Curtis Yorke
Um des Kindes willen
Curtis Yorke

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Fünftes Kapitel.

»Um's kurz zu sagen,« erklärte Jocelyn ein paar Tage später, »wenn niemand Anspruch auf sie erhebt, so hätte ich nicht übel Lust, das arme kleine Ding zu mir zu nehmen.«

»Donnerwetter!« entfuhr es seinem Freund Forsyth. »Du willst sie adoptieren?«

»Adoptieren oder annektieren, tauf's, wie du magst,« versetzte der Maler barsch.

»Ob das gerade sehr weise wäre, weiß ich denn doch nicht,« äußerte Pennington, der eben dazu gekommen war und nun seiner Gewohnheit nach mit großen Schritten im Zimmer auf und ab ging.

»Ach so,« sagte Jocelyn, der geistesabwesend auf seiner Palette die unmöglichsten blauroten Töne für die Haare seiner weiblichen Hauptgestalt mischte. »Du meinst wohl, ich sei nicht gerade dazu angethan, der unschuldigen Jugend die rechten Wege zu weisen? Nun, das mag ja so sein, aber das kleine Ding scheint nun einmal an mir zu hängen und – hol's der Kuckuck! – ich muß da irgend eine schwache Stelle im Herzen haben, denn ich hänge absonderlich an ihr. Das genügt, Millie,« setzte er, zu einer jungen Person gewendet, hinzu, die ihm als Bacchantin gut, aber teilnahmlos Modell stand. »Ich bin heute nicht zum Arbeiten aufgelegt.«

Millie streckte und reckte sich ausgiebig und stieg dann mit verdrossener Miene von ihrem Modellgerüste herab.

Es war ein auffallend hübsches blondes Mädchen mit schönen blauen Augen, roten Lippen und einer üppigen Gestalt. Sie schwärmte insgeheim für Jocelyn und mußte dabei mit Schmerzen erkennen, daß sie ihm nur als Werkzeug in den Sinn kam. Anfangs hatte sie den Versuch gemacht, neckisch zu sein, neuerdings benahm sie sich merkwürdig demütig und leise, und hätte er sich die Mühe gegeben, sie zu beobachten, er würde rührende Anstrengungen gewahrt haben, sich auf eine höhere sittliche Stufe zu schwingen.

»Das Mädel ist fürchterlich verschossen in dich, Jocelyn,« bemerkte Forsyth, nachdem Millie gegangen war und er ein paar Minuten lang mit den Händen in den Hosentaschen und der unvermeidlichen Cigarette zwischen den Zähnen die Farbentümpel auf der Palette angestarrt hatte.

»Was redest du da? Welches Mädchen? Die Millie? Pah! Unsinn! Du schreibst so viel sentimentales Gewäsch zu zwei Groschen das Wort, daß dir die Verliebtheit im Kopf spukt, mein Bester!«

»Woran starb denn Dots Vater eigentlich?« fragte Pennington plötzlich.

»Herzleiden oder Trunksucht oder beides,« gab Jocelyn zur Antwort. »Der Doktor sagte, glaube ich, Herzfehler – gönnen wir dem armen Teufel die anständigere Todesart.«

»Wo ist denn das Kind jetzt?«

»Unten, so viel ich weiß. Meine Wirtin nimmt sich ihrer an. Das arme Seelchen! Gestern wurde Fraser beerdigt, und es gelang uns nur mit Müh' und Not, sie für die Nacht aus dem Zimmer zu entfernen.«

Jocelyn mußte sich mehrmals räuspern, während er sprach. Er wußte selbst nicht, wie »schwach« sein Herz war und wie sehr sich die kleine Dot an der allerschwächsten Stelle schon eingenistet hatte. Es war ja schon ein paar Wochen her, daß er sie mit dem »Nymphengel« beglückt hatte und daß seine Werkstatt durch ihre häufige Gegenwart recht belebt worden war. Mitunter kam sie zur Dämmerstunde ganz leise hereingeschlichen, um nach ihm zu sehen. War er ausgegangen, so ging sie ebenso leise wieder hinaus, war er aber zu Hause, so beteiligte sie sich an seinem Thee – Jocelyn war ein großer Theetrinker – und brachte ihn öfters herzlich zum Lachen durch ihre Urteile über Welt und Dinge. Das Bild des zerlumpten kleinen Mädchens mit der ertrunkenen Puppe war längst fertig, und als Porträt sehr gelungen, aber Dot fand es garstig und kehrte es, so oft es ihr vor Augen kam, gegen die Wand. Dem Kunsthändler hatte er's gar nicht angeboten.

