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Wo immer ein neues Formensystem kommt, ist es selbstverständlich, daß die Einzelheit zunächst noch eine etwas vordringliche Sprache spricht. Es fehlt nicht das Bewußtsein für die höhere Bedeutung des Ganzen, aber das Einzelne wird gern als Sonderwesen gefühlt und behauptet sich als solches auch im Gesamteindruck. So ist es gewesen, als der moderne (Renaissance-)Stil in den Händen der Primitiven lag. Sie sind Meister genug, um das Einzelne nicht Herr werden zu lassen, aber doch will das Einzelne neben dem Ganzen auch wieder für sich allein gesehen werden. Erst die Klassiker bringen den Ausgleich. Ein Fenster – es ist auch jetzt noch ein klar isolierter Teil, aber es vereinzelt sich nicht für die Empfindung, man kann es nicht sehen, ohne daß gleichzeitig sein Zusammenhang mit der größeren Form des Wandfeldes, der Gesamtfläche der Wand eindrücklich würde, und umgekehrt, wenn man sich auf das Ganze einstellt, muß es dem Beschauer unmittelbar einleuchten, wie sehr dieses seinerseits bedingt ist durch die Teile.
Was dann der Barock als Neues bringt, ist nicht das Einheitliche überhaupt, sondern jener Begriff von absoluter Einheit, wo der Teil als selbständiger Wert mehr oder weniger untergegangen ist im Ganzen. Es fügen sich nicht mehr schöne Einzelteile zu einer Harmonie zusammen, in der sie selbständig weiter atmen, sondern die Teile haben sich einem herrschenden 193 Gesamtmotiv unterworfen und nur das Zusammenwirken mit dem Ganzen gibt ihnen Sinn und Schönheit. Jene klassische Definition des Vollkommenen bei L. B. Alberti: die Form müsse derart sein, daß man kein Stückchen ändern oder wegnehmen könnte ohne die Harmonie des Ganzen zu zerstören, sie gilt für die Renaissance so gut wie für den Barock. Jedes architektonische Ganze ist eine vollkommene Einheit, aber der Begriff Einheit hat in der klassischen Kunst eine andere Bedeutung als im Barock. Was einheitlich war für Bramante, ist für Bernini eine Vielheit, so sehr Bramante seinerseits der Vielfältigkeit der Primitiven gegenüber ein mächtiger Vereinheitlicher heißen mag.
Die barocke Zusammenfassung geschieht auf verschiedene Weise. Einmal wird die Einheit durch eine gleichmäßige Entselbständigung der Teile erzwungen und dann werden einzelne Motive so ausgebildet, daß sie als die herrschenden den andern als den beherrschten sich überordnen. Überordnung und Unterordnung gibt es auch in der klassischen Kunst, aber dort hat auch der untergeordnete Teil immer noch einen selbständigen Wert, während hier selbst das herrschende Glied, herausgenommen aus dem Zusammenhang, seine Bedeutung mehr oder weniger verlöre.
In diesem Sinne werden nun die vertikalen und horizontalen Formfolgen umgebildet und es entstehen jene großen einheitlichen Tiefenkompositionen, wo ganze Raumabschnitte ihre Selbständigkeit zugunsten der neuen Gesamtwirkung aufgegeben haben. Ohne Zweifel liegt hier eine Steigerung vor. Aber mit gefühlsmäßigen Motiven hat diese Umformung des Begriffs der Einheit nichts zu tun, wenigstens nicht so, daß man sagen dürfte, die größere Gesinnung der Generation habe den stockwerk-bindenden Kolossalordnungen gerufen oder die Heiterkeit der Renaissance habe den Typus der selbständigen Teile geschaffen und der Ernst des Barock habe dann auf der Unterdrückung dieser Selbständigkeit bestanden: gewiß ist es ein Eindruck von Glück, wenn die Schönheit in lauter freien Gliedern sich wiegt, aber auch der Gegentypus hat das Glück gestaltet. Was gibt es Heitereres als das französische Rokoko! Es wäre aber dieser Zeit nicht mehr möglich gewesen, auf die Ausdrucksmittel der Renaissance zurückzugreifen. Und eben darin liegt unser Problem.
