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Wenn man den Unterschied der Kunst Dürers und der Kunst Rembrandts auf einen allgemeinsten Ausdruck bringen will, so sagt man, Dürer sei zeichnerisch und Rembrandt sei malerisch. Dabei ist man sich bewußt, über das Persönliche hinaus einen Unterschied der Zeiten charakterisiert zu haben. Die abendländische Malerei, die im 16. Jahrhundert linear gewesen ist, hat sich im 17. Jahrhundert nach Seite des Malerischen im besonderen entwickelt. Auch wenn es nur einen Rembrandt gibt, so hat doch eine einschneidende Umgewöhnung des Auges überall stattgefunden und wer irgend ein Interesse daran hat, sein Verhältnis zur Welt des Sichtbaren zu klären, wird erst mit diesen zwei von Grund aus verschiedenen Arten des Sehens sich auseinandersetzen müssen. Die malerische Art ist die spätere und ohne die erste nicht wohl denkbar, aber sie ist nicht die absolut höherstehende. Der lineare Stil hat Werte entwickelt, die der malerische Stil nicht mehr besitzt und nicht mehr besitzen will. Es sind zwei Weltanschauungen anders gerichtet in ihrem Geschmack und ihrem Interesse an der Welt und jede doch imstande, ein vollkommenes Bild des Sichtbaren zu geben.
Obgleich in dem Phänomen des linearen Stils die Linie nur einen Teil der Sache bedeutet und der Umriß von dem Körper, den er umschließt, sich nicht trennen läßt, kann man doch die populäre Definition benutzen und zum Anfang einmal sagen: Der zeichnerische Stil sieht in Linien, der malerische in Massen. Linear sehen heißt dann, daß Sinn und Schönheit der Dinge zunächst im Umriß gesucht wird – auch Binnenformen haben ihren Umriß –, daß das Auge den Grenzen entlang geführt und auf ein Abtasten der Ränder hingeleitet wird, während ein Sehen in Massen da statthat, wo die Aufmerksamkeit sich von den Rändern zurückzieht, wo der Umriß dem Auge als Blickbahn mehr oder weniger gleichgültig geworden ist und die Dinge als Fleckenerscheinungen das Primäre des Eindrucks sind. Es ist dabei gleichgültig, ob solche Fleckenerscheinungen als Farbe sprechen oder nur als Helligkeiten und Dunkelheiten.
Das bloße Vorhandensein von Licht und Schatten, auch wenn ihnen eine bedeutende Rolle zugewiesen ist, entscheidet noch nicht über den malerischen 21 Charakter eines Bildes. Auch die zeichnerische Kunst hat es mit Körpern und Raum zu tun und braucht die Lichter und die Schatten, um den Eindruck des Plastischen zu gewinnen. Die Linie bleibt ihnen aber als feste Grenze über- oder wenigstens beigeordnet. Lionardo gilt mit Recht als der Vater des Helldunkels und sein Abendmahl ist im besonderen das Bild, wo zum ersten Male in der neueren Kunst Helles und Dunkles als Kompositionsfaktor im großen verwendet ist, allein was wären diese Lichter und Dunkelheiten ohne die königlich sichere Führung, die in der Hand der Linie liegt! Alles hängt davon ab, wie weit den Rändern eine führende Bedeutung zugeteilt oder genommen ist, ob sie linear abgelesen werden müssen oder nicht. In einem Fall bedeutet der Umriß ein gleichmäßig die Form umfahrendes Geleise, dem sich der Betrachter ruhig überlassen kann, im andern Fall sind es Helligkeiten und Dunkelheiten, die das Bild beherrschen, nicht gerade unbegrenzt, aber doch ohne Betonung der Grenzen. Nur noch stellenweise taucht ein Stück faßbarer Umriß empor, als gleichmäßig sicherer Führer durch das Formganze hat er aufgehört zu sein. Darum: was den Unterschied ausmacht zwischen Dürer und Rembrandt, ist nicht ein Weniger oder Mehr im Aufbieten von Licht- und Schattenmassen, sondern daß dort die Massen mit betonten Rändern erscheinen und hier mit unbetonten.
Sobald die Linie als Grenzsetzung entwertet ist, beginnen die malerischen Möglichkeiten. Dann ist es, als ob es plötzlich in allen Winkeln lebendig würde von einer geheimnisvollen Bewegung. Während die stark sprechende Umrandung die Form unverrückbar macht, die Erscheinung gleichsam festlegt, liegt es im Wesen einer malerischen Darstellung, der Erscheinung den Charakter des Schwebenden zu geben: die Form fängt an zu spielen, Lichter und Schatten werden zu einem selbständigen Element, sie suchen sich und binden sich, von Höhe zu Höhe, von Tiefe zu Tiefe; das Ganze gewinnt den Schein einer rastlos quellenden, nie endenden Bewegung. Ob die Bewegung flackernd und heftig sei oder nur ein leises Zittern und Flimmern: sie bleibt für die Anschauung ein Unerschöpfliches.
Man kann also den Unterschied der Stile weiterhin so bestimmen, daß das lineare Sehen zwischen Form und Form fest scheidet, während das malerische Auge umgekehrt auf jene Bewegung hin visiert, die über das Ganze der Dinge hinweggeht. Dort gleichmäßig klare Linien, die trennend wirken, hier unbetonte Grenzen, die die Bindung begünstigen. Es kommt mancherlei dazu, den Eindruck einer durchgehenden Bewegung zu erzeugen – wir werden davon reden –, das Freiwerden aber der Massen von Hell 22 und Dunkel, daß sie sich in selbständigem Spiel gegenseitig haschen können, bleibt die Grundlage eines malerischen Eindrucks. Und damit ist auch gesagt, daß hier nicht das Einzelne, sondern das Gesamtbild das Entscheidende ist, denn nur im Ganzen kann jenes geheimnisvolle Ineinanderfließen von Form und Licht und Farbe wirksam werden und es ist offenbar, daß das Undingliche und Körperlose hier ebensoviel bedeuten muß wie das Körperlich-Gegenständliche.
