Curtis Yorke
Um des Kindes willen
Curtis Yorke

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Dreiundzwanzigstes Kapitel.

Es war fast ein Jahr vorübergegangen, ohne daß Aline Tressillian Jocelyn wiedergesehen hätte. Trotzdem dachte sie sehr häufig an ihn, und trotzdem sie sich die Versicherung gab, daß er ihr »ganz gleichgültig« sei, vergoß sie manche heimliche Thräne über sein Schweigen.

Ihre Bekannten fanden sie sehr verändert; es hieß allgemein, daß Aline Tressillian »abgesponnen« habe, jedenfalls war sie noch schlanker und viel blässer als früher.

An einem Nachmittag – es war Sonnabend – begegnete sie Jocelyn im Kensingtongarten. Er ging mit Dot oder wenigstens mit einem kleinen Mädchen, das ein verwaschenes, abgetragenes Kleid und vertragene Schuhe anhatte. In dem schmalen und farblosen Gesicht erschienen die Augen um so größer.

Auch Jocelyn war keine glänzende Erscheinung mehr. Sein Rock war zwar pünktlich gebürstet und fleckenlos, hatte aber Spiegel an den Schultern und Ellbogen, seine Wäsche war frisch, aber man sah den Manschetten an, daß ihre Kanten häufig beschnitten worden waren, weil häufiges Waschen sie verfranst hatte.

Aline nahm all diese Einzelheiten wahr, und das Herz that ihr furchtbar weh dabei.

Jocelyn hatte bei ihrem Anblick eine Anwandlung von Schwäche und Schwindel. Die alte Leidenschaft, die er für überwunden, vergessen gehalten hatte, wallte in ihm auf und machte sich über seine Willensstärke lustig.

Hastig zog er den Hut und wollte vorübergehen, aber Dot rief: »Jo, 's ist ja Fräulein T-w-illian!«

Aline hielt ihm die Hand hin.

»Wollen Sie mich nicht begrüßen?« fragte sie mit leiser Stimme.

Er machte ein überraschtes Gesicht und sagte hastig: »Wir waren in Eile, nach Haus zu kommen. Es wird wohl regnen und Dot war krank – ich muß vorsichtig sein.«

»Auch Sie sehen gar nicht wohl aus,« bemerkte Aline unsicher.

Er wurde rot.

»O, ich bin ganz wohl, danke sehr,« erwiderte er.

»Jo und mich haben Influenza gehabt,« erklärte Dot in ihrem ernsthaften Ton, »aber jetzt haben wir's nicht mehr.«

Eine Pause trat ein, dann begann Aline: »Ich gehe nächste Woche ins Seebad – ganz allein. Wollen Sie nicht – Sie würden mir eine große Freundlichkeit erweisen, wenn Sie mir Dot auf acht oder vierzehn Tage mitgeben wollten? Ich würde gewiß gut für sie sorgen!«

»Sehr gütig, gnädiges Fräulein,« versetzte er, »aber daran ist gar nicht zu denken.«

»Das thut mir sehr, sehr leid,« war alles, was sie darauf sagte, »Guten Abend – guten Abend, mein Kind! Vergiß mich nicht ganz.«

Jocelyn und Dot gingen schweigend heimwärts. Jo war ohnehin gedrückt und mißgestimmt, denn es war ihm schlecht ergangen in letzter Zeit. Durch seine Krankheit hatte er die bisherige Stelle eingebüßt, und bis jetzt hatte er noch keine andre gefunden. Das Elend der Armut lastete schwer auf ihm, weniger um seinetwillen, als des Kindes wegen. Sie war immer noch schwach und matt, sein kleines Frauenzimmerchen, und er hatte die Mittel nicht, ihr alles zu verschaffen, was sie hätte kräftigen können. Alines Anerbieten hatte ihn stark in Versuchung geführt, aber sein Stolz gestattete ihm nicht, es anzunehmen.

Indes kam am andern Morgen ein Brief.

»Geehrter Herr Jocelyn,« lautete er. »Ich bin gestern recht erschrocken über Dots kränkliches Aussehen. Wollen Sie sich's nicht noch einmal überlegen, ob Sie mir das Kind ein paar Wochen anvertrauen könnten? Ich bin überzeugt, es würde ihr gut bekommen. Aendern Sie doch Ihren Entschluß!

Ihre ergebene

A. L. Tressillian.«

Jocelyn schleuderte das Briefblatt weg und begann unruhig im Zimmer hin und her zu gehen. Was galt denn schließlich sein verdammter Stolz im Vergleich zum Wohl und Wehe des Kindes?