Offenbar berührt sich diese Entwicklung mit dem, was wir als Entwicklung ins Malerische und ins Atektonische bereits beschrieben haben. Die malerische Wirkung fortlaufender Bewegung ist immer gebunden an eine gewisse Entselbständigung der Teile und jede Vereinheitlichung wird sich 194 ebenso leicht bereit finden, mit den Motiven des atektonischen Geschmacks eine Verbindung einzugehen, wie umgekehrt die gegliederte Schönheit grundsätzlich mit aller Tektonik vertraut ist. Nichtsdestoweniger verlangen die Begriffe der vielheitlichen Einheit und der einheitlichen Einheit auch hier eine gesonderte Behandlung. Gerade in der Architektur gewinnen die Begriffe eine ungemeine Anschaulichkeit.
Vorzüglich die italienische Architektur liefert Beispiele von geradezu idealer Klarheit. Wir nehmen die Plastik in denselben Zusammenhang auf, da das, was sie der Malerei gegenüber als Besonderheit besitzt, wesentlich in plastisch-architektonischen Aufgaben, wie Grabmälern und dergleichen, zutage tritt.
Das venezianische und das florentinisch-römische Grabmal gewinnt seinen klassischen Typ in einem fortgesetzten Prozeß der Differenzierung und der Integrierung der Form. Die Teile stellen sich in immer entschiedeneren Kontrasten einander entgegen und das Ganze gewinnt dabei immer mehr den Charakter der notwendigen Fügung, daß kein Teil verändert werden könnte, ohne den Gesamtorganismus zu zerstören. Der primitive und der klassische Typ sind Einheiten mit selbständigen Teilen. Dort aber ist die Einheit noch eine lockere. Erst in Verbindung mit der Strenge wird die Freiheit ausdrucksvoll. Je straffer das System, desto wirksamer die Selbständigkeit der Teile innerhalb des Systems. Andrea Sansovinos Prälatengräber in S. M. del popolo (Rom) bieten diesen Eindruck im Gegensatz zu Desiderio und A. Rossellino, Leopardis Grabmal des Vendramin in S. Giovanni e Paolo (Venedig) im Gegensatz zu den Dogengräbern des Quattrocento. Eine Zusammenfassung von unerhörter Wirkung bringt Michelangelo in den Medicäergräbern: im wesentlichen noch durchaus die klassische Fügung mit selbständigen Teilen, aber die Kontraste der aufrechten Zentralfigur mit den angelagerten Breitformen ins Ungeheuere gesteigert. Mit solchen Bildern zusammengenommener Gegensätzlichkeit muß man die Vorstellung gefüllt haben, um die Leistung Berninis entwicklungsgeschichtlich richtig einzuschätzen. Es war unmöglich, auf der Basis der isolierten Teilform die Wirkung zu steigern, der Barock läßt sich aber auch in gar keinen Wettstreit ein: die ideellen Schranken zwischen Figur und Figur fallen, und in breiter einheitlicher Bewegung flutet die Gesamtmasse der gestalteten Form einher. Das gilt von dem Grabmal Urban VIII. in St. Peter wie von dem noch einheitlicheren Grabmal Alexander VII. Beidemal ist 195 zugunsten der Einheit der Gegensatz von sitzender Hauptfigur und liegenden Begleitfiguren aufgehoben worden: die beigeordneten Gestalten sind stehend gebildet und in unmittelbaren optischen Kontakt mit der herrschenden Figur des Papstes gebracht. Es wird auf den Beschauer ankommen, wie weit er auf diese Einheit einzugehen imstande ist. Man kann den Bernini auch buchstabierend lesen, aber er will nicht so gelesen sein. Wer den Sinn dieser Kunst verstanden hat, der weiß, daß hier die Einzelform nicht nur im Zusammenhang des Ganzen erfunden worden ist – das ist auch das Gesetz der Klassik –, sondern daß sie ihre Selbständigkeit an das Ganze hingegeben hat und nur aus dem Ganzen Leben und Atem zieht.
Im Gebiet des italienischen Profanbaues darf man die römische Cancelleria, auch wenn der Palast nicht mehr den Namen Bramantes führt, als das klassische Beispiel der mehrteiligen Renaissanceeinheit nennen. Eine Schichtung von drei Stockwerken, durchaus geschlossen in der Wirkung; aber es sind deutliche Sonderexistenzen die Geschosse, das Eckrisalit, die Fenster und Mauerfelder. So ist es mit der Louvrefassade des Lescot. So mit dem Otto-Heinrichsbau von Heidelberg. Überall die Gleichwertigkeit der homogenen Teile.
