Curtis Yorke
Um des Kindes willen
Curtis Yorke

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Drittes Kapitel.

Als die Thür hinter Forsyth zufiel, brach der Maler in ein herzhaftes Gelächter aus.

»Ein wunderlicher Kauz,« bemerkte er in dem zärtlichen gerührten Ton, worin die meisten Leute über Forsyth zu sprechen pflegten. »Nun bleibt er wieder die ganze Nacht auf, schreibt Blatt um Blatt seines Predigtpapiers voll und kommt morgen oder übermorgen wieder zum Vorschein, blaß und elend wie ein Lichtstümpchen. Entweder überarbeitet er sich, oder er faulenzt.«

Pennington setzte sich und steckte seine Pfeife in Brand. Cigaretten rauchte er nie, sie waren ihm, wie er sagte, zu wenig »seriös«.

Der trübe Februartag ging rasch zu Ende, und es war schon so dunkel im Zimmer, daß das Feuer im Kamin seinen flackernden Schein auf die braunrote Wand warf, die verschiedenen Gipsabgüsse beleuchtend, die auf den nicht sehr ordentlich gehaltenen Borten standen, und liebevoll auf der marmornen Klytiabüste verweilend, die zu Jocelyns teuersten Schätzen zählte.

»Du siehst ja sehr aufgeräumt aus,« warf Pennington plötzlich hin. »Gibt's Neuigkeiten?«

»Meinen ›Sonnabend im Arbeiterviertel‹ habe ich verkauft,« erwiderte der Maler. »Er wird mir nicht gerade mit Gold aufgewogen, aber die Summe kommt mir jetzt besonders gelegen.«

»Freut mich riesig, altes Haus! Das ist dein eigentliches Gebiet – sorgfältig die Wirklichkeit studieren und wiedergeben, Originalideen in Farbe aber aus dem Wege gehen! Denn was diese Art von Geschichten betrifft ...«

Er verstummte mit einem wegwerfenden Blick auf die »violetthaarigen Mägdelein« an den Wänden.

Der andre rauchte friedlich weiter. Jocelyn war trotz seiner gutmütigen Trägheit merkwürdig beharrlich und eigensinnig. Es geschah selten, daß er sich zu andern in Widerspruch setzte oder sich über irgend einen Gegenstand ereiferte, er hielt einfach den Mund – und blieb bei seiner Meinung, was man auch dagegen einwenden mochte. Möglicherweise hatte er sich schon hie und da überzeugt, daß sein Urteil nicht unfehlbar war, aber zugegeben hatte er's nie.

Seine Bilder waren mit wenig Ausnahmen Mißgeburten. Mit jedem Künstler seiner Bekanntschaft war er in stillschweigende Feindschaft geraten, weil ihm jeder die Wahrheit gesagt hatte. Jetzt trat nur noch selten ein Kunstgenosse über seine Schwelle, aber das focht ihn wenig an. Ihm war's wohl in seiner Haut und er genoß das Leben so gut als die meisten Menschen, gab für unfaßbar geringe Dinge unbegreiflich viel Geld aus und war häufig näher an einem Krach, als zur Behaglichkeit dienlich ist, aber es lag nicht in seiner heiteren, friedlichen Natur, weiter hinaus zu denken, als höchstens bis übermorgen.

»Das Unverhoffte wird sich ereignen,« pflegte er mit Gelassenheit zu sagen, so oft ihm das Wasser bis an den Hals ging.

Und in der That war das »Unverhoffte« so häufig in sein Leben getreten, daß er nach und nach die Regel darin sah.

Seine Modelle neckten sich mit ihm oder schnitten ihm saure Gesichter. Es kam selten vor, daß er sich in eines verliebte, aber er begegnete ihnen niemals unhöflich, sondern behandelte sie einfach als unentbehrliches Handwerkszeug.