Wenn Dürer oder Cranach eine Aktfigur als etwas Helles vor schwarzen Grund stellen, so bleiben die Elemente grundsätzlich geschieden: Grund ist Grund, Figur ist Figur, und die Venus oder Eva, die wir vor uns sehen, wirkt als weiße Silhouette auf schwarzer Folie. Umgekehrt, wenn bei Rembrandt ein Akt auf dunklem Grunde steht, so scheint das Helle des Körpers aus dem Dunkel des Raumes sich gleichsam herauszuentwickeln; es ist, als ob alles aus einem Stoffe wäre. Die Deutlichkeit des Gegenständlichen braucht dabei nicht herabgesetzt zu sein. Bei völliger Klarheit der Form kann sich zwischen den modellierenden Lichtern und Schatten jene eigentümliche Verbindung zu eignem Leben vollzogen haben und ohne daß die sachliche Forderung irgendwie zu kurz gekommen wäre, können Figur und Raum, Dingliches und Nicht-Dingliches, zum Eindruck selbständiger Tonbewegung zusammenschlagen.
Aber freilich haben die »Maler« – um das vorauszusagen – kein kleines Interesse daran, die Lichter und Dunkelheiten von der Funktion der bloßen Formerklärung zu erlösen. Es ist die leichteste Art, eine malerische Wirkung zu gewinnen, wenn die Lichtführung nicht mehr im Dienst der gegenständlichen Deutlichkeit steht, sondern sich darüber hinwegsetzt, also daß die Schatten nicht mehr an der Form kleben, sondern daß beim Widerstreit der gegenständlichen Deutlichkeit mit der Lichtführung das Auge um so williger sich dem bloßen Spiel der Töne und Formen im Bild überläßt. Eine malerische Beleuchtung – sagen wir in einem kirchlichen Innenraum – wird nicht die sein, die die Pfeiler und Wände möglichst deutlich macht, sondern sie wird im Gegenteil über die Form weggehen und sie teilweise verhüllen. Und ebenso wird man die Silhouetten – wenn der Begriff hier überhaupt noch paßt – immer gerne ausdrucksarm machen: eine malerische Silhouette deckt sich nie mit der Gegenstandsform. Sobald sie zu stark gegenständlich spricht, isoliert sie sich und bildet ein Hemmnis für das Zusammenfluten der Massen im Bild.
Mit alldem ist aber das Entscheidende noch nicht gesagt. Wir müssen 23 auf den Grundunterschied linearer und malerischer Darstellung zurückgehen, wie ihn schon das Altertum erkannt hat: daß jene die Dinge gibt wie sie sind, diese wie sie zu sein scheinen. Es klingt diese Definition etwas grob und für philosophische Ohren fast unerträglich. Ist denn nicht alles Erscheinung? und was soll es für einen Sinn haben, von einer Darstellung der Dinge, wie sie sind, sprechen zu wollen? In der Kunst haben diese Begriffe allerdings ihr dauerndes Recht. Es gibt einen Stil, der, wesentlich objektiv gestimmt, die Dinge nach ihren festen, tastbaren Verhältnissen auffaßt und wirksam machen will, und es gibt im Gegensatz dazu einen Stil, der, mehr subjektiv gestimmt, der Darstellung das Bild zugrunde legt, in dem die Sichtbarkeit dem Auge wirklich erscheint und das mit der Vorstellung von der eigentlichen Gestalt der Dinge oft so wenig Ähnlichkeit mehr hat.
Der lineare Stil ist ein Stil der plastisch empfundenen Bestimmtheit. Die gleichmäßig feste und klare Begrenzung der Körper gibt dem Beschauer eine Sicherheit, als ob er sie mit den Fingern abtasten könnte und alle modellierenden Schatten schließen sich der Form so vollständig an, daß der Tastsinn geradezu herausgefordert wird. Darstellung und Sache sind sozusagen identisch. Der malerische Stil dagegen hat sich von der Sache, wie sie ist, mehr oder weniger losgesagt. Für ihn gibt es keinen fortlaufenden Umriß mehr und die tastbaren Flächen sind zerstört. Lauter Flecken stehen nebeneinander, unzusammenhängende. Zeichnung und Modellierung decken sich nicht mehr im geometrischen Sinne mit der plastischen Formunterlage, sondern geben nur den optischen Schein der Sache.
Wo die Natur eine Kurve zeigt, finden wir jetzt vielleicht einen Winkel und statt einer gleichmäßig fortschreitenden Ab- und Zunahme des Lichtes erscheint das Hell und Dunkel jetzt stoßweise, in unvermittelten Massen. Nur die Erscheinung der Wirklichkeit ist aufgefangen, etwas ganz anderes als was die lineare Kunst mit ihrem plastisch bedingten Sehen gestaltete, und eben darum können die Zeichen, die der malerische Stil verwendet, keine direkte Beziehung mehr zur objektiven Form haben. Das eine ist eine Kunst des Seins, das andere eine Kunst des Scheins. Die Bildgestalt bleibt eine schwebende und soll sich nicht in Linien und Flächen verfestigen, die mit der Tastbarkeit der wirklichen Dinge zusammengehen.
Das Umreißen einer Figur mit gleichmäßig bestimmter Linie hat noch etwas von körperlichem Greifen an sich. Die Operation, die das Auge ausführt, gleicht der Operation der Hand, die tastend am Körper entlang geht, und die Modellierung, die in der Lichtabstufung das Wirkliche wiederholt, 24 wendet sich ebenso an den Tastsinn. Eine malerische Darstellung dagegen in bloßen Flecken schließt diese Analogie aus. Sie wurzelt nur im Auge und wendet sich nur an das Auge und wie das Kind sich abgewöhnt, alle Dinge auch anzufassen, um sie zu »begreifen«, so hat die Menschheit sich abgewöhnt, das Bildwerk auf das Tastbare hin zu prüfen. Eine entwickeltere Kunst hat gelernt, der bloßen Erscheinung sich zu überlassen.
Damit hat die ganze Idee des Bildwerks sich verschoben: das Tastbild ist zum Sehbild geworden, die kapitalste Umorientierung, die die Kunstgeschichte kennt.