Sieht man näher zu, so wird man freilich veranlaßt, den Begriff der Gleichwertigkeit zu modifizieren. Das Erdgeschoß der Cancelleria ist doch den oberen Stockwerken gegenüber klar als Erdgeschoß charakterisiert und damit in gewissem Sinne untergeordnet. Oben erst erscheinen die gliedernden Pilaster. Und bei dieser Pilasterfolge, die die Mauer in einzelne Felder zerlegt, ist es wieder nicht auf einfache Koordination abgesehen, vielmehr wechseln breitere Felder mit schmäleren. Das ist die nur bedingt so zu nennende Koordination des klassischen Stils. Wir kennen die quattrocentistische Vorform im Palazzo Ruccellai von Florenz. Da herrscht die völlige Gleichheit der Felder und, was die Gliederung anbetrifft, die völlige Gleichheit der Stockwerke. Der Oberbegriff bleibt für beide Bauten derselbe: System mit selbständigen Teilen, aber die Cancelleria besitzt bereits die straffere Organisation der Form. Der Unterschied ist identisch mit dem, den wir in der darstellenden Kunst als die laxe Symmetrie des Quattrocento und die strenge Symmetrie des Cinquecento schon beschrieben haben. Auf Botticellis Berliner Bild der Maria mit den beiden Johannes ist das Nebeneinander der drei Figuren ein völlig gleichgewichtiges und Maria hat nur als Mittelfigur einen formalen Vorrang, bei einem Klassiker wie Andrea del Sarto – ich denke an die Madonna delle arpie in Florenz – 196 ist die Maria in jeder Weise über ihre Begleiter hinausgehoben, ohne daß diese aufgehört hätten, ihr Schwergewicht in sich selbst zu haben. Darauf kommt es an. Der klassische Charakter der Felderfolge der Cancelleria ist darin gegeben, daß auch die schmalen Felder noch selbständige proportionale Werte sind und das Erdgeschoß bleibt trotz seiner Unterordnung noch immer ein Element, das seine Schönheit für sich hat.
In lauter schöne Einzelteile sich zerlegend, ist ein Bau wie die Cancelleria das architektonische Gegenstück zu dem Gebilde der Tizianschen Bella, die wir oben abgebildet haben. Und wenn wir dieser die Venus des Velasquez entgegengestellt haben als Typus des auf absolute Einheit zusammengenommenen Gewächses, so sind wir nicht in Verlegenheit, auch für sie die architektonische Parallele aufzuweisen.
Kaum ist der klassische Typus ausgebildet, so meldet sich schon das Verlangen, die Vielheit mit größeren, durchgehenden Motiven zu überwinden. Man spricht dann wohl von der »größeren Gesinnung«, die die weiterspannende Form bedingt habe. Mit Unrecht. Wer wäre nicht von vornherein überzeugt, daß die Bauherrn der Renaissance – und es ist ein Papst Julius dabei! – nach dem Höchsten gegriffen haben, was menschlichem Willen erreichbar war. Aber es ist nicht alles zu allen Zeiten möglich. Die Form der vielteiligen Schönheit mußte erst erlebt sein, bevor die einteiligen Ordnungen denkbar wurden. Michelangelo, Palladio sind Übergänge. Den reinbarocken Gegentypus zur Cancelleria vertritt in Rom der Palazzo Odescalchi, der in den zwei oberen Stockwerken jene Kolossalordnung bringt, wie sie von nun an für das Abendland zur Norm wird. Das Erdgeschoß bekommt damit den ausgesprochenen Sockelcharakter, das heißt es wird zum unselbständigen Glied. Wenn bei der Cancelleria jedes 197 Wandfeld, jedes Fenster, ja jeder Pilaster seine deutlich sprechende Schönheit für sich hatte, so sind die Formen hier alle so behandelt, daß sie mehr oder weniger in einem Masseneffekt aufgehen. Die einzelnen Felder zwischen den Pilastern stellen keinen Wert dar, der außerhalb des Ganzen etwas bedeutete. Bei den Fenstern ist es auf die Kooperation mit den Pilastern abgesehen und die Pilaster selbst wirken kaum mehr als Einzelformen, sondern nur in der Masse. Der Palazzo Odescalchi ist ein Anfang. Die spätere Architektur ist im angedeuteten Sinne weitergegangen. Das Palais Holnstein (das heutige erzbischöfliche Palais) in München, ein besonders feiner Bau des älteren Cuvilliés, wirkt nur noch als bewegte Fläche: kein Wandfeld mehr ist faßbar, die Fenster gehen ganz mit den Pilastern zusammen und diese haben die tektonische Bedeutsamkeit fast völlig verloren.