»Dot,« sagte er endlich, sich zu ihr an den Tisch setzend, »möchtest du gerne eine Zeit lang ans Meer gehen mit Fräulein Tressillian?«

»Mich bleibe lieber bei dir,« erwiderte sie, auf sein Knie steigend und den Kopf auf seine Schulter legend.

»Wenn ich's aber wünschte, daß du gingest?«

»Mich will thun, was dich sagst,« versetzte sie, zerstreut an seinen Rockknöpfen zupfend, »Thu' mich immer.«

Nur wenn sie mit Jocelyn allein war, wandte sie noch die alten Absonderlichkeiten ihrer Kindersprache an, sonst war sie dem entwachsen. Sie wußte aber wohl, daß ihr Kauderwelsch ihn beglückte.

Er sah sie mit zärtlicher Besorgnis an. Noch nie war ihm die wächserne Durchsichtigkeit ihrer Haut so aufgefallen wie heute, und heiße Angst schnürte ihm plötzlich das Herz zusammen. Hastig küßte er das Bleichschnäbelchen.

»Ich wünsche wirklich, daß du gehst, Liebling,« entschied er, »Es wird dir wohlthun und du wirst als eine rosige, pausbäckige kleine Dot zu deinem Jo zurückkehren!«

»Vielleicht,« meinte sie mit mattem Lächeln, gleich darauf aber fügte sie ängstlich hinzu: »Aber wer wird für dich sorgen, Jo?«

»Ach, so acht bis vierzehn Tage kann ich mich schon allein behelfen,« beruhigte er sie. »Und du schreibst mir ja dann auch nette Briefchen, weißt du?«

Und so geschah's, daß Jocelyn noch am selben Tage an Aline schrieb und ihre Einladung für Dot annahm. Der Brief war von so steifer Höflichkeit, als ein Mann sie nur immer an den Tag legen kann, wenn er von einer Frau eine Gutthat annimmt, aber er genügte Aline – wenigstens einstweilen.

Ein paar Wochen Seeluft mit etwas Eisen und kräftiger Nahrung wirkten Wunder an Dot, und sie konnte ihrem Jo wahrheitsgemäß melden, daß sie »rund und rotbackig« sei. Ihre Briefe waren Wunderwerke phantastischer Rechtschreibung und selbständigen Stils, aber er hätte sie um kein Haar anders haben mögen, als sie waren. Aline schrieb ihm kein Wort.

Obwohl er gerade in dieser Zeit eine Beschäftigung fand, die günstigere Aussichten für die Zukunft eröffnete, war Jocelyn furchtbar gedrückt und gar nicht so recht im Geleise. Seine Gesundheit war nicht mehr so fest als früher, und das Kind fehlte ihm mehr, als er vorausgesetzt hatte.

Daß er noch häufiger als sonst an Aline denken mußte, war ihm auch höchst verdrießlich. Seit sie sich so freundlich und sorglich seines Mädelchens angenommen hatte, war sein Haß gelinder geworden, ja, er fühlte wohl, daß die alte Liebe wieder um sich griff. Er war es auch müde, ihr immerfort die Thüre zu weisen, sich weiszumachen, daß sie tot sei, und sich hinter derartige Unwahrheiten zu verschanzen.

Auch die Freunde ließen ihn gegenwärtig im Stich. Pennington hatte kaum mehr Zeit für ihn, und Forsyth war auf dem Weg nach Australien, wo er sich den »Lokalton« für seine neuesten Romane holen wollte. So hatte denn Jocelyn reichlich Muße zum Brüten, und er machte den ausgiebigsten Gebrauch davon.


Am Vorabend ihrer Heimreise vom Seebad saßen Fräulein Tressillian und Dot in warmer, stiller Abenddämmerung am offenen Fenster und lauschten dem sanften Branden der steigenden Flut. Aline hatte ihren Arm um die Schulter des Kindes gelegt, und beide schwiegen schon geraume Zeit.

Mit einemmal fühlte Dot eine heiße Thräne auf ihr Händchen fallen und dann eine zweite und dritte. Sie blickte beklommen auf und dann wieder hinaus ins Weite, gleich darauf aber schob sie ihre warmen Fingerchen in Alines Hand, wo sie festgehalten und zärtlich gedrückt wurden. Noch immer schwieg das Kind, endlich aber sagte es leise: »Möchte wohl wissen, was Jo thun wird?«

»Das möchte ich auch wissen!« versetzte die andre, von Thränen erstickte Stimme.

Mit diesen Worten zog Aline das kleine Mädchen an sich, bis das Lockenköpfchen auf ihrer Schulter ruhte. Die Nacht war hereingebrochen, da und dort funkelte schon ein Stern und aus dem Garten vor dem Haus stieg Flieder- und Resedenduft empor. Ein leiser Windhauch war aus dem Schlaf erwacht, begab sich aber bald wieder zur Ruhe.

