Curtis Yorke
Um des Kindes willen
Curtis Yorke

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Siebzehntes Kapitel.

Am Tag darauf war Dot schweigsam und in sich gekehrt. Jocelyn durfte sie weder küssen, noch wie sonst auf sein Knie nehmen. Schließlich überließ er, im Innersten gekränkt, das Kind sich selbst. Er fühlte sich namenlos gedemütigt in dem Gedanken, daß dies unschuldige Gemüt eine unbeschreiblich bittere Enttäuschung an ihm erfahren hatte.

Die Nacht über war er zu der Ueberzeugung gelangt, daß aller Wahrscheinlichkeit nach Aline Tressillian seinen Freund Forsyth liebe. Es konnte sogar wohl sein, daß sie längst im stillen verlobt waren, in welchem Fall er sich unsterblich lächerlich gemacht haben würde. Er hatte daher fest beschlossen, noch am selben Nachmittag Fräulein Tressillian zu besuchen und sich Gewißheit zu verschaffen.

Er ging zeitig nach dem Ladbrokeplatz und fand sie zu Hause. Noch nie war sie ihm so lieblich erschienen, als an diesem Tag, und als sie ihm die Hand zur Begrüßung reichte, sah er das zarte Rosenrot ihrer Wangen einer tödlichen Blässe weichen.

Anfangs sprach er gar nicht – er hatte Grund, an der Zuverlässigkeit seiner Stimme zu zweifeln.

»Ich – war im Begriff auszugehen,« bemerkte sie, indem sie sich mit Umsicht einen Stuhl aussuchte, der mit dem Rücken gegen das Licht stand.

Er erwiderte – was, das wußte er selbst nachher nicht, und schließlich trug er ihr stockend und stammelnd die Geschichte seiner Liebe vor, sagte ihr, daß sie sein Herz, sein ganzes Dasein in Besitz genommen habe, daß seine Zukunft wert- und zwecklos sei, wenn sie keinen Teil davon bilden wolle, sagte ihr tausenderlei Dinge, wie sie Milliarden von Liebenden schon Milliarden von Mädchen gesagt haben, seit die Welt steht. Es war ihm furchtbarer Ernst, weshalb seine Sprache weder zierlich noch fließend sein mochte, denn echte Leidenschaft ist keine Redekünstlerin.

Aline Tressillian hatte noch keine so stürmische Liebeserklärung zu hören bekommen, obwohl sie ja, wie früher schon gesagt wurde, nicht ohne Erfahrungen war, und sie fand auf all diese halb erstickten, halb gestammelten Liebesworte nichts zu erwidern, als daß sie sich in seine Arme schließen und ihre weichen Lippen von seinem heißen Mund berühren ließ. Dann aber riß sie sich von ihm los und brach in Thränen aus.

»Liebste!« flüsterte er zärtlich, »Habe ich dich erschreckt? Sprich zu mir!«

»Ich kann – ich kann – Sie nicht heiraten!« stieß sie unter heftigem Schluchzen heraus.

»Du kannst nicht? Was willst du damit sagen? Ich verstehe dich nicht –« er umfaßte sie wieder und zog sie an sich. »Aline, du liebst mich ja? Du thust's! Du mußt!«

»Ich – ich kann Sie nicht heiraten,« wiederholte sie.

»Und warum nicht?« fragte er in herbem Ton.

»Ich – ich bin verlobt.«

Langes Schweigen.

»Verlobt?« fragte Jocelyn endlich mit bebender Stimme. »Verlobt – mit wem?«

Er wußte ja so genau oder glaubte wenigstens so genau zu wissen, welchen Namen sie nennen würde.

Es war ein Irrtum! Der Mann, den sie ihm jetzt nannte, war ihm völlig unbekannt. Verblüfft, förmlich betäubt stand er vor ihr.

»Großer Gott! Also – haben Sie uns beide zu Narren gehabt?«

»Beide?« wiederholte sie fragend, indem sie mit nassen Augen zu ihm aufsah.

»Ich erwartete Forsyths Namen zu hören,« versetzte er hart.

Sie trocknete ihre Thränen.

»Forsyth?« wiederholte sie. »Ich schätze ihn sehr – an Liebe dachte ich nie.«

»Ob Sie überhaupt an Liebe denken?« warf er mit einem grimmigen Auflachen hin. »Drauf schwören möchte ich nicht! Und vergönnen Sie es allen, Sie in den Armen zu halten, wie ich es that – Sie zu küssen, wie ich es that? Erwidern Sie auch die Küsse –«

Er wandte unwillkürlich das Gesicht ab; sie sollte nicht sehen, was für böse Geister in ihm tobten.