Nun braucht man natürlich nicht gleich an die letzten Formulierungen der modernen impressionistischen Malerei zu denken, wenn man sich die Umwandlung des linearen Typs in den malerischen vorstellen will. Das Bild einer belebten Straße, wie es etwa von Monet gemalt worden ist und wo nichts, aber auch gar nichts mehr in der Zeichnung sich mit jener Form deckt, die wir aus der Natur zu kennen glauben, ein Bild mit dieser verblüffenden Entfremdung des Zeichens von der Sache findet sich freilich noch nicht im Zeitalter Rembrandts, allein grundsätzlich ist der Impressionismus doch schon da. Jedermann kennt das Beispiel des rollenden Rades. Es verliert für den Eindruck die Speichen, statt dessen erscheinen unbestimmte konzentrische Ringe und auch das Rund des Reifes hat nicht mehr die reine geometrische Form. Nun – sowohl Velasquez wie der stille Nicolaes Maes haben diese Impression gemalt. Erst die Verundeutlichung macht das Rad laufen. Die Zeichen der Darstellung haben sich vollständig getrennt von der realen Form. Ein Triumph des Scheins über das Sein.
Doch das ist schließlich nur ein peripherischer Fall. Die neue Darstellung umfaßt aber das Unbewegte so gut wie das Bewegte. Wo der Umriß einer ruhenden Kugel nicht mehr als geometrisch-reine Kreisform gegeben ist, sondern mit gebrochener Linie und wo die Modellierung der Kugeloberfläche in einzelne Licht- und Schattenklumpen sich zersetzt hat, statt mit unmerklichen Abstufungen gleichmäßig fortzuschreiten, da stehen wir überall schon auf impressionistischen Boden.
Und wenn es nun wahr ist, daß der malerische Stil nicht die Sachen an sich gestaltet, sondern die Welt als eine gesehene darstellt, das heißt, so wie sie dem Auge wirklich erscheint, so ist damit auch gesagt, daß die verschiedenen Teile eines Bildes einheitlich, aus gleicher Distanz gesehen sind. Das scheint zwar selbstverständlich, ist es aber durchaus nicht. Die Distanz für deutliches Sehen ist etwas Relatives: verschiedene Dinge verlangen 25 verschiedene Augennähe. In einem und demselben Formkomplex können für das Auge ganz verschiedene Aufgaben liegen. Man sieht die Formen eines Kopfes zum Beispiel ganz klar, aber das Muster des Spitzenkragens darunter verlangt ein näheres Hinzutreten oder wenigstens eine besondere Einstellung des Auges, wenn ihm die Figuren deutlich werden sollen. Der lineare Stil als Darstellung des Seins hat der sachlichen Deutlichkeit diese Konzession ohne weiteres gemacht. Es war ganz natürlich, daß man die Dinge, jedes in seiner besonderen Gestalt, so gab, daß sie vollkommen deutlich sind. Die Forderung der einheitlichen optischen Auffassung existiert für diese Kunst gerade in ihren reinsten Ausprägungen grundsätzlich nicht. Holbein geht bei seinen Bildnissen der Form von Stickereien und kleinem Goldschmiedewerk bis in einzelnste nach. Umgekehrt hat Frans Hals einen Spitzenkragen gelegentlich nur noch als einen weißen Schimmer gemalt. Er wollte nicht mehr geben als das, was der Blick auffaßt, der das Ganze übersieht. Der Schimmer muß dann freilich so aussehen, daß man überzeugt ist, im Grunde sei alles Detail vorhanden und nur die Entfernung bewirke für diesen Augenblick die undeutliche Erscheinung.
Das Ausmaß dessen, was einheitlich gesehen werden kann, ist sehr verschieden genommen worden. Wenn man nur die höheren Grade als Impressionismus zu bezeichnen pflegt, so ist doch daran festzuhalten, daß diese nicht etwas wesentlich Neues bedeuten. Es wäre schwer, den Punkt anzugeben, wo das »Bloß-Malerische« aufhört und das Impressionistische beginnt. Alles ist Übergang. Und so läßt sich auch kaum ein letzter Ausdruck des Impressionismus festlegen, der als seine klassische Vollendung gelten könnte. Viel eher ist das auf der Gegenseite denkbar. Was Holbein gibt, ist in der Tat eine unüberbietbare Verkörperung der Kunst des Seins, aus der alle Elemente des bloßen Scheins ausgeschieden sind. Merkwürdigerweise gibt es für diese Darstellungsform kein besonderes Wort.
Noch etwas. Das einheitliche Sehen ist natürlich an eine gewisse Distanz gebunden. Distanz bedingt aber, daß das körperlich Runde mehr und mehr flach wird in der Erscheinung. Wo die Tastempfindungen auslöschen, wo nur noch helle und dunkle Töne nebeneinander liegend wahrgenommen werden, da ist der malerischen Darstellung der Boden bereitet. Nicht daß der Eindruck von Volumen und Raum fehlte, im Gegenteil, die körperliche Illusion kann viel stärker sein, aber diese Illusion ist gerade dadurch erreicht, daß in das Bild nicht mehr von Plastizität hineingetragen ist als die Erscheinung des Ganzen wirklich enthält. Das ist es, wodurch eine 26 Radierung Rembrandts sich von jedem Stich Dürers unterscheidet. Bei Dürer überall das Bemühen, Tastwerte zu gewinnen, eine Zeichnung, die, so lange es irgend geht, mit ihren modellierenden Linien der Form folgt, bei Rembrandt umgekehrt die Tendenz, das Bild der Tastzone zu entrücken und in der Zeichnung alles fallen zu lassen, was auf unmittelbare Erfahrungen der Tastorgane zurückgeht, so daß unter Umständen die gewölbte Form als ein völlig Flaches mit einer Lage gerader Striche gezeichnet wird, ohne doch im Zusammenhang des Ganzen flach zu wirken. Nicht von Anfang an ist dieser Stil da. Innerhalb des Werkes von Rembrandt gibt es eine deutliche Entwicklung. So ist die frühe badende Diana noch in einem (relativ) plastischen Stil mit gewölbten Linien auf die Einzelform hin durchmodelliert, die späten Frauenakte dagegen, im großen gesehen, gebrauchen fast nur noch flaches Lineament. Dort drängt sich die Figur vor, in den späten Kompositionen dagegen ist sie in das Ganze der raumschaffenden Töne eingebettet. Was aber im Strichwerk der Zeichnung offen zutage liegt, ist natürlich auch die Basis für das gemalte Bild, wenn sich auch der Laie hier vielleicht schwerer Rechenschaft davon zu geben imstande ist.