Es liegt in der Konsequenz der gegebenen Tatsachen, daß die Barockfassade auf die Betonung einzelner Stellen drängen wird, zunächst im Sinne eines beherrschenden Mittelmotivs. In der Tat spielt auch im Pal. Odescalchi bereits das Verhältnis von Mitte und (in der Abbildung unsichtbaren) Flügeln eine Rolle. Bevor wir aber darauf eingehen, müssen wir noch die Vorstellung berichtigen, als ob das Schema mit der Kolossalordnung von Pilastern oder Säulen das einzige oder auch nur das vorherrschende gewesen sei.
Auch in Fronten ohne alle vertikale Zusammenfassung der Stockwerke hat sich das Verlangen nach dem Einheitlichen befriedigen können. Wir bilden den römischen Palazzo Madama ab, den jetzigen Senatspalast. Der oberflächliche Betrachter mag meinen, die Erscheinung sei nicht wesentlich 198 verschieden von dem, was auch der Renaissance geläufig war. Entscheidend ist, wie weit man den Teil als selbständiges und integrierendes Element empfinden muß und wie weit das Einzelne untergeht im Ganzen. Hier ist charakteristisch, daß neben dem packenden Eindruck der Gesamtbewegung der Fläche das einzelne Stockwerk zurücktritt und daß neben der lebhaften Sprache der Fensterverdachungen, die als Masse zusammengreifen, das einzelne Fenster kaum mehr als konstitutiver Teil des Ganzen gefühlt wird. Auf diesem Geleise liegen die mannigfaltigen Wirkungen, die der nordische Barock auch ohne plastischen Aufwand erreicht hat. Durch den bloßen Rhythmus der entselbständigten Fenster kann der Mauer ein starker Massenbewegungseindruck zugeleitet werden.
Aber wie gesagt, die Neigung zum Pointieren ist im Barock immer vorhanden: man sammelt den Effekt gern in einem Hauptmotiv, das die Nebenmotive in dauernder Unselbständigkeit hält, das aber trotzdem auf diese Begleitung angewiesen bleibt und für sich allein nichts bedeuten könnte. Am Palazzo Odescalchi schon tritt die Mitte in breiter Fläche vor, nur ganz wenig, ohne praktische Bedeutung, und zur Seite bleiben kurze, proportional unselbständige Flügel zurück. (Sie sind später länger ausgezogen worden.) Im größten Maßstab betätigt sich diese subordinierende Stilweise in den Schloßbauten mit Mittel- und Eckpavillons, aber auch beim kleinen Bürgerhaus findet man Mittelrisalite, deren Vorsprung oft nur ein paar Zentimeter beträgt. Statt des einen Mittelakzentes können bei langen Fassaden auch zwei die leere Mitte flankierende Akzente gesetzt sein, nicht an den Ecken natürlich – das ist Renaissance (vgl. die Cancelleria in Rom) –, 199 sondern von den Ecken abgerückt. Beispiel: Prag, Palast Kinsky.
In den Kirchenfassaden wiederholt sich im wesentlichen die gleiche Entwicklung. Die italienische Hochrenaissance hat dem Barock den Typus der zweigeschossigen Front mit fünf Feldern unten und drei Feldern oben, vermittelt durch Voluten, vollkommen fertig hinterlassen. Mehr und mehr verlieren nun die Felder an proportionaler Selbständigkeit, die Folge gleichwertiger Teile wird ersetzt durch entschiedene Ueberordnung der Mitte, hier sitzen die stärksten plastischen und dynamischen Akzente, als höchste Steigerung einer von den Seiten her anschwellenden Bewegung. Für die Einheit der vertikalen Ordnung hat der barocke Kirchenbau selten nach dem Mittel der zusammengezogenen Geschosse gegriffen, bei fortdauernder Zweizahl der Stockwerke ist aber für entschiedenes Uebergewicht des einen über das andere gesorgt.