»Heute habe ich den letzten Akt einer ergreifenden Tragödie miterlebt,« begann Pennington nach einem langen Schweigen, wie es sich nur ehrliche Freundschaft gestatten darf. »Ich kann den Eindruck gar nicht los werden – er verfolgt mich.«

Jocelyn schwieg, und so fuhr der andre fort: »Gestern abend hörte ich von zwei Schwestern, die in größter Armut in einem Gäßchen bei der Latimer-Straße leben sollten und wovon die eine bettlägerig sei. So ging ich denn heute früh hin und nahm gleich einen Arzt mit. Das Zimmer war überaus sauber und ordentlich, und auch das geisterhaft blasse Geschöpf, das uns empfing, war reinlich, ja zierlich gekleidet. Das einzige Möbel in der Stube war ein Gestelle, das sich für ein Bett ausgab, und darin lag die ältere Schwester, aber ihre Leiden waren zu Ende. Der Arzt sagte mir nachher, die Todesursache sei buchstäblich Hunger gewesen, und er fragte die Ueberlebende, weshalb sie sich nicht an den Armenpfleger ihres Stadtviertels gewendet hätten.

»›Meine Schwester wünschte es nicht,‹ erwiderte sie mit einer Stimme und Aussprache, die auf höhere Bildung schließen ließen, ›Sie sagte immer, Gott werde uns sicher nicht vergessen, wenn wir nur Geduld hätten.‹

»Drei volle Tage hatten sie allem Anschein nach keinen Bissen zu essen gehabt, und die ältere Schwester lag jetzt schon mehr als achtzehn Stunden tot im Zimmer, es war aber ein Ding der Unmöglichkeit, die jüngere aus dem Haus zu entfernen. Sie schien ebenso entschlossen zu sein, die Tote nicht zu verlassen und keine Hilfe von Wohlthätigkeitsanstalten zu beanspruchen. So schickte ich denn einfach Lebensmittel hin und eine verständige Aufwärterin, die über die nächsten Tage bei ihr bleiben soll. Heute nachmittag besuchte ich sie wieder und erfuhr Einzelheiten, die mir die Haare zu Berg stehen ließen. Großer Gott! Man denke sich ein paar zarte, zerbrechliche Mädchen, die in glänzenden Verhältnissen aufgewachsen sind und nun allmählich verhungern, betend und wartend, im festen Vertrauen, Gott werde ihrer nicht vergessen, wenn sie nur Geduld hätten. Das Leben ist grausam, Jocelyn, entsetzlich und unbegreiflich grausam!«

»Nun, mein Alter, du wirst ja ganz gewiß das Mögliche thun, um seine Grausamkeit zu lindern,« warf der Maler ungerührt hin. »Vermutlich muß es eben auch Fälle dieser Art geben, und es nützt gar nichts, über die Weltordnung zu murren. Läuft einem solch ein Stück Elend in den Weg, so hilft man natürlich, so gut man kann – mehr können wir wahrhaftig nicht thun.«

Pennington war aufgestanden und ging unruhig im Zimmer auf und ab.

»Es ist herzlich wenig, was man thun kann,« stieß er hervor. »Man rennt sich den Kopf ein an diesem Felswall von Elend, Krankheit und Verbrechen und reißt doch keine Bresche hinein.«

»Wenn du das einsiehst, weshalb rennst du dir denn den Kopf ein? Weshalb reibst du dich in diesem vergeblichen Versuch auf, daß du nur noch Haut und Knochen hast?« hielte ihm Jocelyn entgegen. »Ei, was kommt denn da?« fügte er hinzu, als die Thür leise und vorsichtig aufgedrückt wurde.

»Mich,« sagte ein schwaches, müdes Stimmchen.

Dot machte die Thür umsichtig hinter sich zu und zog eine dreibeinige scharlachrote Fußbank vors Feuer, um sich darauf zu setzen.

»Kalt,« sagte sie mit dem eigentümlichen kurzen Nicken, womit sie gern ihre Aeußerungen einleitete. »Fu'ch'bar kalt. Will mich wärmen.«

Dot hatte ihren eigenen Stil. Persönliche Fürwörter waren für sie nur in der Accusativform vorhanden und beim Satzbau befliß sie sich äußerster Sparsamkeit. Alles Entbehrliche wurde ausgelassen wie in Telegrammen. Da sie ohne Verkehr mit andern Kindern aufgewachsen war, hatten sich diese Eigentümlichkeiten länger erhalten können, als es sonst der Fall ist.

Nach einiger Zeit warf sie einen scheuen Seitenblick auf Pennington und fragte schüchtern: »Seist dich der Doktor?«

»Nein, Kleine. Was hast du denn getrieben, daß du so frierst?«

Sie zuckte die Achseln und schwieg ein Weilchen.

»Kalt oben bei uns,« erklärte sie dann, »und Pa aus'gangen. Wirst dich bald Thee machen?« fragte sie, ein wenig näher zu Jocelyn hinrückend.