Über der Feststellung solcher Tatsachen, die der Kunst der Darstellung auf der Fläche eigentümlich sind, wollen wir aber nicht vergessen, daß wir auf einen Begriff des Malerischen zielen, der über das Sondergebiet der Malerei hinaus verbindlich ist und für die Architektur ebensoviel bedeutet wie für die Künste der Naturnachahmung.
In den bisherigen Sätzen ist das Malerische wesentlich als eine Sache der Auffassung behandelt worden, in dem Sinne, daß es auf das Objekt nicht ankomme, sondern daß das Auge nach seinem Willen alles so oder so, malerisch oder nichtmalerisch auffassen könne.
Nun ist aber nicht zu leugnen, daß wir schon in der Natur gewisse Dinge und Situationen als malerisch bezeichnen. Der malerische Charakter scheint ihnen anzuhaften, unabhängig von der besonderen Auffassung durch ein malerisch gestimmtes Auge. Natürlich gibt es kein Malerisches an und für sich und auch das sogenannte Objektiv-Malerische wird erst malerisch für ein auffassendes Subjekt, aber deswegen kann man doch diese Motive, deren malerischer Charakter in nachweisbaren tatsächlichen Verhältnissen beruht, als etwas Besonderes herausheben. Es sind Motive, wo die einzelnen Form in einen großen Zusammenhang so verflochten ist, daß der Eindruck einer 27 durchgehenden Bewegung entsteht. Kommt die wirkliche Bewegung hinzu, um so besser, aber nötig ist sie nicht. Es können Verschlingungen der Form sein, die derart malerisch wirken oder besondere Ansichten und Beleuchtungen, immer wird die feste, ruhende Körperlichkeit überspielt sein von dem Reiz einer Bewegung, die nicht im Objekt liegt und damit ist zugleich gesagt, daß das Ganze nur als »Bild« für das Auge existiert und daß es sich nie, auch nicht im ideellen Sinne, mit Händen fassen läßt.
Man nennt den zerlumpten Bettler eine malerische Figur, mit dem verwitterten Hut und den aufgebrochenen Schuhen, während die Stiefel und Hüte, die eben aus dem Laden kommen, als unmalerisch gelten. Es fehlt ihnen das reiche, rieselnde Leben der Form, das dem Wellengekräusel vergleichbar ist, wenn ein Windhauch über die Wasserfläche streift. Und wenn dieses Bild zu den Lumpen des Bettlers nicht gut paßt, so denke man an kostbarere Kostüme, wo mit der gleichen Wirkung die Flächen durch Schlitze aufgebrochen oder durch die bloße Faltenschiebung bewegt gemacht sind.
Aus denselben Gründen gibt es eine malerische Schönheit der Ruine. Die Starrheit der tektonischen Form ist gebrochen und indem die Mauer bröckelt, indem Risse und Löcher entstehen und Gewächse sich ansetzen, entwickelt sich ein Leben, das wie ein Schauer und Schimmer über die Fläche hingeht. Und wenn nun die Ränder unruhig werden und die geometrischen Linien und Ordnungen verschwinden, kann der Bau mit den frei bewegten Formen der Natur, mit Bäumen und Hügeln, eine Bindung zu einem malerischen Ganzen eingehen, wie sie der nichtruinenhaften Architektur versagt ist.
Ein Binnenraum gilt als malerisch, wenn nicht das Gerüste von Wand und Decke das Wort hat, sondern wenn das Dunkel in den Winkeln liegt und vielerlei Gerät vermittelnd die Ecken füllt, so daß über alles hinweg, bald lauter, bald leiser, der Eindruck einer das Ganze erfüllenden Bewegung lebendig wird. Schon die Stube in Dürers Hieronymus-Stich sieht malerisch aus, vergleicht man aber damit jene Hütten und Höhlen, in denen die Bauernfamilien des Ostade nisten, so ist der malerisch-dekorative Gehalt hier so viel größer, daß man das Wort erst für diese Fälle aufgespart wissen möchte.
Fülle in Linien und Massen wird schon immer zu einer gewissen Bewegungsillusion führen, vorzüglich sind es aber die reichen Gruppierungen, die malerische Bilder liefern. Was ist es, was den Reiz eines malerischen 28 Winkels in einem alten Städtchen ausmacht? Neben den bewegten Achsenstellungen spricht hier offenbar sehr stark das Motiv der Deckung und Überschneidung mit. Das heißt nicht nur, daß ein Geheimnis zu erraten bleibt, sondern daß bei der Verflechtung der Formen eine Gesamtfigur entsteht, die etwas anderes ist als die bloße Summe der Teile. Der malerische Wert dieser neuen Figur wird um so höher anzuschlagen sein, je mehr sie der bekannten Form der Dinge gegenüber etwas Überraschendes enthält. Jedermann weiß, daß unter den möglichen Ansichten eines Gebäudes die frontale am wenigsten malerisch ist: hier deckt sich Sache und Erscheinung vollständig. Sobald aber die Verkürzung eintritt, scheidet sich die Erscheinung von der Sache, die Bildform wird eine andere als die Gegenstandsform und man spricht von einem malerischen Bewegungsreiz. Gewiß spielt bei einer solchen Verkürzung der Tiefenzug eine wesentliche Rolle im Eindruck: das Gebäude geht in die Tiefe hinein. Der optische Tatbestand ist aber der, daß hier die gegenständliche Klarheit hinter einer Erscheinung zurücktritt, in der Umriß und Flächen sich der reinen Sachform entfremdet haben. Sie ist nicht unerkennbar geworden, allein ein Rechteck ist nicht mehr ein Rechteck und die parallel laufenden Linien haben ihre Parallelität verloren. Indem nun alles sich verschiebt, Silhouette und Binnenzeichnung, entwickelt sich ein ganz selbständiges Spiel der Formen, das man um so mehr genießt, je mehr die Grund- und Ausgangsform bei allem Wechsel der Erscheinung doch noch durchschlägt. Nie kann eine malerische Silhouette mit der Gegenstandsform sich decken.
