über seinen gekreuzten Händen erscheint eine Hand, die den Halsstrick hält: wohin gehört sie? Man sucht und findet eine zweite Hand im Eisenhandschuh neben dem Ellenbogen Christi, eine Hellebarde umfassend. Oben an der Schulter kommt ein Stück Kopf mit Helm zum Vorschein. Das ist der Besitzer der Hände. Und wenn man sehr genau zusieht, so kann man auch noch ein Bein in Eisenschiene entdecken, die die Figur nach unten vervollständigt.
Uns will bedünken, es sei eine unmögliche Zumutung an das Auge, solche membra disjecta zusammenzulesen, das 15. Jahrhundert dachte darin anders. Natürlich gibt es auch vollständigere Erscheinungen und unser Beispiel bezieht sich immerhin nur auf eine Begleitfigur, aber es ist doch die Figur, die mit dem leidenden Helden der Geschichte in unmittelbarer Verbindung steht.
Wie einfach und selbstverständlich legt sich dagegen die Erscheinung in Dürers Darstellung einer solchen Szene auseinander (Christus vor Kaiphas, Kupferstich). Mühelos scheiden sich die Figuren, im großen und im 229 einzelnen ist jedes Motiv klar und bequem zu fassen. Man lernt verstehen, daß hier eine Reformation des Sehens stattgefunden hat so bedeutsam, wie die klare Sprache Luthers es für das Denken gewesen ist. Und gegenüber Dürer wirkt Holbein wie die Erfüllung zur Verheißung.
Parallelen dieser Art sind natürlich nur der leichter verständliche Ausdruck für jene Wandlung, die sich in der Zeichnung der einzelnen Form ebenso vollzogen hat wie in der Regie der Geschichten. Neben all dem aber, was das 16. Jahrhundert an objektiver Klarheit gebracht hat, läuft auch noch eine Sichtung der Erscheinung auf Klarheit im subjektiven Sinne einher, daß die sinnliche Bildwirkung sich völlig decke mit dem sachlichen Gehalt. Wir haben es als eine Eigenschaft des Barock bezeichnet, daß die Bildakzente und die Sachakzente auseinandertreten oder daß wenigstens der Eindruck der Dinge von einer Wirkung begleitet werde, die nicht auf die Dinge sich stützt. Etwas ähnliches ist als unbeabsichtigtes Ergebnis in der vorklassischen Kunst auch vorhanden. Die Zeichnung spinnt ihre Netze für sich. Die späten Dürerstiche sind nicht ärmer an dekorativer Wirkung als die frühen, aber diese Wirkung ist ganz abgeleitet aus den Sachmotiven, Komposition und Lichtführung stehen ganz im Dienste der Sachklarheit, während die frühen Stiche noch nicht scheiden zwischen sachlichen und nichtsachlichen Effekten. Es wird nicht bestritten werden können, daß das Vorbild der italienischen Kunst in diesem Sinne »reinigend« 230 gewirkt hat, aber die Italiener hätten nie Muster werden können, wenn ihnen nicht ein verwandtes Wesen entgegengekommen wäre. Es ist aber ein besonderer Zug nordischer Phantasie immer gewesen, dem Spiel der Linien und Flecken als eigenen Lebensäußerungen sich hinzugeben. Die italienische Phantasie ist gebundener. Sie kennt nicht das Märchen.
Trotzdem trifft man schon innerhalb der italienischen Hochrenaissance einen Correggio, bei dem die Magnetnadel stark vom Pole der Klarheit abweicht. Er sucht konsequent die Sachform zu verunklären und durch Verflechtungen und irreführende Motive das Bekannte in eine neue, andere Erscheinung hinüberzudrängen. Unzusammengehöriges wird verbunden, Zusammengehöriges getrennt. Ohne den Zusammenhang mit dem Zeitideal zu verlieren, geht diese Kunst an dem Absolut-Klaren doch absichtlich vorbei. Baroccio, Tintoretto nehmen den Ton auf. Faltenzüge durchschneiden die Figur gerade an dem Punkt, wo eine Aufklärung erwartet wird. Bei Stehmotiven ist die Form zur sichtbarsten gemacht, auf der der Nachdruck gerade nicht liegt. Unbedeutendes wird groß, Bedeutendes klein gebildet, ja, stellenweise werden dem Beschauer förmliche Fallstricke gelegt.
Indessen, solche Irreführungen sind nicht das letzte, sondern mehr nur Gebarungen des Übergangs. Wir wiederholen Bekanntes, wenn wir sagen: die eigentliche Absicht ist darauf gerichtet, einen vom Gegenständlichen unabhängigen Gesamteindruck zu gewinnen, sei es in der Form-, sei es in der Licht- und Farbenbewegung. Für solche Wirkungen nun ist der Norden besonders empfänglich gewesen. Bei den Donaumeistern wie in den Niederlanden stößt man schon im frühen 16. Jahrhundert auf überraschende Fälle von freier Bilderscheinung. Wenn dann später ein Pieter Brueghel das Hauptthema ganz klein und unscheinbar gestaltet (Kreuztragung 1564, Bekehrung Pauli 1567), so ist das wieder eine charakteristische Äußerung des Übergangs. Entscheidend ist die allgemeine Fähigkeit, sich der Erscheinung als solcher hingeben zu können, ohne nach Sachwerten zu fragen. Es ist ein solches Sichhingeben, wenn man gegen den Einspruch optischer Rationalität den Vordergrund so »übergroß« sieht, wie es eine nahe Distanz bedingt. Auf der gleichen Anlage beruht aber auch die Fähigkeit, die Welt als ein Nebeneinander von Farbflecken auffassen zu können. Wo das geschehen ist, da hat sich die große Metamorphose vollzogen, die den eigentlichen Inhalt der abendländischen Kunstentwicklung ausmacht, und die Erörterungen dieses letzten Abschnitts münden damit im Thema des ersten. 231
Bekanntlich hat das 19. Jahrhundert viel weitere Folgerungen aus diesen Prämissen gezogen, aber erst nachdem die Malerei noch einmal ganz von vorn angefangen hatte. Die Rückkehr zur Linie um 1800 bedeutete natürlich auch die Rückkehr zu einer rein sachlichen Bilderscheinung. Von diesem Standpunkt aus erfuhr die Kunst des Barock eine Beurteilung, die vernichtend sein mußte, weil jede Wirkung, die nicht unmittelbar aus dem Sinn der Darstellung hervorgeht, als Manierismus abgelehnt wurde.