Wir haben früher gelegentlich an die Analogie der Entwicklung auf einem so fern liegenden Gebiet wie der niederländischen Landschaft erinnert und es mag gut sein, den Hinweis hier zu wiederholen, um nicht bei einzelnen Tatsachen der Architekturgeschichte stecken zu bleiben, sondern das Prinzipielle als das Wesentliche dem Bewußtsein lebendig zu erhalten. In der Tat ist es derselbe Begriff der vereinheitlichten und auf einzelne Pointen zusammengenommenen Wirkung, der die holländische Landschaft des 17. Jahrhunderts von der gleichmäßig wertenden Schilderung des 16. Jahrhunderts unterscheidet.
Natürlich ist es nicht nur die große Architektur, sondern auch die Kleinwelt der Möbel und Geräte, aus der die Beispiele geholt werden können. 200 Man mag praktische Gründe mitgeltend machen, daß der zweigeschossige Schrank der Renaissance in den einheitlichen des Barock umgewandelt werden mußte: die Umwandlung lag in der allgemeinen Richtung des Geschmacks und hätte sich gewiß auf jeden Fall durchgesetzt.
Für jede horizontale Formfolge sucht der Barock die vereinheitlichende Gruppierung. Wenn er die gleichmäßigen Reihen der Chorstühle dekoriert, so faßt er die Folge gern unter einen geschweiften Bogen zusammen, wie es sogar vorkommt, daß er die Trägerstellungen eines Kirchenschiffes ohne jeden praktischen Grund nach der Mitte der Reihe gravitieren läßt. (Vgl. die Chorstühle aus der Münchner Peterskirche.)
In all diesen Fällen freilich ist das Phänomen nicht damit erschöpft, daß man das zusammenfassende große Motiv beschreibt, die Einheitswirkung ist immer auch bedingt durch eine Umbildung der Teile in dem Sinne, daß es ihnen schwer wird, sich als Sonderexistenzen geltend zu machen. Jene Chorstühle sind in eine einheitliche Form eingegangen, nicht nur des krönenden Bogens wegen, sondern weil die einzelnen Wandfelder so gestaltet sind, daß sie sich aneinander anlehnen müssen. Sie haben in sich selbst keinen Halt mehr.
Und bei dem Beispiel des Schrankes ist es ebenso. Das Rokoko faßt die zwei Flügeltüren mit einem geschwungenen Giebelgesims zusammen. Wenn nun die Flügeltüren in ihrem oberen Abschluß dieser Linie folgen, das heißt nach der Mitte zu ansteigen, so ist es natürlich, daß sie nur noch als Paar aufgefaßt werden können. Der einzelne Teil für sich hat keine Selbständigkeit mehr. So hat der Rokokotisch keine Beine mehr, die als Form für sich wirken und durchgebildet sind, sondern sie sind eingeschmolzen ins 201 Ganze. Atektonische Forderungen begegnen sich als grundsätzlich verwandt mit Forderungen des Geschmacks für die absolute Einheit. Das letzte Resultat sind jene Binnenräume des Rokoko, hauptsächlich kirchlicher Art, wo alles Mobiliar im Ganzen so aufgegangen ist, daß man das einzelne Stück nicht einmal in der Vorstellung zu isolieren vermöchte. Der Norden hat darin Unvergleichliches geleistet.