Natürlich werden bewegte Architekturformen von Haus aus einen Vorsprung in der malerischen Wirkung vor ruhigen Formen haben. Handelt es sich um eigentliche Bewegung, so stellt sich die Wirkung noch leichter ein. Es gibt nichts Malerischeres als die bewegte Menge eines Marktes, wo nicht nur durch die Fülle und das Ineinander von Menschen und Dingen die Aufmerksamkeit vom Einzel-Gegenständlichen abgezogen wird, sondern wo an den Beschauer, eben weil es sich um ein Bewegtes handelt, die Aufforderung ergeht, sich ohne plastische Einzelkontrolle dem bloßen Augeneindruck zu überlassen. Nicht alle folgen dieser Aufforderung und wer es tut, kann es in verschiedenem Grade tun, das heißt, die malerische Schönheit der Szene kann auf mehr als eine Weise verstanden werden. Selbst bei einer rein linearen Darstellung aber – und das ist das Entscheidende – bliebe eine gewisse dekorativ-malerische Wirkung immer übrig.
Endlich wird in diesem Zusammenhang das Motiv der malerischen 29 Beleuchtungen nicht übergangen werden dürfen. Auch hier handelt es sich um objektive Tatbestände, denen man, abgesehen von der besonderen Art der Auffassung, einen malerisch-dekorativen Charakter zuspricht. Es sind für das gewöhnliche Gefühl vor allem die Fälle, wo das Licht oder der Schatten über die Form weggeht, das heißt, im Widerspruch zur Sachklarheit steht. Wir brachten bereits das Beispiel eines malerisch beleuchteten Kirchenraumes. Wenn hier der einfallende Sonnenstrahl die Dunkelheit durchbricht und scheinbar willkürlich seine Figuren auf Pfeiler und Boden zeichnet, so ist das so recht ein Schauspiel, bei dem der volkstümliche Geschmack befriedigt sagt: »wie malerisch!« Aber es gibt Situationen, in denen das Huschen und Weben des Lichtes im Raum ebenso eindrücklich wirkt, ohne daß der Widerspruch zwischen Form und Beleuchtung so grell sichtbar wird. Schon die malerische Dämmerstunde ist ein solcher Fall. Hier ist das Gegenständliche auf andere Art überwunden: die Formen lösen sich auf in der lichtschwachen Atmosphäre und statt einer Anzahl von isolierten Körpern sieht man unbestimmte hellere und dunklere Massen, die zu einer gemeinsamen Tonbewegung zusammenfließen.
Die Beispiele für derartig objektiv-malerische Tatbestände bieten sich jedem in Menge. Lassen wir es bei diesen Stichproben bewenden. Sie sind offenbar nicht alle von gleichem Kaliber: es gibt gröbere und feinere malerische Bewegungsreize, je nachdem das Plastisch-Gegenständliche mehr oder weniger am Eindruck beteiligt ist. Alle miteinander haben sie die Eigenschaft, daß sie sich leicht einer malerischen Behandlung anbieten, aber sie sind nicht unbedingt darauf angewiesen. Auch wo wir ihnen im linearen Stil begegnen, ergibt sich ein Eindruck, der nicht gut anders als mit dem Begriff malerisch bezeichnet werden kann, wie man das etwa beim Hieronymus-Stich Dürers feststellen kann.
Die eigentlich interessante Frage ist nun diese: Wie verhält sich geschichtlich der malerische Darstellungsstil zu diesem Malerischen des Motivs?
Klar ist zunächst soviel, daß der Sprachgebrauch jedes Formganze als malerisch bezeichnet, das, auch wenn es ein Ruhendes ist, einen Bewegungseindruck auslöst. Der Bewegungsbegriff gehört aber auch zum Wesen des malerischen Sehens: das malerische Auge faßt alles als ein Vibrierendes auf und läßt nichts in bestimmten Linien und Flächen sich verfestigen. Insofern liegt eine grundsätzliche Verwandtschaft vor. Jeder Blick auf die Kunstgeschichte zeigt aber, daß die Blüte malerischer Darstellung nicht 30 zusammenfällt mit der Ausbildung der gemeinhin als malerisch empfundenen Motive. Ein feiner Architekturmaler braucht keine malerischen Gebäulichkeiten, um ein malerisches Bild zu machen. Die steifen Kostüme der Prinzessinnen, die Velasquez hat malen müssen, mit ihren linearen Musterungen, sind ganz und gar nicht das, was man im populären Sinne malerisch nennt, aber Velasquez hat sie so malerisch gesehen, daß sie die zerlumpten Bettler des jungen Rembrandt übertreffen, obwohl Rembrandt, wie es zunächst scheint, die größere Gunst des Stoffes für sich hatte.
Gerade das Beispiel Rembrandts zeigt, daß der Fortschritt in der malerischen Auffassung mit immer größerer Einfachheit zusammengehen kann. Einfachheit aber heißt hier Abkehr von dem populären Ideal des Motivisch-Malerischen. Als er jung war, ja, damals meinte er, im zerlumpten Bettlermantel da liege die Schönheit. Und unter den Köpfen gefielen ihm am besten die viel durchfurchten Greisenköpfe. Er bringt ruinöses Gemäuer, gewundene Treppen, Schrägansichten, gewaltsame Beleuchtungen, das Gewimmel des Vielen usw., später verliert sich das Pittoreske – ich gebrauche absichtlich das Fremdwort zur Unterscheidung – und in gleichem Maße nimmt das Eigentlich-Malerische zu.