»Hast du Jo sehr lieb?« flüsterte Dot, die Lippen an Alines Ohr gedrückt.

Diese schloß sie noch fester an ihr Herz, gab aber keine Antwort.

»Weshalb warst du denn grausam gegen ihn?« fragte das Kind flüsternd weiter.

»Weil – weil – ich weiß es selbst nicht.«

»Aber jetzt könntest du nicht mehr grausam gegen ihn sein, oder? Warum lachst du? Gerade vorhin hast du ja geweint – ach und jetzt weinst du schon wieder!«

»Still, Liebchen, still – laß mir nur einen Augenblick Zeit – ich – ich – Dot, kannst du ein Geheimnis bewahren?«

»Weiß mich nicht – Jo müßte mich's sagen,« erwiderte Dot, auf einmal wieder in ihre Kindersprache verfallend.

»Ach, gerade Jo sollst du's nicht sagen, und doch –«

Sie stockte, denn ihr Herz pochte zum Zerspringen. Es war jetzt ganz dunkel geworden.

»Dot, meine süße kleine Dot, sag' mir – aber wenn du meinst, er würde böse darüber sein, so sag's lieber nicht – sag' mir – ist er zuweilen – traurig, unglücklich?«

Dot gab keine Antwort.

»O sag' mir's, Liebling!« flüsterte die weiche Frauenstimme überredend.

Das Kind nickte ernsthaft; ein Nachtschmetterling huschte vorüber, Dot folgte ihm mit den Augen.

Jetzt sprach Aline wieder, aber die Stimme klang nur wie ein leiser Hauch.

»Einst – ach, es ist, als ob's eine Ewigkeit her wäre – vor langer, langer Zeit, mein Herzchen, da hatte er mich sehr, sehr lieb. Er – er bat mich – seine Frau zu werden –«

Wieder nickte Dot, dieses Mal ganz verständnisvoll.

»Und ich – ich sagte ihm – ich liebe ihn nicht –«

»Warum that'st du das?« fragte das Kind nachdenklich.

Aline gab keine Antwort.

Von neuem trug eine Luftwelle den Flieder- und Resedenduft zu ihnen herauf.

Dots kindliche, sprunghafte Denkweise führte sie zu einem längst halb vergessenen Gespräch zurück, und sie sagte träumerisch: »Jo sagt, Leute heiraten sich, weil sie immer beisammen sein wollen. Da werde ich wohl nie heiraten, denn ich werde nie bei jemand sein wollen als bei Jo. Niemand ist wie Jo – niemand in der ganzen Welt nicht.« Das Wort fand Wiederhall in Alines krankem Herzen. Sie küßte die unschuldigen Augen, die gespannt in die ihrigen blickten.

»Das ist ja das Geheimnis, mein Kind!« flüsterte Aline mühsam atmend. »Auch ich – ich möchte auch bei niemand sein als bei ihm. Auch für mich ist niemand, niemand auf der ganzen Welt so wie er – und darum, Herzchen, bin ich so grenzenlos unglücklich.«

»Und wenn Jo dich wieder heiraten wollte, dann wärst du nicht mehr unglücklich?«

»Ach, Kind, das will er nicht, wird er nie mehr wollen!«

Dot blickte überlegend zu den Sternen empor; ihr war's, als ob sie zuhörten.

»Vielleicht,« sagte sie, »vielleicht, wenn du und ich den lieben Gott recht oft drum bitten würden, würde er's machen, daß Jo will.«

Nachdenklich fügte sie hinzu: »Glaube nicht, daß Jo oft betet, drum kennt ihn der liebe Gott vielleicht nicht so gut, und er den lieben Gott nicht. Männer, siehst du, ist ganz anders als kleine Mädchen und auch als große Mädchen wie du – die müssen nicht immer ihr Gebet sagen, warum weil, glaub' ich, sie können alles selbst thun und kriegen.«

Sie stolperte über ihre eigenen Worte, denn sie wollte hastig auch den leisesten Verdacht der Gottlosigkeit von ihrem geliebten Jo abwälzen.

Mit fest zusammengepreßten Lippen und trostlosen Augen starrte Aline auf die unendliche See hinaus.

»Du erinnerst dich doch, daß ich dir meine Photographie gab – für ihn?«

Das Kind nickte.

»Er hat sie mir zurückgeschickt,« sagte Aline.

Dann setzte sie unvermittelt hinzu: »Es ist übrigens hohe Zeit, daß du ins Bett kommst, mein Liebling.«


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