Auf Schritt und Tritt stößt man auf durchgehende Unterschiede nationaler Phantasie: die Italiener haben den Teil freier ausgebildet als die nordischen Völker und haben seine Selbständigkeit nie so völlig preisgegeben wie diese. Die freien Teile aber sind nicht etwas, was von Anfang an da ist, sondern etwas, das erst gemacht, das heißt empfunden werden muß. Wir berufen uns auf die einleitenden Sätze dieses Abschnitts. Die besondere Schönheit italienischer Renaissance liegt in der einzigen Art, wie sie den Teil – sei es eine Säule, ein Wandfeld oder ein Raumabschnitt – zu einer in sich ruhenden Vollendung durchgebildet hat. Die germanische Phantasie hat den Teil nie zu gleicher Selbständigkeit entlassen. Der Begriff der gegliederten Schönheit ist ein wesentlich romanischer Begriff. 202
Dem scheint zu widersprechen, daß man der nordischen Baukunst gerade ein sehr starkes Individualisieren der einzelnen Motive nachsagt, daß ein Erker, ein Turm eben gar nicht dem Ganzen sich fügt, sondern mit persönlichem Eigenwillen dagegen sich stemmt. Allein dieser Individualismus hat mit der Freiheit der Teile in einem gesetzlich gebundenen Zusammenhang nichts zu tun. Und mit der Betonung des Eigenwilligen ist auch nicht alles gesagt: das Charakteristische ist, wie diese Schößlinge der Willkür doch fest im Kernbau verwurzelt bleiben. Man kann einen solchen Erker nicht ablösen, ohne daß Blut flösse. Es ist ein der italienischen Vorstellung unzugänglicher Begriff von Einheit, daß ganz heterogene Teile von einem gemeinsamen Lebenswillen getragen sein können. Die »wilde« Manier der ersten deutschen Renaissance, wie wir sie z. B. in den Rathäusern von Altenburg, Schweinfurt, Rothenburg finden, hat sich allmählich beruhigt, aber auch in der gemessenen Monumentalität der Rathäuser von Augsburg oder Nürnberg lebt eine heimliche Einheit der formenden Kraft, die von italienischer Art verschieden ist. Die Wirkung liegt im großen Strömen der Form, nicht im Gliedern und Absetzen. In aller deutschen Architektur ist der Bewegungsrhythmus das Entscheidende, nicht die »schöne Proportion«.
Wenn das für den Barock allgemein zutrifft, so hat doch der Norden die Bedeutung der Teilglieder in viel weitergehender Weise der großen Gesamtbewegung geopfert als Italien. Er ist dadurch namentlich in Binnenräumen zu wunderbaren Wirkungen gelangt. Und man kann wohl sagen, daß in der deutschen Kirchen- und Schloßbaukunst des 18. Jahrhunderts der Stil seine letzten Möglichkeiten offenbart.
Auch in der Architektur ist die Entwicklung keine gleichmäßig fortschreitende gewesen und mitten im Barock stößt man auf Reaktionen des plastisch-tektonischen Geschmacks, die dann natürlich immer auch Reaktionen zugunsten des Einzelteils gewesen sind. Daß ein Bau wie das klassizistische Rathaus von Amsterdam zur Zeit des späten Rembrandt hat entstehen können, muß jeden vorsichtig machen, der von dem einen Rembrandt auf die ganze holländische Kunst schließen möchte. Aber andrerseits darf man den Stilgegensatz auch nicht überschätzen. Man könnte auf den ersten Blick wohl glauben, es gäbe auf der ganzen Welt nichts, was der Forderung barocker Einheit stärker widerspräche als dieses Haus mit seinen starken Gesims- und Pilasterteilungen und den glatt in die Mauer eingeschnittenen, kahlen Fenstern. Allein die Massengruppierung ist doch die vereinheitlichende des Barock und die Pilasterintervalle sprechen nicht mehr als einzelne schöne 203 Felder. Und dann haben wir ja in den zeitgenössischen Bildern den Beweis, wie sehr die Formen auf Gesamtwirkung hin gesehen werden können und gesehen worden sind. Nicht das einzelne Fensterloch bedeutet etwas, sondern nur die Bewegung, die aus der Gesamtheit der Fenster resultiert. Man kann freilich die Sachen auch anders sehen, und als um 1800 der isolierende Stil wieder erschien, hat natürlich auch das Rathaus von Amsterdam in den Bildern eine neue Physiognomie angenommen.
In der neuen Architektur aber erlebte man damals, daß plötzlich die Elemente wieder auseinandertraten. Das Fenster ist wieder ein Formganzes für sich, die Wandfelder bekommen wieder eine eigene Existenz, das Möbel verselbständigt sich im Raum, der Schrank zerlegt sich in freie Teile und der Tisch bekommt wieder Beine, die nicht als etwas Unlösbares in das Gesamtgebilde eingeschmolzen sind, sondern die sich als senkrechte Pfosten von der Tischplatte und ihrem Gehäuse sondern und gegebenenfalls abschrauben lassen.
Gerade im Vergleich mit klassizistischer Architektur des 19. Jahrhunderts wird man ein Gebäude wie das Amsterdamer Rathaus richtig zu beurteilen imstande sein. Man denke an Klenzes Neuen Königsbau in München: die Geschosse, die Pilasterintervalle, die Fenster – lauter Teile, die, schön in sich, auch im Gesamtbild noch als selbständige Glieder sich behaupten. 204