Im kalten Frühlingszwielicht dieses Abends saß Jocelyn eine Weile still in Gedanken. So oft er's zu verscheuchen suchte, das Bild der kalten Dachkammer, wo das kleine Gestältchen mit rotgeweinten Augen, die keine Kinderaugen mehr waren, einen Toten erwecken wollte, stieg immer wieder vor ihm auf. Was sollte denn aus diesem Häuflein Elend werden, wenn niemand kam, seine Rechte daran geltend zu machen? Im Nachlaß des Toten hatten sich keinerlei Schriftstücke vorgefunden; seine Habseligkeiten hatten kaum für die Begräbniskosten ausgereicht. Frau Lamb war sehr verstimmt darüber, denn wie sie früher schon geäußert hatte, »wenn er ihr wenig schuldig geblieben war, war's viel«, eine Heimat würde die kleine Dot bei ihr jedenfalls nicht finden.

Jocelyn rückte unruhig hin und her. Ins Waisenhaus? Nein, dorthin durfte sie keinenfalls. Der Gedanke an diese Möglichkeit bestärkte ihn nur in seinem Entschluß. Ja, wenn niemand Anspruch auf sie machte, wollte er selbst sie nehmen, und jedenfalls sollte sie einstweilen bei ihm bleiben.

Er warf seine Cigarette weg, legte im Kamin nach und holte sein Theegeschirr herbei, dann verließ er das Zimmer, um sich in die unteren Regionen zu begeben.

Durch die halb offen stehende Küchenthür sah er Frau Lamb, über eine Bratpfanne gebeugt, am Herd stehen.

»Ist das Kind bei Ihnen?« fragte er freundlich.

»Nein, Herr Jocelyn, welches nicht der Fall ist, ich hätte im Gegenteil gedacht, sie wäre bei Ihnen. Sollte mich nicht wundern, wenn sie droben wäre, in was ihres armen Vaters Stube war. Dort hockt sie ja und wird sich noch den Tod holen, bei was wir für eine Kälte haben, aber ich mag sagen, was ich will.«

Jocelyn drehte zerstreut an seinem Schnurrbart.

»Was ich nämlich sagen wollte, Frau Lamb,« begann er plötzlich, »angenommen, daß niemand nach dem Kind fragt – Sie sagen ja, der Vater scheine weder Freunde noch Verwandte gehabt zu haben? – was gedenken Sie denn mit ihr anzufangen?«

»Ja, Herr Jocelyn, darauf kann ich Ihnen nur ein Wort sagen, und das Wort heißt – Waisenhaus. Denn bei allem, was ich dem armen Wurm Gutes wünsche, bin ich ja doch nur eine arme Witfrau, die selber zusehen muß, wie sie sich durchbringt, und ein Mund weiter zum Füttern, ist halt ein Mund, wie man's auch ansehen mag und wie ich schon in früheren Zeiten immer zu meinem Seligen sagte, als ein andrer immerzu bei uns aus und ein ging – obwohl sie nun alle miteinander tot und begraben sind mit ihren seligen Eltern, Gottes Wille geschehe uns,« versetzte Frau Lamb, die sich mit Kleinigkeiten wie Logik und Sprachlehre nicht aufhielt.

Jocelyn bückte sich, um die Katze zu streicheln, die sich liebebedürftig an seinen Beinen rieb.

»Nun denn, Frau Lamb,« hob er mit einiger Befangenheit an, »im Grunde habe ich die Absicht, für das Kind zu sorgen. Ich – hm – ich habe sie gern, und der Gedanke, sie ins Waisenhaus zu schicken, ist mir unleidlich.«

Frau Lamb streckte in einer Mischung von Erstaunen und Bewunderung beide Arme gen Himmel.