»Das soll sofort geschehen,« versetzte er. »Wir füllen gleich den Kessel.«

Damit ging er in ein kleines anstoßendes Zimmer, das ihm als Speisekammer diente, indes Dot ruhig sitzen blieb, das Kinn mit beiden Händen, die Ellbogen auf ihre Kniee stützte und Pennington unverwandt betrachtete.

»Dich geweint?« fragte sie ernsthaft.

»Nein,« gab er zurück.

»Warum dich Augen danz danz rot?«

»Findest du sie rot, Kleine? Das kommt vielleicht daher, daß ich in letzter Zeit wenig schlief.«

»Warum weil nich'? Hast dich Zahnweh gehabt?«

Er schüttelte mit nachdenklichem Lächeln den Kopf.

»Was hat dich denn weh gethan?« forschte sie beharrlich weiter.

»Vielleicht das Herz,« bemerkte Jocelyn, der seinen Kessel über dem Feuer befestigt hatte. »Weißt du denn noch nicht, daß dieser junge Mann sich überhaupt nicht ins Bett legt, Dot? Er fände darin eine sündhafte Verweichlichung.«

»Hast dich kein Bett?« fragte Dot, den neuen Bekannten mitleidig ansehend.

»Ach, ein Bett hat er schon,« antwortete Jocelyn an seiner Stelle, »aber er behandelt seine Lagerstätte als Zierat, nicht als Gebrauchsmöbel.«

Dot machte ein verdutztes, ratloses Gesichtchen.

»Er macht Spaß, Dot,« erklärte ihr Pennington mit einem Lächeln, das sein Gesicht wunderbar verklärte. »Ich bin ein paar Nächte nicht ins Bett gekommen, weil – weil ich keine Zeit hatte.«

»Nich' Zeit zum Bettgehen?« wiederholte das Kind. »Warum weil?«

Jocelyn war wieder in seine Speisekammer gegangen. Pennington setzte sich vors Kamin und hielt seine schmächtige Hand gegen die Flamme.

»Weil ich in der letzten Nacht bei einem kleinen Mädchen war, Dot,« versetzte er zögernd. »Es war nicht viel älter als du.«

»Warum weil? War's krank? Hat's immerfort geschreit?«

»Ja, sie war krank, aber geschrieen hat sie nicht.«

»Mich schreie immer, wenn was weh thut,« bemerkte Dot mit sichtlichem Selbstgefühl. »Schreit! Brüllt!«

»Das kleine Mädchen war viel zu schwach, um zu brüllen.«

»Hat's einen Pa?«

»Nein, sie hat keinen.«

»Ist's wieder gesund?«

»Ja, mein Kind, ihr Leiden ist vorbei,« sagte er mehr zu sich selbst als zu der Kleinen. »Sie wird nie mehr krank werden – sie ist gestorben, kleine Dot.«

Um die Lippen des Kindes zuckte es.

»Mich will nicht, daß es tot sei!« rief sie mit zitterndem Stimmchen, dann setzte sie rasch hinzu: »Hat's Gott gekriegt?«

In diesem Augenblick kehrte der Hausherr zurück, und Dots verführbarer Geist war alsbald ganz von den Vorbereitungen zum Thee hingenommen. Mit leuchtenden Augen sah sie zu, wie Jocelyn Geschirr und Gebäck auf einem leichten, tragbaren Korbtischchen anordnete.

»Mich kann Thee machen!« rief sie eifrig. »Mich weiß ganz gut, wie Thee gemacht wird!«

»Gut, sobald das Wasser kocht, sollst du den Thee machen,« versicherte Jocelyn. »Komm her und gib mir einen Kuß!«

»Nein, danke,« versetzte die kleine Person, mit ernsthaften Augen zu ihm aufschauend. »Mich mag niemand Kuß deben als Pa.«

»So zimperlich, mein Fräulein?« sagte der Maler lachend, indem er belustigt über ihre Locken strich »So behalte deine Küsse eben!«

»Ja, bewahre deine Küsse, kleine Dot,« sagte Pennington, den Wasserkessel tiefer ins Feuer hängend, »bewahre sie nur. Küsse sind heutzutage allzu billige Ware.«

»Manchmal wohl,« bemerkte Jocelyn trocken, während er den Inhalt einer Biskuitbüchse untersuchte, »mitunter aber kommen sie einem höllisch teuer zu stehen.«


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