Dürfen wir demnach ein Imitativ-Malerisches unterscheiden von einem Dekorativ-Malerischen? Ja und nein. Es gibt offenbar ein Malerisches von mehr gegenständlich-objektivem Charakter und es ist zunächst nichts dagegen einzuwenden, wenn man dieses als das Dekorativ-Malerische bezeichnet. Allein es hört nicht auf, wo das Gegenständliche aufhört. Auch der späte Rembrandt, dem die pittoresken Dinge und das pittoreske Arrangement gleichgültig geworden sind, bleibt malerisch-dekorativ. Nur sind es eben nicht mehr die einzelnen Körper im Bilde, die die malerische Bewegung tragen, sondern sie liegt nur wie ein Hauch über dem beruhigten Bilde.
Das was man gemeinhin als malerisches Motiv bezeichnet, ist mehr oder weniger nur eine Vorstufe zu den höheren Formen des malerischen Geschmackes, historisch von größter Wichtigkeit, denn gerade an diesen mehr äußerlichen, gegenständlich-malerischen Effekten scheint sich das Gefühl für eine allgemein malerische Auffassung der Welt großgezogen zu haben.
Wie es aber eine Schönheit des Malerischen gibt, so gibt es natürlich auch eine Schönheit des Nicht-Malerischen. Es fehlt uns nur das besondere Wort dafür. Lineare Schönheit, plastische Schönheit sind keine schlagenden Bezeichnungen. Innerhalb unserer Darlegung hier aber ist es ein Satz, auf 31 den wir von allen Seiten zurückkommen werden, daß alle Wandlungen des Darstellungsstils begleitet sind von Wandlungen der dekorativen Empfindung. Linearer Stil und malerischer Stil sind nicht nur Probleme der Imitation, sondern auch der Dekoration.
Der große Gegensatz des linearen und des malerischen Stils entspricht einem grundsätzlich verschiedenen Interesse an der Welt. Dort ist es die feste Gestalt, hier die wechselnde Erscheinung; dort ist es die bleibende Form, meßbar, begrenzt, hier die Bewegung, die Form in Funktion; dort die Dinge für sich, hier die Dinge in ihrem Zusammenhang. Und wenn man sagen kann, dort habe sich die Hand die Körperwelt wesentlich nach ihrem plastischen Gehalt ertastet, so ist jetzt das Auge für den Reichtum verschiedenartigster Stofflichkeit empfindlich geworden und es ist kein Widerspruch, wenn auch hier noch die optische Empfindung durch das Tastgefühl genährt erscheint, jenes andere Tastgefühl, das die Art der Oberfläche, die verschiedene Haut der Dinge kostet. Über das Greifbar-Gegenständliche dringt aber jetzt die Empfindung auch in das Reich des Ungreifbaren: erst der malerische Stil kennt eine Schönheit des Körperlosen. Aus dem verschieden orientierten Interesse an der Welt entspringt jedesmal eine andere Schönheit.
Es ist wahr, erst der malerische Stil gibt die Welt als eine wirklich gesehene und man hat ihn deswegen als Illusionismus bezeichnet. Allein man darf nicht glauben, daß erst diese spätere Kunststufe sich mit der Natur zu vergleichen gewagt habe und daß der lineare Stil nur eine vorläufige Anweisung auf das Wirkliche gewesen sei. Auch die lineare Kunst ist eine absolute gewesen und ist keiner Steigerung nach Seite der Illusion bedürftig erschienen. Für Dürer war die Malerei, wie er sie verstand, ein vollkommener »Augenbetrug« und Raffael würde angesichts des Papstbildnisses von Velasquez sich nicht für überwunden erklärt haben: seine Bilder sind eben nur auf ganz anderen Grundlagen aufgebaut. Die Verschiedenheit dieser Grundlagen aber, ich wiederhole es, ist nicht nur imitativer, sondern auch, und ganz wesentlich, dekorativer Art. Nicht so hat sich die Entwicklung vollzogen, daß man immer das gleiche Ziel vor Augen gehabt hätte und daß sich in der Bemühung um den »wahren« Ausdruck des Wirklichen die Manier allmählich gewandelt hätte. Das Malerische ist nicht eine höhere Stufe in der Lösung der einen Aufgabe der Naturnachahmung, 32 sondern eine generell andere Lösung. Erst wo das dekorative Gefühl ein anderes geworden ist, hat man eine Wandlung in der Art der Darstellung zu erwarten. Nicht aus dem kühlen Entschluß heraus, im Interesse der Wahrhaftigkeit oder der Vollständigkeit die Dinge auch einmal von einer anderen Seite her aufzufassen, bemüht man sich um die malerische Schönheit der Welt, sondern getroffen von dem Reiz des Malerischen. Daß man lernte, das zarte malerische Scheinbild von der tastbaren Sichtbarkeit abzulösen, ist nicht ein Fortschritt, der einer konsequenteren naturalistischen Gesinnung verdankt werden muß, sondern ist bedingt durch das Erwachen eines neuen Schönheitsgefühls, des Gefühls für die Schönheit jener geheimnisvoll das Ganze durchzitternden Bewegung, die für die neue Generation zugleich das Leben war. Alle Prozeduren des malerischen Stils sind nur Mittel zum Zweck. Auch das einheitliche Sehen ist nicht eine Errungenschaft von selbständigem Wert, sondern ist ein Verfahren, das mit dem einen Ideal entstand und mit ihm auch wieder gefallen ist.
Von hier aus versteht man auch, daß es den wesentlichen Punkt nicht trifft, wenn etwa jemand einwirft: jene formentfremdeten Zeichen, deren sich der malerische Stil bediene, bedeuteten nichts Besonderes, denn in der Anschauung von weitem einigten sich die unzusammenhängenden Flecken doch wieder zur geschlossenen Form, und die eckig gebrochenen Linien beruhigten sich zur Kurve, so daß der Eindruck schließlich der gleiche sei, wie in der älteren Kunst, nur eben auf anderen Wegen gewonnen und darum intensiver wirkend. So liegt die Sache in der Tat nicht. Es kommt nicht nur ein Kopf von stärkerer Illusionskraft heraus im Bildnis des 17. Jahrhunderts: was Rembrandt von Dürer wesentlich unterscheidet, ist das Vibrieren des Bildes im ganzen, das sich auch dann behauptet, wenn die Formzeichen dem Auge nicht mehr im einzelnen erkennbar sein sollten. Gewiß unterstützt es die illusionäre Wirkung mächtig, daß dem Betrachter eine selbständige Arbeit im Zusammenbauen des Bildes zugewiesen ist, daß die einzelnen Pinselstriche bis zu einem gewissen Grad erst im Akt der Anschauung zusammenschmelzen. Allein das Bild, das entsteht, ist grundsätzlich nicht mehr vergleichbar dem Bild des linearen Stils: die Erscheinung bleibt eine schwebende und soll sich nicht in jene Linien und Flächen verfestigen, die für den Tastsinn eine Bedeutung haben.