»Ja, das muß ich sagen, Herr Jocelyn, Sie konnten manch einen Christenmenschen beschämen, das ist, wie ich's sage, und kein Irrtum nicht. Und ich weiß bestimmt und hoffe, daß es Ihnen auch gelohnt wird in der andern Welt, woran gar kein Zweifel nicht ist, denn er sagt's uns ja sonnenklar, daß derjenige, welcher ...«

Jocelyn war so rücksichtslos diesem Lobgesang Einhalt zu gebieten, indem er Frau Lambs Rat über Einzelheiten der Ausführung seines Plans verlangte.

»Ja, da wäre ja die kleine Schrankstube zwischen Ihrem Badezimmer und der Treppe,« sagte Frau Lamb überlegend. »Steht nichts darin als alte Bilderrahmen, G'staffeleien und solches Zeug, obwohl ich sagen muß, 's ist ein nettes Stübchen mit einem Fenster, wenn's rein gemacht ist.«

»Da wäre ja allen geholfen,« erklärte Jocelyn erleichtert. »Sie haben wohl die Güte, das Stübchen in Ordnung zu bringen, Frau Lamb, und ich werde ein paar Möbelstücke zur Einrichtung besorgen und herschicken lassen. Glauben Sie wirklich, daß die Kleine oben ist?«

»Das ist mehr gefragt, als ich weiß, Herr Jocelyn. Soll ich nachsehen?«

»Nein, nein, ich gehe selbst hinauf.«

In gemäßigtem Tempo erstieg er des »Daches Zinnen«. Die Kammerthüre, die er suchte, war zugeklinkt, er öffnete sie geräuschlos und unterschied im Dämmerlicht den Umriß eines schattenhaften Gestältchens, das am Fenster saß. Arme kleine Seele! Es war die Stunde, um die sie sonst auf den Pa gewartet hatte, der vom »Geschäft« heimkehren sollte. Als die Thüre leise kreischend geschlossen wurde, fuhr sie herum und flog mit einem leidenschaftlichen Aufschrei zweifelnder Freude in Jocelyns Arme. Mit totenblassem Gesicht bebte sie aber wieder zurück, er jedoch hielt sie fest und setzte sich, das Kind auf seinen Knieen haltend, auf einen Stuhl.

»Ach! Dachte es wäre Pa!« stammelte sie.

Dann schmiegte sie das Köpfchen in seinen Arm und brach in heiße, nicht enden wollende Thränen aus.

Jocelyn sagte nichts, um sie zu trösten, hauptsächlich deshalb, weil er im Augenblick nicht sprechen konnte. Als er dann seine Wange auf die reichen Lockenhaare legte, war er nicht ganz sicher, ob seine Augen trockener seien als die des Kindes.

»Dot,« sagte er leise, als die Heftigkeit des Schluchzens bei ihr nachließ, »möchtest du nicht zu mir kommen und mein kleines Mädchen sein?«

Sie schüttelte ablehnend das Köpfchen.

»Nein,« stieß sie erschöpft heraus. »Mich bleibe hier. Pa kommt vielleicht wieder – mich warte.«

»Mein Herzenskind,« flüsterte Jocelyn in einem Ton, dessen weiche Innigkeit ihm keiner von seinen Kameraden zugetraut hätte. »Pa kommt nicht wieder. Pa ist weit fort von dir gegangen – für immer. Er ist – hm – er ist gestorben, Dot.«

»Nein, nein, nicht 'storben,« kreischte das Kind nervös.

Jocelyn drückte sie noch fester an sich und suchte ihr den geheimnisvollen Uebergang vom Leben zum Tod klar zu machen. Aber sie wollte nichts hören und ihn nicht verstehen, bis er schließlich sagte: »Du weißt es ja, Dot, wie einsam ich bin. Ich wäre ja so froh, ein liebes kleines Mädchen zu haben wie dich – das für mich sorgte, weißt du – mir Thee machte und derlei Dinge für mich thäte.«

Dots Thränen versiegten plötzlich; der mütterliche Trieb war erweckt.

»Mich will dein kleines Mädchen sein,« entschied sie sich mit matter Stimme, »aber nur bis Pa wieder kommt. Und jetzt,« setzte sie hinzu, »will mich dir Kuß geben.«

Diesen Kuß redlich zu verdienen, war Jocelyns Vorsatz.


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