»Das ist nicht wahr!« rief sie wie ein im Gefühl seiner Unschuld gekränktes Kind. »Kein Mann hat mich je geküßt außer Ihnen – nur Sie –«

»Glauben Sie, mir das weismachen zu können?« fragte er verächtlich. »Gesagt haben Sie's ohne Zweifel – zu jedem, aber daß ich Ihnen glauben sollte, ein Mann, der Ihr Versprechen hat, sein Weib zu werden, ein Mensch von Fleisch und Blut könnte darauf verzichtet haben, Sie zu küssen, ist eine starke Zumutung!«

»Er hat mich nie – nie auf die Lippen geküßt,« murmelte sie leise.

Ein wahnwitziges Verlangen, sie abermals zu küssen und wieder und wieder zu küssen, durchraste Jocelyns Adern, sie in seinen Armen zu erdrücken, zu vernichten. – Von wem war doch der Vers, der in seinem wirren Kopf plötzlich auftauchte?

»Dich wiegen, bis du stille,
Dich küssen, bis du tot –«

Mit hastigen, ungewissen Schritten näherte er sich ihr, und was las er in ihren Augen? Sie schreckte nicht vor ihm zurück; sie atmete rasch und heftig.

Er ließ die Arme herabhängen, als ob er von Holz geschnitzt wäre.

»Lieben Sie mich, Aline?« fragte er mit dumpfer Stimme. »Antworten Sie mir – rasch – nur ein einziges Wort – ja oder nein?«

Sie warf den Kopf unruhig hin und her, dann fiel ihr Blick auf den Diamantring an ihrer Hand. Der große Stein blitzte und funkelte in dem hellen Junisonnenschein zwischen den wertloseren Juwelen hervor.

»Nein,« sagte sie tonlos.

Er drehte sich um und verließ stumm das Zimmer.

An der Hausthüre begegnete ihm Forsyth, der mit unternehmender Miene, sorgfältig gekleidet, mit einer weißen Blüte im Knopfloch hereintrat. Sie gingen ohne Gruß und Wort aneinander vorüber, und Jocelyn empfand eine rohe, grausame Freude beim Gedanken an die Abfertigung, die den einstigen Freund erwarten würde. Forsyth dagegen schloß mit Befriedigung aus seinem Gesichtsausdruck, daß der Maler eine böse Viertelstunde hinter sich habe, und stieg, innerlich frohlockend, die Treppe hinauf.

Anfangs glaubte er, das von Sonnenschein erfüllte große Empfangszimmer sei leer, bis er nach einiger Zeit in einem großen Lehnstuhl in der dunkelsten Ecke ein Wölkchen von fliederfarbigem Sommerstoff entdeckte, das ungemein trostlos und verlassen wirkte.

Jetzt unterschied sein Ohr auch leises Schluchzen.

»Fräulein Tressillian – Aline« – flüsterte er, im nächsten Augenblick an ihrer Seite knieend und ihre Hand streichelnd.

Sie schnellte in die Höhe.

»Was ist?« rief sie zornig. »Was wollen Sie?«

Der Ton ließ keine Mißdeutung zu. Auch der eitelste Mann der Welt, der Forsyth übrigens keineswegs war, hätte sich nicht einreden können, daß diese Stimme und diese funkelnden Augen zarte Gefühle für ihn verraten hätten.

»Ich bitte um Verzeihung,« sagte er mit einiger Steifheit. »Ist es Ihnen lieber, wenn ich gehe?«

»Nein, bleiben Sie,« lautete ihr etwas überraschender Bescheid. »Im Grunde ist mir's recht, daß nur Sie es waren –«

Er zuckte merklich zusammen. Wie gleichgültig er ihr als Mann war, kam ihm zum erstenmal zum Bewußtsein. Dumm war er ja nicht, er verstand sie also vollkommen, und es war ihm, als ob er eine eiskalte Brause bekommen hätte.

»Kann ich irgend etwas für Sie thun?« fragte er in einem schleppenden, mutlosen Ton. Er ahnte nicht, wie trostlos seine Stimme klang, es kam ihm nicht in den Sinn, sich selbst zu beobachten.

Ihr Ausdruck wurde milder; sie streckte ihm die Hand hin.

»Mir ist sehr elend zu Mut,« sagte sie traurig.

»Mir auch,« versetzte er mit einem wunderlich krampfhaften Zucken der Lippen, das für ein Lächeln gelten sollte. »Ich – ich bin nämlich – verlobt,« erklärte sie ihm.

Das letzte Wort erstickte fast in einem nicht zu verhehlenden Schluchzen.

Ein bitteres Wort drängte sich auf seine Lippen, aber er beherrschte sich und sagte nichts als: »In der That.«

Pause.

»Und Sie fragen nicht, mit wem?« sagte sie gereizt.

»Der Name geht mich gar nichts an. Sie sind verlobt – nicht mit mir, wie ich Thor genug war zu hoffen – das Weitere berührt mich nicht.«

»Sie sollten keine schlechten Witze machen, wenn Sie sehen, wie unglücklich ich bin!«

»Ich kann Sie versichern, daß mir der Versuch, witzig zu sein, für den Augenblick ganz fern liegt. Mir ist's bittrer Ernst – ich kam heute mit der Absicht, um Ihre Hand zu bitten.«

»Das glaube ich nicht!«

»Ob Sie's glauben oder nicht, ist mir jetzt völlig gleichgültig.«

Sie blickte ihm mit einer gewissen Neugierde ins Gesicht.