Ja man kann mehr sagen, die formentfremdete Zeichnung braucht gar nicht zu verschwinden. Die malerische Malerei ist nicht ein Fernstil in dem Sinne, daß die Faktur unsichtbar werden soll. Man hat das Beste 33 nicht gesehen, wenn bei Velasquez oder Frans Hals der Pinselstrich verloren gegangen ist. Und ganz klar liegt das Verhältnis bei der bloßen Zeichnung vor Augen. Kein Mensch denkt daran, eine Rembrandtsche Radierung so weit von sich wegzuhalten, bis er die einzelnen Linien nicht mehr sieht. Allerdings, es ist nicht mehr die schönlinige Zeichnung des klassischen Kupferstichs, aber das heißt durchaus nicht, daß die Linien nun plötzlich nichts mehr zu bedeuten hätten; im Gegenteil, man soll sie sehen, diese neuen, wüsten Linien, gebrochen und zerstreut, vervielfacht, wie sie sind. Die beabsichtigte Formwirkung wird dennoch sich einstellen.
Ein Letztes. Da auch die vollkommenste Nachbildung der natürlichen Erscheinung immer noch unendlich verschieden bleibt von der Wirklichkeit, kann es keine grundsätzliche Minderwertigkeit bedeuten, wenn der Linearismus mehr das Tastbild als das Sehbild gestaltet. Die rein optische Auffassung der Welt ist eine Möglichkeit, aber nicht mehr. Daneben wird sich immer wieder das Bedürfnis nach einer Kunst melden, die nicht den bloßen bewegten Schein der Welt auffängt, sondern den Tasterfahrungen über das Sein gerecht zu werden versucht. Jeder Unterricht wird gut daran tun, die Darstellung nach beiden Seiten hin zu üben.
Gewiß, es gibt Sachen in der Natur, die dem malerischen Stil mehr entgegenkommen als dem zeichnerischen: aber es ist ein Vorurteil, zu glauben, daß die ältere Kunst sich deswegen beengt habe fühlen müssen. Sie hat alles darstellen können, was sie darstellen wollte, und man bekommt erst die rechte Vorstellung von ihrer Gewalt, wenn man sich erinnert, wie sie schließlich auch für ganz unplastische Dinge einen linearen Ausdruck gefunden hat: für Gebüsch und Haar, für Wasser und Wolken, für Rauch und Feuererscheinungen. Ja, hat die Behauptung überhaupt recht, daß diesen Dingen mit der Linie schwerer beizukommen sei als den plastischen Körpern? Wie man in das Geläute der Glocken alle möglichen Worte hineinhören kann, so kann man sich das Sichtbare auf sehr verschiedene Weise und Art zurechtlegen und niemand darf sagen, die eine sei wahrer als die andere.
Wenn irgend eine kunstgeschichtliche Tatsache populär geworden ist, so ist es die von dem zeichnerischen Wesen des Primitiven und daß dann Licht und Schatten dazugetreten seien, um schließlich die Führung zu übernehmen, das heißt, die Kunst dem malerischen Stil auszuliefern. Man sagt 34 also niemandem etwas Neues, wenn man das Lineare voranstellt. Allein indem wir uns nun anschicken, die typischen Beispiele von Linearismus vorzuführen, müssen wir sagen, daß diese nicht bei den Primitiven des 15. Jahrhunderts zu finden sind, sondern erst bei den Klassikern des 16. Lionardo ist in unserm Sinne linearer als Botticelli und Holbein der Jüngere linearer als sein Vater. Der Linientyp hat die moderne Entwicklung nicht eröffnet, sondern hat sich aus einer noch unreinen Stilgattung erst allmählich herausgearbeitet. Daß Licht und Schatten als bedeutender Faktor auftritt im 16. Jahrhundert, ändert nichts an dem Prinzipat der Linie. Sicher, auch die Primitiven sind zeichnerisch, aber ich würde sagen: sie haben die Linie wohl benützt, aber nicht ausgenützt. Es ist etwas anderes, an ein linienhaftes Sehen gebunden sein und bewußt auf Linie hin arbeiten. Die vollkommene Freiheit der Linie gegenüber kommt genau in dem Augenblick, wo das Gegenelement, Licht und Schatten, zur Reife gekommen ist. Nicht daß überhaupt Linien da sind, entscheidet über den linearen Stilcharakter, sondern – wie schon gesagt – erst der Nachdruck, mit dem sie sprechen, die Macht, mit der sie das Auge zwingen, ihnen zu folgen. Der Kontur der klassischen Zeichnung übt eine unbedingte Gewalt aus: er hat den Sachakzent und ist der Träger der dekorativen Erscheinung. Er ist geladen mit Ausdruck und in ihm ruht alle Schönheit. Wo immer uns Bilder des 16. Jahrhunderts begegnen, da springt uns ein entschiedenes Linienthema entgegen und Schönheit und Ausdruck der Linie sind eins. In dem Gesang der Linie offenbart sich die Wahrheit der Form. Es ist die große Leistung der Cinquecentisten, die Sichtbarkeit ganz konsequent der Linie unterworfen zu haben. Verglichen mit der Zeichnung der Klassiker ist der Linearismus der Primitiven nur eine HalbheitDabei muß man sich klar machen, daß das Quattrocento als Stilbegriff keine Einheit bildet. Der Prozeß der Linearisierung, der im 16. Jahrhundert mündet, beginnt erst um die Mitte des Jahrhunderts. Die erste Hälfte ist weniger linienempfindlich oder, wenn man will, malerischer als die zweite. Erst nach 1450 wird das Gefühl für Silhouette lebendiger. Im Süden natürlich früher und durchgreifender als im Norden..
In diesem Sinne haben wir gleich anfangs Dürer als den einen Ausgangspunkt genommen. – Was den Begriff malerisch anbelangt, so wird zwar niemand opponieren, wenn man ihn mit Rembrandt zusammenbringt, allein die Kunstgeschichte braucht ihn schon viel früher, ja, er hat sich eingenistet in der unmittelbaren Nähe der Klassiker der Linienkunst. Man nennt Grünewald malerisch im Vergleich zu Dürer, unter den Florentinern ist Andrea del Sarto der erklärte »Maler«, die Venezianer insgesamt sind 35 die malerische Schule gegenüber den Florentinern und vollends den Correggio wird man nicht anders als mit den Bestimmungen des malerischen Stils charakterisieren wollen.
Hier rächt sich die Armut der Sprache. Man müßte tausend Worte haben, um alle Übergänge bezeichnen zu können. Immer handelt es sich um relative Urteile: verglichen mit jenem Stil kann man diesen malerisch nennen. Grünewald ist freilich malerischer als Dürer, aber neben Rembrandt kennzeichnet er sich doch gleich als Cinquecentisten, das heißt, als Mann der Silhouette. Und wenn man dem Andrea del Sarto ein spezifisch malerisches Talent zuschreibt, so ist zwar zuzugeben, daß er den Umriß mehr dämpft als die andern und daß es in seinen Gewandflächen hie und da schon ganz eigentümlich zuckt, und doch hält auch er sich immer noch innerhalb einer wesentlich plastischen Empfindung und es wäre gut, wenn man den Begriff malerisch noch etwas zurückbehalten könnte. Auch die Venezianer dürfen, wenn man einmal unsere Begriffe anwenden will, von dem Linearismus nicht ausgenommen werden. Giorgiones ruhende Venus ist ein Kunstwerk der Linie so gut wie Raffaels Sixtinische Madonna.
Am weitesten von allen seinen Volksgenossen hat sich Correggio von der herrschenden Meinung freigemacht. Bei ihm merkt man deutlich, wie er die Linie als führendes Element zu überwinden versucht. Es sind zwar immer noch Linien, lange, durchlaufende Linien, mit denen er arbeitet, allein er kompliziert ihren Gang meist der Art, daß es dem Auge schwer wird, ihnen zu folgen, und in die Schatten und Lichter kommt jenes Lecken und Züngeln, als ob sie eigenmächtig einander entgegenstrebten und sich von der Form freimachen wollten.
Der italienische Barock hat an Correggio anknüpfen können. Wichtiger für die europäische Malerei aber ist die Entwicklung geworden, die der spätere Tizian und Tintoretto genommen haben. Hier sind die entscheidenden Schritte gemacht worden, die zur Darstellung des Scheins hinüberführten, und ein Sprößling dieser Schule, Greco, hat dann auch alsbald Konsequenzen daraus gezogen, die in ihrer Art nicht mehr zu überbieten waren.
Wir geben hier nicht die Geschichte des malerischen Stils, sondern bemühen uns um den allgemeinen Begriff. Man weiß, daß die Bewegung nach dem Ziel keine gleichmäßige ist und daß auf einzelne Vorstöße immer auch wieder Rückschläge erfolgen. Es dauert lange, bis das, was einzelne erreicht haben, der Allgemeinheit zugute kommt und hie und da scheint die 36 Entwicklung überhaupt rückläufig zu werden. Im allgemeinen aber handelt es sich um einen einheitlichen Prozeß, der bis gegen das Ende des 18. Jahrhunderts andauert und der in den Bildern eines Guardi oder Goya seine letzten Blüten treibt. Dann kommt der große Abschnitt. Ein Kapitel abendländischer Kunstgeschichte ist zu Ende und das neue wird wieder eingeleitet durch die Anerkennung der Linie als Herrscherin.
Der Gang der Kunstgeschichte ist, von weitem betrachtet, ungefähr gleich im Süden und im Norden. Beide haben im Anfang des 16. Jahrhunderts ihren klassischen Linearismus und beide erleben im 17. ein malerisches Zeitalter. Es ist möglich, Dürer und Raffael, Massys und Giorgione, Holbein und Michelangelo im Grundsätzlichen als sich verwandt zu erweisen und andrerseits kreisen Rembrandt, Velasquez und Bernini, bei aller Verschiedenheit, um ein gemeinsames Zentrum. Sieht man genauer zu, so spielen freilich von Anfang an sehr bestimmte Gegensätze des nationalen Empfindens mit. Italien, das schon im 15. Jahrhundert eine sehr klar ausgebildete Linienempfindung besitzt, ist im 16. recht eigentlich die hohe Schule der »reinen« Linie und in der (malerischen) Zertrümmerung der Linie ist der italienische Barock später nie so weit gegangen wie der Norden. Für das plastische Gefühl der Italiener ist die Linie immer mehr oder weniger das Element gewesen, in dem sich alle künstlerische Gestalt formte.
Daß man das gleiche von der Heimat Dürers nicht sagen kann, ist vielleicht auffällig, da wir doch gerade in der festen Zeichnung die eigentümliche Kraft der alten deutschen Kunst zu erkennen gewöhnt sind. Allein die klassische deutsche Zeichnung, die sich nur langsam und mühsam spätgotisch-malerischem Knäuelwerk entwindet, kann wohl auf Augenblicke an italienischem Lineament ihr Muster suchen, im Grunde aber ist sie der isolierten reinen Linie abhold. Die deutsche Phantasie läßt alsbald Linie 37 mit Linie sich verflechten, statt der klaren, einfachen Bahn erscheint der Linienbündel, das Liniengewebe; Hell und Dunkel treten früh zu einem malerischen Eigenleben zusammen, und die einzelne Form geht unter im Wogenschlag der Gesamtbewegung.
Mit andern Worten: Rembrandt, den die Italiener so gar nicht verstehen konnten, ist im Norden frühe vorbereitet. Was aber hier beispielsweise für die Geschichte der Malerei vorgebracht worden ist, gilt natürlich ebenso für die Geschichte der Plastik oder der Architektur.