»Ich möchte wohl eine Liebeserklärung von Ihnen hören,« bemerkte sie, »eine ernsthafte, leidenschaftliche, meine ich. Sie hätten Talent dazu, sollte ich denken.«

»Darin gebe ich Ihnen recht,« sagte er mit Ruhe.

Ihm war übel zu Mute, aber er, der dieses »Talent« allerdings schon etliche hundertmal auch in wunderlichen Fällen erprobt hatte, wollte sich jetzt nicht weiter bloßstellen, als es schon geschehen war. Er saß also ruhig da, zwirbelte das Schnürchen seines Kneifers, hielt den hübschen Kopf ein wenig hoch und sah sein Gegenüber mit einem halben Lächeln an, das seine aufreizende Wirkung nicht verfehlte.

»Die Enttäuschung scheint Ihnen wenigstens nicht ans Leben zu gehen,« warf sie spöttisch hin.

»Nein,« lautete die gelassene Erwiderung. »Ich bin selbst überrascht, daß der Schmerz nicht heftiger ist, und suche über meine Gefühle ins klare zu kommen. Wahrscheinlich habe ich mich in mir selbst getäuscht – es war wohl nur ein vorübergehender Einfall – sonderbar, nicht wahr?«

Er sah sie mit einer überlegenen Unverfrorenheit an, die seine Stärke war. Aline juckte es in den Fingerspitzen, ihm einen Klaps zu versetzen.

»Ich hätte ja allen Grund, mich außerordentlich glücklich zu fühlen,« sagte sie kalt. »Dies ist die Photographie meines künftigen Gatten.«

Sie reichte ihm einen wundervoll in Silber getriebenen Rahmen, aus dem ein feistes Gesicht mit altmodisch zugeschnittenem Backenbart den Beschauer selbstgefällig anlächelte.

Forsyth betrachtete sich den Mann und stellte das Rähmchen schweigend beiseite.

»Er ist sehr gescheit,« bemerkte Aline mit einem beleidigten Blick.

»Wirklich?« sagte Forsyth mit einer Betonung, die außerordentlich mit den in die Höhe gezogenen Augbrauen übereinstimmte.

»Und sehr wohlhabend,« fuhr sie in ihrer Lobrede fort. »Er hat ein Gut in Bukinghamshire und ein andres in Devon.«

»Das freut mich,« bemerkte er nachdenklich, »freut mich wirklich sehr! Reichtum ist immerhin etwas.« »Sie sind äußerst unhöflich und widerwärtig,« sagte Aline ärgerlich.

Er war offenbar außer stande, das Lächeln, das sein Gesicht überflog, zu unterdrücken.

»Das thut mir furchtbar leid,« entschuldigte er sich dann in seinem herzgewinnendsten Ton, indem er ihr die Hand reichte. »Bitte, verzeihen Sie mir! Und – sagen Sie mir eines – wenn Sie so außerordentlich glücklich sind in Ihrem Verhältnis zu diesem ehrenwerten Herrn, weshalb traf ich Sie dann vorhin in so – nicht eben heiterer Stimmung?«

Sie schwieg, und er setzte eilig hinzu: »Hatte Jocelyn Sie etwa – hm – geärgert?«

Ihr Lachen war geradezu berückend.

»Herr Jocelyn? Ganz gewiß nicht! Ich – ich mag ihn nur nicht leiden.«

»Und darüber weinten Sie sogar?« sagte er in sanftem Ton, aber mit einem boshaften Blick, den sie zum Glück nicht wahrnahm.

»Fragen Sie doch nicht so abgeschmackt! Ich weinte, weil – weil ich Kopfschmerzen hatte.«

»Ach so! Ja, ja, das Wetter! Sehr begreiflich bei dieser Hitze!« sagte er aufstehend, »Es wird mir jetzt erst klar – ich leide auch an derartigen Kopfschmerzen heute. Ich empfehle mich, gnädiges Fräulein – empfangen Sie meinen herzlichsten Glückwunsch zu ihrer Verlobung. Es thut mir wirklich wohl, Sie so glücklich zu wissen.«

»Das ging mitten durchs Herz,« knirschte er zwischen den Zähnen, während er die Treppe mehr hinunter lief als ging. »Verfluchte kleine Kokette! Ich glaube, ich hab' mich tapfer gehalten.«

Als er im hellen Sonnenschein auf der Straße stand, zeigte sich's indes, daß sein Gesicht ganz in die Länge gezogen und gealtert aussah, denn das Gefühl für die »verfluchte kleine Kokette« war wohl die echteste Leidenschaft gewesen, die dieses bewegliche Herz je empfunden hatte.

Er war sich auch klar darüber und sah trübselige Tage und Nächte vor sich liegen.


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